AEUV Art. 267; Richtlinie 2006/126/EG Art. 2 Abs. 1 7 11 12 Abs. 1 16 Abs. 1 und 2 17 Abs. 1 18; Richtlinie 91/439 Art. 1 Abs. 2 8; StVG § 2 § 3 § 29; FeV § 11 § 29 § 46, FeV Anlage 4, Vorbemerkung, Nr. 9.2
Leitsatz
1. Die Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.12.2006 über den Führerschein sind dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins vorübergehend aufhält, nicht daran hindern, die Anerkennung der Gültigkeit dieses Führerscheins wegen einer Zuwiderhandlung seines Inhabers abzulehnen, die in diesem Gebiet nach Ausstellung des Führerscheins stattgefunden hat und die gem. den nationalen Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats geeignet ist, die fehlende Eignung zum Führen von Kfz herbeizuführen.
2. Der Mitgliedstaat, der es ablehnt, die Gültigkeit eines Führerscheins in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden anzuerkennen, ist dafür zuständig, die Bedingungen festzulegen, die der Inhaber dieses Führerscheins erfüllen muss, um das Recht wiederzuerlangen, in seinem Hoheitsgebiet zu fahren. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts zu untersuchen, ob sich der fragliche Mitgliedstaat durch die Anwendung seiner eigenen Regeln in Wirklichkeit nicht unbegrenzt der Anerkennung des von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins entgegenstellt. In dieser Hinsicht ist es auch seine Aufgabe zu überprüfen, ob die von den Rechtsvorschriften des erstgenannten Mitgliedstaats vorgesehenen Voraussetzungen gem. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des von der Richtlinie 2006/126 verfolgten Ziels, das in der Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr besteht, angemessen und erforderlich ist.
EuGH, Urt. v. 23.4.2015 – Rs. C-260/13 (Sevda Aykul) [betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom VG Sigmaringen, Beschl. v. 30.4.2013 – 4 K133/13, zfs 2013, 417]
Sachverhalt
Frau Sevda Aykul ist österreichische Staatsangehörige und wohnt in Österreich, unweit der deutschen Grenze. Nach einer Polizeikontrolle in Deutschland ergab die Untersuchung der Blutprobe, dass Frau Aykul unter Einfluss von Cannabis gefahren war und dass sie dieses Rauschmittel zumindest gelegentlich konsumierte. Die deutschen Behörden waren daher der Auffassung, dass Frau Aykul nicht in der Lage sei, das Fahren und den Konsum berauschender Mittel voneinander zu trennen, und dass sie daher zum Führen von Kfz ungeeignet sei. Frau Aykul wurde daher das Recht abgesprochen, mit ihrem österreichischen Führerschein in Deutschland zu fahren. Sie wurde darüber informiert, dass sie ihr Recht, in Deutschland zu fahren, wiedererlangen kann, wenn sie ein medizinisch-psychologisches Gutachten vorlegt, das in der Regel vom Nachweis der Abstinenz von jeglichem Konsum berauschender Mittel während eines Jahres abhängig ist. In Österreich wurde Frau Aykul hingegen weiterhin als zum Führen von Kfz geeignet angesehen und behielt demnach ihren Führerschein. Die österreichischen Behörden schreiten nämlich nur ein, wenn eine fehlende Fahreignung wegen des Konsums berauschender Mittel medizinisch festgestellt wird oder wenn Anzeichen bestehen, die eine Abhängigkeit von diesen Mitteln vermuten lassen. Nach dem Protokoll des deutschen Arztes, der die Blutprobe genommen hatte, stand Frau Aykul jedoch nicht merkbar unter dem Einfluss berauschender Mittel. Frau Aykul rief das VG Sigmaringen (vgl. Beschl. v. 30.4.2013 – 4 K 133/13, zfs 2013, 417) an, um gegen die deutsche Verwaltungsentscheidung vorzugehen, mit der ihr das Recht abgesprochen wurde, von ihrem österreichischen Führerschein in Deutschland Gebrauch zu machen. Ihrer Ansicht nach waren nur die österreichischen Behörden für die Beantwortung der Frage zuständig, ob sie noch zum Führen von Kfz geeignet war. In diesem Zusammenhang fragt das VG Sigmaringen (zu weiteren Einzelheiten und zu den Vorlagefragen siehe zfs 2013, 417) den EuGH, ob die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine, wie sie sich aus der Richtlinie 2006/126 über den Führerschein ergibt, der streitigen Entscheidung entgegensteht.
2 Aus den Gründen:
" …"
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
[38] Da die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen die Auslegung der Art. 2 Abs. 1 und 11 Abs. 2 der Richtlinie 2006/126 betreffen, die die Richtlinie 91/439 aufgehoben und ersetzt hat, ist vorab zu ermitteln, welche Bestimmungen des Unionsrechts auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zeitlich anwendbar sind.
[39] Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass Frau Aykul die Fahrerlaubnis am 19.10.2007 von den österreichischen Behörden erteilt wurde und dass es das Landratsamt R mit seiner Verfügung v. 17.9.2012 wegen Tatsachen, die sich am 11.5.2012 ereignet hatten, ablehnte, die Gültigkeit dieser Fahrerlaubnis im deutschen Hoheitsgebiet anzuerkennen.
[40] Gem. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2006/126 wurde d...