Das Überholverbot des Abs. 3 dient vor allem dem Schutz des Gegenverkehrs, insgesamt aber allen Verkehrsteilnehmern, die durch ein falsches/verbotenes Überholen gefährdet werden können. Nicht umfasst vom Überholverbot sind Fußgänger (§ 26 Abs. 3) und der von einem Grundstück in den fließenden Verkehr Einfahrende (§ 10) wegen der Spezialvorschriften.
1. Unklare Verkehrslage, Abs. 3 Nr. 1
Die unklare Verkehrslage bedeutet ein faktisches Überholverbot. Es handelt sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die der Auslegung bedürfen. Eine Verkehrslage ist unklar, wenn der Überholende unter den gegebenen Umständen nicht mit einem ungefährlichen Überholvorgang rechnen darf, die Verkehrslage also unübersichtlich ist und sich ihre Entwicklung nach objektiven Umständen nicht beurteilen lässt. Die Verkehrslage ist dann unklar, wenn nicht verlässlich beurteilt werden kann, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde. Dabei können die örtlichen Gegebenheiten bei der Annahme einer unklaren Verkehrslage eine Rolle spielen. Auf das subjektive Empfinden des Überholenden kommt es nicht an. Es haben sich zahlreiche Fallgruppen herausgebildet, bei denen von einer unklaren Verkehrslage ausgegangen werden muss.
Eine unklare Verkehrslage soll sich bereits aus der Tatsache ergeben, dass der Überholende eine Kolonne überholt, zumindest, wenn mit dem Ausscheren und Linksabbiegen eines Fahrzeugs aus der Kolonne zu rechnen ist. Zweifelsfrei ist das Überholen einer Kolonne besonders gefahrenträchtig, es ist jedoch grds. nicht per se verboten. Zutreffend ist, dass den Überholenden einer Fahrzeugkolonne eine gesteigerte Sorgfaltspflicht trifft. Ausschließlich wegen des Überholens einer Kolonne eine unklare Verkehrslage anzunehmen, geht aber zu weit. Vielmehr müssen weitere Umstände hinzukommen. Ohne Hinzutreten von besonderen Umständen (z.B. Spitze der Kolonne nicht erkennbar, Verringerung der Geschwindigkeit durch die vorausfahrenden Fahrzeuge ), die für ein Ausscheren sprechen, muss der eine Fahrzeugkolonne Überholende nicht damit rechnen, dass ein in der Kolonne befindliches Fahrzeug unvermittelt nach links ausschert; anders gegebenfalls dann, wenn beim Überholen einer Kolonne zwei Fahrzeuge auf freier Strecke erkennbar für den nachfolgenden Überholenden angehalten hatten.
Ein klassisches praktisches Problem ist der Unfall zwischen einem Linksüberholenden und einem Linksabbiegenden und die Frage, ob der Linksüberholende möglicherweise in einer unklaren Verkehrslage überholt hat. Wenn bei einem vorausfahrenden oder stehenden Fahrzeug der linke Fahrtrichtungsanzeiger betätigt wird, dies der nachfolgende Verkehr erkennen konnte und dem überholenden Fahrzeugführer noch ein angemessenes Reagieren – ohne Gefahrbremsung – möglich war, liegt für den Überholenden eine unklare Verkehrslage vor. Dies setzt jedoch voraus, dass der Linksabbiegende beweisen kann, dass er den linken Fahrtrichtungsanzeiger einerseits überhaupt und andererseits frühzeitig – d.h. für den nachfolgenden Verkehr erkennbar – gesetzt hatte und sich ordnungsgemäß zum Linksabbiegen eingeordnet hatte. Das Einordnen zur Mitte ist jedoch lediglich ein weiteres Indiz. Entscheidend ist eine Gesamtschau aller relevanten Umstände. Wenn der Linksabbiegende beweisbelastet bleibt, stellt sich die Frage, wann für den Überholenden eine unklare Verkehrslage vorlag. Jedenfalls ist bei der Überprüfung nicht so früh anzusetzen, dass bereits eine unklare Verkehrslage anzunehmen ist, wenn das vorausfahrende Fahrzeug langsam fährt und eine Straßeneinmündung in der Nähe ist, und zwar selbst dann nicht, wenn das Fahrzeug sich bereits etwas zur Mitte eingeordnet hat. Gelingt dem Linksabbiegenden der Beweis und ereignete sich der Unfall zu einem Zeitpunkt, als der Abbiegevorgang bereits begonnen wurde, muss der Abbiegende die rückwärtige Fahrbahn aber nicht weiter beobachten. Wegen der inzwischen erreichten leichten Schrägstellung ist eine Beobachtung der rückwärtigen Fahrbahn im Rückspiegel ohnehin nicht mehr möglich und ein fortdauernder Schulterblick würde eine Überspannung der Sorgfaltsanforderungen bedeuten. Wenn der zu Überholende mit ungewöhnlich niedriger Geschwindigkeit fährt, muss dies bei dem Überholenden Misstrauen hervorrufen. Der nachfolgende Verkehr muss in Erwägung ziehen, dass Umstände zu dieser Fahrweise geführt haben, die ein gefahrloses Überholen in Frage stellen können. Alleine der Umstand, dass der Vorausfahrende seine Geschwindigkeit verringert und sich etwas zur Mitte einordnet, begründet jedoch (noch) keine unklare Verkehrslage. In der Regel wird der Linksabbiegende mithaften, da ihm der Nachweis, dass er seiner doppelten Rückschaupflicht nachgekommen ist, nicht gelingen wird (Anscheinsbeweis). Eine Ausnahme besteht dann, wenn der Vorausfahrende in seiner Fahrweise unsicher erscheint und es den Anschein hat, er suche eine Parkmöglichkeit.