Der Anscheinsbeweis kommt nur in Betracht, wenn ein Sachverhalt feststeht, bei dem der behauptete ursächliche Zusammenhang und/oder das behauptete Verschulden typischerweise gegeben sind. Es muss ein typischer Geschehensablauf feststehen, der nach der Lebenserfahrung auf eine bestimmte Ursache oder Folge oder auf Verschulden hinweist und so sehr das Gepräge des Gewöhnlichen und Üblichen trägt, dass die besonderen individuellen Umstände in ihrer Bedeutung zurücktreten. Die Feststellung der erforderlichen Typizität bereitet einige Schwierigkeiten.
1. Zu beachten ist zunächst, dass Beurteilungsmaßstab nicht die persönliche Erfahrung des entscheidenden Richters, sondern die allgemeine Lebenserfahrung ist. So mag es im eingangs gebildeten Beispielsfall – dem Fall, in dem jeder Zweite von Ihnen während meines Vortrags in Tiefschlaf verfällt – den persönlichen Erfahrungen des auf seinen Schlaf Bedachten entsprechen, während eines Vortrags nur dann einzuschlafen, wenn dieser unerträglich langweilig ist. Dass dies auch der allgemeinen Lebenserfahrung entspricht, erscheint in Hinblick auf die Erfahrungen der Nachteule aber eher zweifelhaft.
2. Der Richter muss, will er den Anscheinsbeweis anwenden, einen allgemeinen Erfahrungssatz – eine aus allgemeinen Umständen gezogene tatsächliche Schlussfolgerung – feststellen, aufgrund dessen sich der Schluss aufdrängt, eine bestimmte Folge sei auf eine bestimmte Ursache oder umgekehrt zurückzuführen oder der Handelnde habe die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verletzt. Der Erfahrungssatz muss hinreichend tragfähig sein. Ihm braucht zwar kein zwingender Beweiswert zuzukommen. Es ist auch nicht erforderlich, dass er wissenschaftlich verifizierbar ist. Er muss aber eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit für einen bestimmten Geschehensablauf begründen. Oder mit anderen Worten: Der mithilfe des Anscheinsbeweises zu unterstellende Kausalverlauf bzw. das Verschulden müssen in der Lebenswirklichkeit so häufig vorkommen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen solchen Fall vor sich zu haben, sehr groß ist. Erkenntnisse der Lebenserfahrung, denen keine ausreichende Wahrscheinlichkeit zukommt, vermögen die zur Anwendung des Anscheinsbeweises erforderliche Typizität dagegen nicht zu begründen.
Diese Grundsätze werden in der Praxis nicht immer beachtet. So hat das Amtsgericht München den zur Führung eines Anscheinsbeweises ersichtlich ungenügenden Erfahrungssatz aufgestellt, ein im Münchener Stadtverkehr erfahrener Taxifahrer fahre nicht gegen ein stehendes Kraftfahrzeug. Äußerst zweifelhaft ist auch der Erfahrungssatz des Oberlandesgerichts Bamberg, wonach eine Braut im Zeitpunkt des Verlöbnisses unberührt ist. Zur Ehrenrettung des OLG Bamberg muss ich allerdings darauf hinweisen, dass dessen Entscheidung vom 2.2.1967 datiert.
Ein weiteres Beispiel für einen nicht tragfähigen Erfahrungssatz ist der vom Landgericht Chemnitz angenommene, nach dem die Anschaffung und Haltung von drei Hunden von Bewohnern eines Reiterhofs nach der allgemeinen Lebenserfahrung typischerweise zu dem Zweck erfolge, die Sicherheit der Pferde zu gewährleisten.
In der Inline-Skater-Entscheidung hat der VI. Zivilsenat die Existenz eines Erfahrungssatzes verneint, wonach bei einer Geschwindigkeit von 37 km/h die bei einem Zusammenstoß erlittenen Verletzungen schwerer seien als bei einem Aufprall mit 30 km/h. Im zugrunde liegenden Fall hatte die Klägerin eine Straße im außerörtlichen Bereich auf Inline-Skates befahren und war in einer langgezogenen Linkskurve mit dem ihr auf einem Motorroller entgegenkommenden Beklagten zusammengestoßen, wobei sie sich schwere Verletzungen zuzog. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit an der Unfallstelle betrug 30 km/h. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stand fest, dass der Beklagte mindestens mit einer Geschwindigkeit von 37 km/h gefahren war. Es war jedoch nicht auszuschließen, dass die Klägerin erst so kurz vor dem Unfall in die Fahrbahn des Beklagten gelaufen war, dass dieser den Unfall auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h nicht mehr hätte vermeiden können. Es konnte auch nicht festgestellt werden, ob die Klägerin bei dieser Geschwindigkeit geringere Verletzungen erlitten hätte. Ein Anscheinsbeweis kam der Klägerin insoweit mangels Typizität des Geschehensablaufs nicht zugute.
Einen tragfähigen Erfahrungssatz hat der VI. Zivilsenat auch in folgendem Fall verneint: Der Kläger wurde an einem Sonntagmorgen gegen 4.15 Uhr auf dem Rückweg von einem Weinfest als Fußgänger auf einer Kreisstraße außerorts von dem Kleinbus des Beklagten erfasst und schwer verletzt. Eine ihm um 5.20 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,8 Promille. Da sich der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in der Annäherungsphase noch nicht auf der Fahrbahn befunden, sondern diese erst kurz vor der Kollision betreten hatte, hat der VI. Zivilsenat einen typischen Geschehensablauf, der nach der Lebenserfahru...