" … Die Kl. hat keinen Anspruch auf Rentenzahlung und Beitragsfreistellung, weil sie nicht bewiesen hat, dass sie mindestens 12 Monate lang ununterbrochen nicht fähig war oder in Zukunft nicht fähig sein wird, drei Grundfähigkeiten nach § 2 der Versicherungsbedingungen durchzuführen. Dies ist nach § 1 der Versicherungsbedingungen Voraussetzung für die Leistungspflicht der Bekl."

(a) Gegen die Feststellung des Sachverständigen, dass die Kl. noch 10 Minuten stehen könne, ohne sich abzustützen, hat die Kl. nichts eingewandt. Ohnehin hat sie zu keinem Zeitpunkt behauptet, keine 10 Minuten mehr stehen zu können. Dass die Kl. auf dem rechten Bein alleine nicht 10 Minuten stehen könne, ist nicht entscheidend. Nach § 2 B) “Stehen‘ der Bedingungen kommt es nur darauf an, ob die versicherte Person fähig ist, 10 Minuten lang zu stehen, ohne sich abzustützen, nicht darauf, ob sie dies auf einem Bein alleine kann oder nicht.

(b) Als dritte Grundfähigkeit kommt deshalb nach dem Klagevortrag nur noch § 2 B) “Knien oder Bücken‘ der Bedingungen in Betracht. Die Definition in den Bedingungen lautet: “Die versicherte Person ist nicht fähig, sich niederzuknien oder so weit zu bücken, um einen leichten Gegenstand vom Boden aufzuheben und sich dann wieder aufzurichten.‘

Diese Bedingung ist auszulegen. Der durchschnittliche VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse wird diese Grundfähigkeit bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhanges (siehe dazu: BGH VersR 2003, 454) so verstehen, dass es um die Tätigkeit geht, einen leichten Gegenstand vom Boden aufzuheben, indem er sich entweder niederkniet oder sich bückt und sich anschließend wieder aufrichtet.

Zwar können sich das Aufheben eines leichten Gegenstandes vom Boden und das Sich-Wieder-Aufrichten sprachlich lediglich auf das Bücken und nicht auch auf das Sich-Niederknien beziehen. Dass dies aber nicht gemeint ist, zeigt folgende Überlegung: Weder der Begriff “Niederknien‘ noch der Begriff “Bücken‘ wären alleine ohne weitere Definition geeignet, eine eindeutige Aktivität zu bezeichnen. Es bliebe ohne eine Zielvorgabe (hier: einen leichten Gegenstand vom Boden aufzuheben) unklar, wie tief niedergekniet oder ob auf einem oder auf beiden Knien gekniet werden muss. Erst durch den Zusatz “um einen Gegenstand vom Boden aufzuheben‘, der sich sprachlich auf beide Handlungsalternativen beziehen kann, werden konkrete Bewegungsabläufe definiert.

Diese Auslegung ist auch für die medizinische Begutachtung entscheidend. Der gerichtliche Sachverständige hat ein Ergebnis formuliert, ohne die körperlichen Möglichkeiten der Kl. konkret zu beschreiben. So ist unklar, ob die Kl. nicht auf ihrem linken Knie bei leichter Beugung des rechten Knies ohne Probleme auf dem Boden knien kann. Der Sachverständige hat sich nur insoweit festgelegt, dass für die Kl. die Einnahme eines Fersensitzes nicht möglich sei. Auch die Ansicht des Sachverständigen, die Kl. könne im Knien keine Tätigkeiten mehr ausüben, ist nach den Bedingungen nicht entscheidend.

Letztlich kommt es aber auf die genaue Einschränkung der Kl. beim Knien nicht einmal an, denn die Einschränkung der Grundfähigkeit “Knien oder Bücken‘ liegt jedenfalls nur dann vor, wenn beide Alternativen also “Niederknien‘ und “Bücken‘ dem VN nicht mehr möglich sind. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut “nicht fähig, sich niederzuknien oder so weit zu bücken‘, denn bei dem von der Kl. angeführten Verständnis wäre zu erwarten, dass die Formulierung gelautet hätte: “Die versicherte Person ist nicht fähig, sich niederzuknien, oder sie ist nicht fähig, sich so weit zu bücken.‘ Außerdem zeigt der Zusammenhang mit den weiteren aufgeführten Grundfähigkeiten unter B), dass “Knien oder Bücken‘ eine einzige Grundfähigkeit ist. Auch die sonstigen Unterpunkte betreffen einzelne Grundfähigkeiten. Die mit dem Wort “oder‘ verbundenen Alternativen dürfen deshalb nach der Verneinung beide nicht möglich sein, um eine ausreichende Beeinträchtigung dieser Grundfähigkeit annehmen zu können.

Nachdem die Kl. selbst eingeräumt hat, dass sie sich bücken und z.B. einen Schirm oder eine Tasche aufheben kann, und der Sachverständige dies in der mündlichen Anhörung ebenfalls angenommen hat, ist nicht bewiesen, dass die Kl. sich nicht mehr im definierten Sinne bücken kann. Dass die Kl. einen leichten Gegenstand auf diese Weise nicht mehr aufheben kann, wenn er unter einen Tisch gefallen ist, ist ohne Bedeutung. Die Alternative “Bücken‘ sieht diese Voraussetzung, auf Knien unter einen Tisch zu gelangen, um einen Gegenstand zu erreichen und hervorzuholen, nicht vor. … “

zfs 11/2015, S. 640 - 642

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