Im Rahmen der Begutachtung muss der aktuelle Gesundheitszustand des Antragsstellers über eine umfassende Anamnese, einen aktuellen Untersuchungsbefund und die Bewertung technischer Zusatzuntersuchungen (z.B. Röntgenbilder) beschrieben und gutachterlich analysiert werden. Dabei interessieren folgende fünf Fragen.
I. Führt die Arbeitsbelastung zu einer richtungweisenden Verschlimmerung eines bestehenden Leidens, d.h. geht die Fortsetzung der Arbeit zu Lasten der Gesundheit?
Ein Patient mit einem akuten Bandscheibenvorfall mit Zeichen einer begleitenden Nervenwurzelschädigung (Gefühlsstörungen oder Kraftminderungen oder beides) sollte während der akuten Phase dieses Bandscheibenvorfalles (i.d.R. sechs bis zwölf Wochen) nicht mechanisch überlastet werden.
Während dieser Zeit verbieten sich also insbesondere mechanische Belastungen durch Heben und Tragen von schweren Lasten oder durch längeres Verharren in Zwangshaltungen der Wirbelsäule.
Wenn ein Patient mit einem akuten Bandscheibenvorfall während der akuten Phase an einen körperlich belastenden Arbeitsplatz zu früh zurückkehrt, besteht die Gefahr, dass sich der Bandscheibenvorfall noch vergrößert mit unter Umständen fatalen Auswirkungen auf lokale Nervenwurzeln.
Es versteht sich von selbst, dass die Abschätzung, inwieweit die berufliche Belastung ein vorbestehendes Leiden richtungsweisend verschlimmern könnte, in aller Regel nicht exakt kalkulierbar ist. Aus Fürsorgegründen wird der zuständige Arzt daher versuchen, "einen Sicherheitsabstand" einzuhalten und die betroffene Person lieber etwas zu lang als zu kurz vor potentiell schädlichen Arbeitsbelastungen zu schützen.
II. Ergeben sich aufgrund eines medizinischen Leidens an einem konkreten Arbeitsplatz zusätzliche Gefährdungen für den Versicherten oder andere?
Im Zusammenhang beispielsweise mit einem akuten symptomatischen Meniskusriss kann es gelegentlich zu Blockierungsphänomenen im betroffenen Kniegelenk und/oder zu einem kurzfristigen Kraftverlust im betroffenen Bein kommen. In solchen Fällen sollten daher keine Arbeiten verrichtet werden, bei denen ein akuter Kraftverlust im Bein oder eine akute Kniegelenksblockierung in einer bestimmten Beugestellung gefährlich sein könnten. Ausgeschlossen sind also während dieser Zeit beispielsweise Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten an gefährdenden Maschinen (z.B. Sägen etc.) oder z.B. die Tätigkeit als Busfahrer.
Eine wenig gefährdende Tätigkeit in einem Büro wäre dagegen unter diesem Aspekt möglich, zumal die betroffene Person vorübergehend zwei Unterarmgehstützen zur zusätzlichen Sicherung verwenden könnte.
III. Führt die berufliche Belastung aufgrund eines vorbestehenden Leidens zu unzumutbaren Schmerzen oder sonstigen Beschwerden?
Während die ersten beiden Fragen üblicherweise vom medizinischen Sachverständigen oder behandelnden Arzt relativ kompetent beantwortet werden können, kann die dritte Frage nicht ausschließlich von einem Mediziner beantwortet werden. Subjektive Beschwerden wie Schmerzen (aber auch Schwindel, Übelkeit oder Ohrgeräusche etc.) entziehen sich auch einer ärztlichen Objektivierung.
Das Ausmaß der subjektiven Beschwerden kann daher auch von einem behandelnden oder begutachtenden Arzt nicht eindeutig erfasst werden. Art und Umfang subjektiver Beschwerden lassen sich lediglich durch Befragung der betroffenen Person in Erfahrung bringen. In einem Rechtsstreit bedeutet dies, dass letztlich eine Bewertung einer Zeugen-/Parteienaussage stattfinden muss. Diese Bewertung kann ein Mediziner ohne juristische Unterstützung nicht vornehmen.
Darüber hinaus ist es aber auch eine sozialpolitische und juristische Fragestellung, welches Ausmaß an subjektiven Beschwerden eine Arbeitsunfähigkeit begründet und mit welchen Beschwerden die Fortsetzung der beruflichen Tätigkeit zumutbar ist. Im antiken Sparta galten sicherlich andere gesellschaftliche Normen als in der heutigen Bundesrepublik.
Die Beantwortung der dritten Frage ist daher im Endeffekt eine Frage an Sozialpolitiker und Juristen. Mediziner können in diesem Zusammenhang nur unterstützend tätig werden, indem sie aus medizinischer Sicht analysieren, inwieweit angegebene Beschwerden durch objektivierbare Befunde und durch allgemeine ärztliche Erfahrung im konkreten Fall plausibel erscheinen oder nicht.
IV. Ist die berufliche Belastung physisch überhaupt möglich?
Diese Frage kann i.d.R. auch von jedem Laien beantwortet werden.
Beispiel
Nach einer beidseitigen Oberschenkelamputation kann man nicht mehr als Profifußballspieler in der Bundesliga mithalten.
V. Hat der Unfall zu einer ungewöhnlichen, anhaltenden Entstellung geführt?
In sehr seltenen Fällen können Unfälle auch zu extremen Entstellungen (z.B. schwere Verbrennungen im Gesicht) führen, die die Arbeitsfähigkeit, die Berufsfähigkeit oder gar die Erwerbsfähigkeit in Frage stellen.
VI. Fazit
In einem Rechtsstreit, in dem es z.B. um die Frage der Arbeits-/Erwerbsfähigkeit geht, muss daher ein medizinischer Sachverständiger den beteiligten Juristen gegenüber klar signalisieren, aus welchen Gründen er ggf. eine Arbeits-/Erwerbsunfähigkeit zu einem gegebenen Zeitpunkt annimmt. Geschieht dies aufgrund einer befürchteten richtungsweisenden Verschlimmerung (Frage I), einer krankheitsbedingt besonderen Gefährdung am Arbeitsplatz (Frage II), einer möglicherweise unzumutbaren Zunahme subjektiver Beschwerden unter der Arbeitsbelastung (Frage III), einer physischen Unfähigkeit (Frage IV) oder einer unzumutbaren Zurschaustellung (Frage V)?
Nur so können Juristen ggf. korrigierend eingreifen, ohne sich dem Vorwurf einer Kompetenzüberschrei...