Einführung
Vom 17. bis 19.8.2022 fand der 60. Deutsche Verkehrsgerichtstag in Goslar statt. Auch in diesem Jahr gab es wieder Empfehlungen zu einzelnen Themenbereichen, die im Folgenden auszugweise wiedergegeben werden:
Angemessene Rechtsfolgen im Ordnungswidrigkeitenrecht
Eine verkehrspsychologische Maßnahme und andere (vergleichbare) Interventionen zur Verhaltensänderung als Alternative zu dem bestehenden Instrumentarium (Geldbuße und Fahrverbot) sollen gestärkt werden. Der Gesetzgeber wird aufgefordert, einen Regelungskatalog für ein Absehen vom Fahrverbot zu erstellen. Neben Maßnahmen zur Verhaltensänderung sind dabei insbesondere berufliche, familiäre und finanzielle Aspekte zu würdigen. Dies führt zu einer bundeseinheitlichen Gleichbehandlung. Gleichzeitig wird durch die höhere Akzeptanz eine Entlastung der Justiz erreicht. In geeigneten Fällen soll ein Fahrverbot auch auf Bewährung ermöglicht werden. Der Arbeitskreis hält es für erforderlich, die vorhandenen Widersprüche im Bußgeldkatalog durch eine inhaltliche Überprüfung zu beseitigen und die Rechtsfolgen mehr an den Bedürfnissen der Verkehrssicherheit auszurichten. Bisher regelkonformes Verhalten soll bei einem erstmaligen Verkehrsverstoß im Rahmen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt werden.
Cannabis im Straßenverkehr – Strafrecht und Ordnungswidrigkeiten
Der Konsum von Alkohol oder Cannabis und die Teilnahme am Straßenverkehr sind im Sinne der Verkehrssicherheit grundsätzlich voneinander zu trennen. Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft können für Cannabis weder im Strafrecht noch im Ordnungswidrigkeitenrecht mit Alkohol vergleichbare Grenzwerte festgelegt werden. Der aktuell angewandte Grenzwert von 1,0 ng THC pro ml Blutserum liegt so niedrig, dass er den Nachweis des Cannabiskonsums ermöglicht, aber nicht zwingend einen Rückschluss auf eine verkehrssicherheitsrelevante Wirkung zulässt. Dies führt in der Praxis dazu, dass in einem nicht vertretbaren Umfang Betroffene sanktioniert werden, bei denen sich eine "Wirkung" im Sinne einer möglichen Verminderung der Fahrsicherheit aus wissenschaftlicher Sicht nicht tragfähig begründen lässt. Es wird empfohlen, den derzeit angewandten Grenzwert für die THC-Konzentration von 1,0 ng THC pro ml Blutserum angemessen heraufzusetzen.
Mehr Radverkehr mit mehr Verkehrssicherheit – wie schaffen wir das?
Eine Verbesserung der Sicherheit des Radverkehrs bedingt zwingend eine neue Aufteilung des Verkehrsraumes, unter anderem zugunsten des Fahrrads, und die Schaffung durchgängig sicher befahrbarer Radnetze. Der Arbeitskreis erwartet, dass die vorhandenen Regelwerke zur Planung und zum Bau von Radverkehrsanlagen als Mindeststandard verbindlich umgesetzt werden. Die Bundesländer werden aufgefordert, eine wirksame Qualitätskontrolle auch hinsichtlich der fehlerverzeihenden und intuitiv nutzbaren Infrastruktur zu entwickeln und zu implementieren. Dies gilt sowohl für den Neubau als auch den Bestand. Um mehr Spielraum für die Kommunen zu schaffen, wird dem Gesetzgeber empfohlen, die Ziele des StVG und den § 45 Abs. 9 StVO so zu verändern, dass präventive sowie proaktive Maßnahmen und Gestaltungen leichter möglich werden. Zur Unterbindung sicherheitsgefährdenden Verhaltens sowohl im ruhenden als auch im fließenden Verkehr müssen die personellen Kapazitäten von Ordnungsbehörden und Polizei aufgestockt und die entsprechenden Aktivitäten intensiviert und koordiniert werden.
E-Scooter, Krankenfahrstühle, langsame Landmaschinen – ist unser Haftungsrecht noch zeitgemäß?
Der Gesetzgeber sollte § 8 Nr. 1 StVG grundlegend reformieren. Der generelle gesetzliche Ausschluss der Gefährdungshaftung für langsam fahrende Kraftfahrzeuge ist angesichts der geänderten Verhältnisse im Straßenverkehr nicht mehr zeitgemäß. Das Gefährdungspotenzial land- und forstwirtschaftlicher Kraftfahrzeuge sowie von Baufahrzeugen und sonstigen selbstfahrenden Arbeitsmaschinen, die bauartbedingt maximal 20 km/h fahren können, hat sich im Laufe der Zeit aufgrund höherer Geschwindigkeiten der anderen Verkehrsteilnehmenden sowie geänderter technischer Ausmaße und Ausstattungen deutlich erhöht. Deshalb ist eine Ausnahme von der Gefährdungshaftung nicht mehr gerechtfertigt. Das Gefährdungspotenzial neuer Typen langsam fahrender Kraftfahrzeuge, die bauartbedingt zwischen 6 km/h und 20 km/h fahren können, wie etwa E-Scooter, erscheint insbesondere wegen der erwartbaren Zunahme der Nutzung und der Enge des Verkehrsraums so hoch, dass sie ebenfalls der Gefährdungshaftung unterfallen sollten. Motorisierte Krankenfahrstühle sollten aufgrund des geringen Gefährdungspotentials und unter sozialpolitischen Gesichtspunkten weiter von der Gefährdungshaftung ausgenommen bleiben.
zfs 10/2022, S. 542