VGB 88 § 16 Nr. 1; BGB § 280 Abs. 1 S. 2
1. Enthält ein Vertrag über eine Wohngebäudeversicherung auch eine Rohbauversicherung, so bestimmt sich bei einem den Rohbau betreffenden Versicherungsfall der für die Frage der Unterversicherung maßgebende Versicherungswert nach dem tatsächlichen Wert des Rohbaus unmittelbar vor dem Schadensfall.
2. Zum fehlenden Verschulden des Versicherten bei gutgläubiger Annahme eines Rücktrittsrechts.
OLG Karlsruhe, Urt. v. 18.2.2010 – 12 U 167/09
Aus den Gründen:
“… Das LG hat allerdings zu Unrecht den Anspruch der Klägerin wegen Unterversicherung gekürzt. Hierfür bieten weder der Versicherungsvertrag noch die zugehörigen Bedingungen eine tragfähige Grundlage. Zur Unterversicherung bestimmt § 16 Nr. 1 der VGB 88:
‘Ist die Versicherungssumme niedriger als der Versicherungswert unmittelbar vor Eintritt des Versicherungsfalls (Unterversicherung), so wird nur der Teil des nach § 15 Nr. 1 bis 3 ermittelten Betrages ersetzt, der sich zu dem ganzen Betrag verhält wie die Versicherungssumme zu dem Versicherungswert.’
Dieser Vorschrift kann nicht entnommen werden, dass unter Versicherungswert etwas anderes zu verstehen ist, als der tatsächliche Wert (hier: Neuwert) des (Teil-)Gebäudes unmittelbar vor dem Schadensfall.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind Allgemeine Geschäftsbedingungen des Versicherers i.S.d. § 305 Abs. 1 BGB. Dieser Charakter der Versicherungsbedingungen bestimmt die bei ihrer Auslegung anzuwendenden Maßstäbe; er hindert es, sie ‘gesetzesähnlich’ auszulegen. Vielmehr sind – nach der gefestigten Rspr. des BGH – AVB so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss (BGHZ 123, 83, 85 m.w.N.). Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an…
Der Versicherungsnehmer wird, wenn er sich über die Gefahr einer Unterversicherung und deren Folgen anhand der Versicherungsbedingungen unterrichten will, Aufklärung lediglich in § 16 Nr. 1 VGB 88 finden. Dort wird er erkennen, dass keine Unterscheidung zwischen der Versicherung eines fertigen Gebäudes und der eines Rohbaus vorgenommen wird. Er wird ferner erkennen, dass der Unterversicherungseinwand an zwei Werte anknüpft, nämlich an die Versicherungssumme und an den Versicherungswert. Dabei ist der erste Wert ersichtlich ein vereinbarter. Der zweite Wert ist dagegen aus seiner Sicht ein tatsächlicher, der auf einen bestimmten Zustand unmittelbar vor dem Versicherungsfall beruht. Anhaltspunkte dafür, dass dies bei der Rohbauversicherung anders sein soll, ergeben sich für ihn nicht. Der Umstand, dass er zu Beginn der Rohbauphase ‘überversichert’ ist, wird ihn, sollte er sich dies verdeutlichen, nicht belasten, da er für diesen Zeitraum ohnehin keine Prämie zahlt. Da ihm während dieser Zeit im Schadensfall auch nicht die Versicherungssumme als Entschädigung zusteht, sondern der ortsübliche Neubauwert seines unfertigen Gebäudes, wird er auch nicht annehmen, dass vorrangige Interessen des Versicherers ein abweichendes Verständnis gebieten. Dass er noch während der Rohbauphase in die Gefahr einer Unterversicherung geraten kann, wird sich für ihn nicht anders darstellen als die Gefahr einer Unterversicherung des fertig gestellten Gebäudes. Dass unter Versicherungswert in der Rohbauversicherung etwas anderes verstanden werden sollte, als in der Wohngebäudeversicherung, erschließt sich deshalb für ihn auch hieraus nicht.
Damit steht der Klägerin der oben dargestellte Gesamtbetrag in Höhe von 136.765,0 EUR ungekürzt zu. …
2. Mietausfall
Im Ergebnis zu Recht hat das LG diesen Anspruch der Klägerin abgesprochen. In der Tat kann ein solcher Anspruch nicht aus dem Versicherungsvertrag folgen, da die Parteien einen Ersatzanspruch für den Ausfall gewerblicher Miete, um den es vorliegend geht, nicht besonders vereinbart haben (vgl. § 3 Nr. 2 VGB 88). Somit bleibt nur ein Anspruch nach § 280 Abs. 1 BGB wegen Pflichtverletzung durch unberechtigten Rücktritt vom Versicherungsvertrag bzw. unberechtigte Anfechtung desselben durch die Beklagte. Analog der Rspr. des BGH zur unberechtigten und schuldhaften Kündigung eines Mietvertrages durch den Vermieter mit Schadensfolgen für den Mieter (vgl. BGH NJW 1988, 1268) könnte man zwar eine objektive Pflichtverletzung der Beklagten vorliegend darin sehen, dass diese vorgerichtlich ihre Leistungspflicht dem Grunde nach mit dem Argument eines wirksamen Rücktritts bzw. einer wirksamen Anfechtung abgelehnt hat, was sich später jedoch als Fehleinschätzung erwiesen hat. Ein solches ‘Recht auf Irrtum’ ändert an der Pflichtwidrigkeit nichts (vgl. BGH NJW 2009, 1262). Allerdings würde sich dieses Verhalten nicht als schuldhaft darstellen (§ 280 Abs. 1 S. 2 BGB). Fahrlässig handelt der vermeintliche Anspruchsinhaber nämlich nicht schon dann, wenn er nicht erkennt, dass sein Begehre...