Vgl. OLG Frankfurt/LG Hanau zfs 2004, 205 ff.:
Der in § 7 Abs. 4 StVO geregelten Verkehrssituation des sog. Reißverschlussverfahrens liegt die Konstellation zugrunde, dass auf einer Straße mit mehreren Fahrbahnen eine Fahrbahn nicht mehr befahrbar ist und damit das Problem entsteht, wer auf der endenden und vor allem auf der durchgehenden Fahrbahn den Vortritt erhält.
Kein Vortrittsproblem entsteht, wenn sich die Fahrzeuge auf beiden Fahrspuren in ausreichendem Abstand der Verengungsstelle nähern, sodass ein Wechsel des auf der endenden Fahrspur Fahrenden ohne jede Behinderung der auf der durchgehenden Fahrspur Fahrenden möglich ist (vgl. KG VM 87, 70).
Problematisch wird die Situation, wenn auf der durchgehenden Spur dichter Verkehr herrscht und die Fahrer auf dieser Fahrspur auf der endenden Fahrspur befindliche Fahrzeuge nicht überwechseln lassen oder ohne Selbstgefährdung wegen rückwärtigen Verkehrs nicht überwechseln lassen können.
Dass ein Idealfahrer in Praktizierung gegenseitiger Rücksichtnahme gem. §§ 1, 11 Abs. 3 StVO den Wechsel der Fahrspur ermöglicht, kann kaum als zu erwartender Regelfall angesehen werden. Das ist der Grund für die Einführung des Reißverschlussverfahrens in § 7 Abs. 4 StVO gewesen. Unter Abwägung der Interessen beider an der Engstelle befindlichen Fahrer auf dem endenden und dem nicht endenden Teil der Fahrbahn und unter Berücksichtigung der konkreten Verkehrssituation, soll dem auf der endenden Fahrspur fahrenden Verkehrsteilnehmer grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt werden, zu wechseln. Ab dem Wegfall einer Fahrspur, dem Beginn des Reißverschlusses (vgl. LG München I DAR 2002, 458; Seidenstecher DAR 1993, 83–86), greifen die in § 7 Abs. 4 StVO statuierten Regeln ein. Befinden sich beide Fahrzeuge auf gleicher Höhe oder hat der auf der durchgehenden Spur befindliche Verkehrsteilnehmer einen Vorsprung gegenüber dem auf der endenden Spur befindlichen Verkehrsteilnehmer, kommt ihm aufgrund seiner "Priorität" (Fuchs-Wissemann a.a.O.) der "Vortritt" zu (vgl. KG VRS 68, 339; König in Hentschel/König/Dauer "Straßenverkehrsrecht", 45. Aufl., § 7 StVO Rn 20). Bei einer solchen Konstellation dem Fahrer auf der durchgehenden Spur abzuverlangen, etwa zu bremsen, um dem hinter seinem Fahrzeug befindlichen Verkehrsteilnehmer das überwechseln zu ermöglichen, würde auch die Wertung des § 7 StVO mit dem zugewiesenen Vorrecht des auf seiner Fahrspur bleibenden Verkehrsteilnehmers verletzen und darüber hinaus zu einem gestörten Verkehrsfluss führen.
Das Risiko des Unfall vermeidenden Wechsels von der endenden Fahrspur auf die "freie" Fahrspur liegt überwiegend bei dem Wechselwilligen. Da für ihn ein Fahrspurwechsel vorliegt, muss er sich nach § 7 Abs. 5 StVO so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer, damit der Fahrer auf der "bevorrechtigten" Fahrspur, ausgeschlossen ist. Weder darf er den Vortritt erzwingen (vgl. KG VRS 68, 339) noch darf er darauf vertrauen, dass ein großzügiger Verkehrsteilnehmer auf der frei bleibenden Fahrspur ihm den Vortritt überlässt (vgl. LG Hanau zfs 2004, 205; Hentschel a.a.O. § 7 StVO Rn 20). Vielmehr muss er den in § 7 Abs. 5 umschriebenen Sorgfaltspflichten genügen. Er muss den beabsichtigten Spurwechsel rechtzeitig durch Setzen des Blinkers anzeigen, Rückschau halten und allmählich auf die freie Fahrspur wechseln (vgl. KG VM 96, 21; OLG Frankfurt zfs 2004, 207). Fehleinschätzungen einer Gefahrlosigkeit des Überwechselns gehen zu seinen Lasten, da gegen ihn als Spurwechsler der Anscheinsbeweis für eine verschuldete Kollision spricht (vgl. OLG München r+s 2017, 657).
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 5/2020, S. 255 - 258