Einführung
Verteidigertätigkeit ist am besten am konkreten Fall zu erlernen. Literatur zur Verteidigung in Abstandsmessverfahren gibt es in großer Anzahl – gerade Anfänger in Bußgeldsachen tun sich aber erfahrungsgemäß schwer, theoretisch erworbenes Wissen zu einzelnen Messverfahren in der Praxis umzusetzen. Dieser Beitrag soll eine Art "Schnittstelle" hierfür sein, also Theorie und Praxis verknüpfen. Anhand einer Aufgabenstellung und fiktiver Unterlagen soll der Leser die Falllösung für sich erarbeiten oder sie zumindest nachvollziehen.
I. Die typische Ausgangssituation des Verteidigers
Stellen Sie sich vor, Sie finden auf Ihrem Schreibtisch nach Rückkehr von einem Gerichtstermin nachfolgende Unterlagen vor:
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Vermerk Ihres Bürovorstehers |
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einen (hier nur auszugsweise abgedruckten) Anhörungsbogen |
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den unten abgedruckten Fotostreifen. |
Welche Auskünfte können Sie ihrem Mandanten geben?
II. Vorliegende Unterlagen:
1. Vermerk:
Unser Mandant Herr Manfred Mustermann (bereits aus anderen Sachen persönlich bekannt) war heute in der Kanzlei und bittet noch heute um Rückruf. Er habe eine "Anhörung als Betroffener zu einer Ordnungswidrigkeitenanzeige" erhalten. Eine Kopie überreichte er (liegt an!). Er habe auch einen offenbar kopierten Bildstreifen erhalten – mit drei Bildern. Eines der Fahrzeuge sei seins. Auch diesen Bildstreifen überreichte er in Kopie. Auf einem weiteren ihm übersandten Bild erkenne man ihn als Fahrer; im übrigen sei das zur Tatzeit geführte Fahrzeug ein Firmenfahrzeug, so dass er gar nicht bestreiten könne und wolle, Fahrer gewesen zu sein. Herr Mustermann bittet um Rückruf. Er will wissen, wie der Abstand gemessen wurde, welche Rechtsfolgen drohen und ob eine realistische Verteidigungschance besteht.
Herr Mustermann wies auf das letzte Verfahren hin, dass vor 2 Monaten eingestellt worden ist. Ich habe den Verkehrszentralregisterauszug aus der "alten" Akte zum hiesigen Verfahren gelegt.
Gerd Flaissich, Bürovorsteher
2. Auszug aus dem Anhörungsbogen:
"Sehr geehrter Herr Mustermann!"
Ihnen wird vorgeworfen, am 15.2.2012 um 11.22 in Musterstadt, BAB 123, km 987,456, Fahrtrichtung Ruhrstadt folgende Ordnungswidrigkeit nach § 24 StVG begangen zu haben:
Sie hielten bei einer Geschwindigkeit von 120 km/h den erforderlichen Abstand von 60 m zum vorausfahrenden Fahrzeug nicht ein. Ihr Abstand betrug lediglich 11,50 m und damit weniger als 2/10 des halben Tachowertes. Toleranzen wurden zu Ihren Gunsten berechnet.
§ 4 Abs. 1, 49 StVO; 24, 25 StVG; 12.5.4 BKat
Beweismittel: VAMA-Aufzeichnung“
3. Lichtbildstreifen (anonymisiert):
4. Verkehrszentralregister (Zusammenfassung)
Hieraus ergeben sich wegen "Handyverstößen und Ladungssicherungsverstößen" bereits 12 eingetragene Punkte.
III. Lösungsvorschlag
Folgende Informationen müssen Sie im Telefongespräch dem Mandanten als Verteidiger nahe bringen:
1. Drohende Rechtsfolgen
Stimmen die Angaben im Anhörungsbogen und ist die Messung verwertbar, so droht ein zweimonatiges Fahrverbot (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG i.V.m. 12.5.4 BKat wegen grober Pflichtwidrigkeit). Das angedrohte Bußgeld für den bezeichneten Bußgeldtatbestand beträgt 240 EUR. Wegen der Voreintragungen im Verkehrszentralregister wird sich wohl die Geldbuße erhöhen – mit 300 bis 350 EUR ist sicher zu rechnen.
Das Fahrverbot dagegen wird vermutlich nicht verlängert werden, da ein innerer Zusammenhang der Voreintragungen mit dem in Rede stehenden Abstandsverstoß nicht gegeben ist. Zudem drohen dem Mandanten wegen des Verstoßes 3 Punkte im Verkehrszentralregister, so dass er wegen § 4 Abs. 8 StVG an einem Aufbauseminar teilnehmen müsste.
2. Messmethode
Die Abstandsmessung ist mit einer Video-Abstands-Mess-Anlage (kurz:"VAMA") durchgeführt worden. Bei diesem standardisierten Messverfahren wird der auflaufende Verkehr mit zwei Videokameras von einer über die Autobahn führenden Brücke auf ein einziges Videoband aufgezeichnet, wobei die eine Videokamera den Fernbereich (ca. 100 bis meist über 500 Meter hinaus – siehe linke Bildhälfte) aufnimmt und die andere Kamera den für die eigentliche Messung maßgeblichen Nahbereich (ca. 30-100 m – siehe rechte Bildhälfte). Auf dem Band wird das – oben "geweißte" – Datum der Aufnahme, die Tatzeit (als Echtzeit) und ferner die Messzeit (eine fiktive geeichte Zeit) eingeblendet – die Zeit wird generiert durch einen so genannten "Charaktergenerator". Dieser ist dann auch als Herzstück der Anlage geeicht. Die Messzeit ist auf hundertstel Sekunden genau. Das Videoband wird in der Hauptverhandlung als das wichtigste Beweismittel in Augenschein genommen, da aus ihm die Zeitmesswerte und das Fahrverhalten insgesamt bewiesen werden können. Seit Mitte 2009 läuft zwar noch die (Identifizierungs-) Videokamera dauernd und synchronisiert mit – durch einen Schalter, der seitens des Messbeamten manuell bei Tatverdacht bedient wird, wird jedoch nur für die Identifizierung die Aufnahme der Kamerasicht veranlasst. Es wird also einfach das Videosignal zum Videorekorder unterbrochen bzw. wiederhergestellt. Eine solche anlassbezogene Aufzeichnung zum Zwecke der Fahreridentifizierung dürfte nach §§ 100h oder 163b Abs. 1 S. 3 StPO gerechtfertigt sein. Aus dem Videofilm werden später im Rahmen der Videoauswertung für die Akte zur Berechnung von Geschwindigkeit und Abstand Einz...