GG Art. 3 Abs. 3 S. 2 Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 UN-BRK (Allgemeine Handlungsfreiheit und Grundrecht auf Mobilität); BGB § 254 Abs. 1
Leitsatz
Eine nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten gegeben sein, wenn dieser Ausschluss nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird (vgl. BVerfGE 96, 288 <303>). Die Verkehrssicherungspflicht für einen eingerichteten und als solchen gekennzeichneten Behindertenparkplatz ist daher im Lichte der grundgesetzlichen Bestimmung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zu sehen; ihr Inhalt wird durch diese Grundentscheidung mitgeprägt. Ebenso ist bei der Würdigung der Frage eines Mitverschuldens des Behinderten am Unfall (§ 254 BGB) die Ausstrahlungswirkung zu berücksichtigen.
(Leitsatz der Schriftleitung)
BVerfG, Beschl. v. 24.3.2016 – 1 BvR 2012/13
Sachverhalt
Eine querschnittsgelähmte Frau begehrte von der beklagten Stadt Schmerzensgeld und Schadenersatz, weil sie sich 2009 beim Aussteigen auf einem Behindertenparkplatz durch einen Sturz den rechten Unterschenkel gebrochen hatte. Sie trug vor, ihr sei beim Umsteigen vom Auto ihr Rollstuhl weggerutscht, weil der Parkplatz mit unregelmäßigen Kopfsteinen gepflastert sei. Die Gerichte in den Vorinstanzen hatten angenommen, dass sie an ihrer Verletzung eine Mitschuld ist treffe, weil sie um die Gefahr gewusst habe. Sie habe im Frühjahr 2009 an einem Aktionstag teilgenommen habe, bei dem es auch um die behindertengerechte Gestaltung dieses Parkplatzes gegangen sei. Die rollstuhlerfahrene Kl. und jetzige Beschwerdeführerin, die durch öffentliches Engagement auf die sichere und behindertengerechte Gestaltung öffentlicher Plätze, Zugangswege und eben auch Parkplätze hinwirke, habe nicht nur die Ausgestaltung des Bodenbelags auf den Behindertenparkplätzen am Rathaus der Bekl. gekannt, sondern sie sei auch in hohem Maße für die Gefahren des Kopfsteinpflasters für Rollstuhlfahrer sensibilisiert gewesen. Damit habe sie ungeachtet der Dunkelheit gewusst, in welche Gefahr sie sich bei dem Versuch begeben habe, auf ihren auf dem Kopfsteinpflaster stehenden Rollstuhl umzusteigen. Es sei der Beschwerdeführerin deshalb zumutbar gewesen, auf Parkplätze mit ebenen Pflastersteinen am Rathaus im Randbereich auszuweichen oder in einem anderen Bereich der Innenstadt zu parken.
Das BVerfG stellt nun klar, dass eine Pflicht besteht, einen ausgewiesenen Behindertenparkplatz auch sicher zu gestalten.
2 Aus den Gründen:
[7] "I. … 2. Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen den Beschluss des OLG. Sie rügt einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG sowie gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 UN-BRK (Allgemeine Handlungsfreiheit und Grundrecht auf Mobilität) und führt dies näher aus."
[8] 3. Die Verfassungsbeschwerde wurde dem Ministerium für Justiz, Kultur und Europa des Landes Schleswig-Holstein und der Bekl. zugestellt, die sich nicht geäußert haben. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat der Kammer vorgelegen.
[9] II. Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des Grundrechts der Beschwerdeführerin aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG; vgl. BVerfGE 90, 22 <25>). Auch die weiteren Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 S. 1 BVerfGG liegen vor. Das BVerfG hat die hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet.
[10] 1. a) Entscheidungen der allgemein zuständigen Gerichte sind nicht schlechthin einer verfassungsgerichtlichen Prüfung zugänglich. Feststellung und Würdigung des Sachverhalts sowie Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts sind Sache der Fachgerichte und einer Nachprüfung durch das BVerfG grds. entzogen. Dieses kontrolliert vielmehr nur, ob dabei der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt worden ist (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 f.>; 89, 276 <285>). Im bürgerlichen Recht haben die Grundrechte als objektive Grundsatznormen Ausstrahlungswirkung, die vor allem bei der Interpretation von Generalklauseln und anderen auslegungsfähigen und wertungsbedürftigen Normen zur Geltung zu bringen ist (vgl. BVerfGE 7, 198 <204 ff.>; 42, 143 <148>; 81, 40 <52>).
[11] Nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden; eine Schlechterstellung Behinderter ist nur zulässig, wenn dafür zwingende Gründe vorliegen (vgl. BVerfGE 99, 341 <357>). Untersagt sind auf die Behinderung bezogene Ungleichbehandlungen, die für den behinderten Menschen zu einem Nachteil führen. Eine nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbotene Benachteiligung liegt nicht nur bei Maßnahmen vor, die die Situation von Behinderten wegen der Behinderung verschlechtern. Eine Benachteiligung kann auch bei einem Ausschluss von Entfa...