Gerade bei mehrspurigen Fahrstreifen für eine Fahrtrichtung im innerstädtischen Verkehr ist nicht selten die Konstellation anzutreffen, dass der Anfahrende zwar den rückwärtigen Verkehr beobachtet und erkennt, dass im linken Fahrstreifen Fahrzeuge vorhanden sind, im rechten jedoch nicht, und sich sodann entschließt anzufahren, während im gleichen Zeitraum ein Fahrzeug vom linken Fahrstreifen in den rechten wechselt. Dann ereignet sich eine Unfallkonstellation im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des fließenden Verkehrs und einem Anfahren vom Fahrbahnrand. Der Anfahrende wird sich auf eine Verletzung der größtmöglichen Sorgfaltspflichten gem. § 7 Abs. 5 StVO zu Lasten des Fahrstreifenwechslers berufen, während dieser sich auf die besonderen Sorgfaltspflichten des § 10 StVO zu Lasten des Anfahrenden berufen wird. Grundsätzlich könnte man auch in dieser Situation auf die Idee kommen, dass der gegen beide sprechende Anscheinsbeweis dazu führen würde, dass z.B. eine hälftige Haftungsverteilung anzunehmen wäre. In dieser Konstellation gilt es jedoch den Schutzzweck der Norm zu beachten: Während § 10 StVO zu Lasten des Anfahrenden den fließenden Verkehr schützt, dient der Schutzzweck des § 7 Abs. 5 StVO nicht dem ruhenden Verkehr und damit auch nicht dem Schutz desjenigen, der beabsichtigt, sich aus dem ruhenden Verkehr in den fließenden Verkehr zu begeben. Damit kann sich der Anfahrende nicht auf einen vermeintlichen Verkehrsverstoß des im fließenden Verkehr befindlichen Fahrstreifenwechslers berufen, so dass im Ergebnis allein zu Lasten des Anfahrenden der Anscheinsbeweis spricht, was im Regelfall zu einer Alleinhaftung des Anfahrenden führen wird. Im Ergebnis muss also der Anfahrende damit rechnen, dass ein im linken Fahrstreifen befindlicher Verkehrsteilnehmer in den rechten Fahrstreifen wechselt. Er darf nicht darauf vertrauen, dass der rechte Fahrstreifen frei bleibt. Dies hat meiner Meinung nach auch zu gelten, wenn es sich statt eines Anfahrenden um einen von rechts kommenden Wartepflichtigen handelt, der nach rechts abbiegen möchte. Meiner Auffassung nach fehlerhaft hat das LG Hamburg in einer solchen Konstellation die Auffassung vertreten, dass eine hälftige Haftungsverteilung anzunehmen ist. Es meint, dass sich ein wartepflichtiger Einbiegender ohne besonderen Grund grundsätzlich nicht darauf einstellen muss, dass ein Benutzer der vorfahrtsberechtigten Straße, der einen bestimmten Fahrstreifen einhält, seinen Fahrstreifen wechseln wird. Dies halte ich für falsch. Das Vorfahrtsrecht erstreckt sich über die gesamte Fahrbahnbreite. Wer im linken Fahrstreifen fährt, besitzt damit auch ein Vorfahrtsrecht gegenüber einem von rechts kommenden Einbiegenden, wenn er beabsichtigt, in den rechten Fahrstreifen zu wechseln. Der Einbiegende muss sich darum auch darauf einstellen, dass ein vorfahrtsberechtigtes Fahrzeug den Fahrstreifen wechseln wird, so dass zu Lasten des Wartepflichtigen der alleinige Anscheinsbeweis spricht.