Unter Fortführung der Ausführungen des BGH zu den Anforderungen an die Annahme eines unfallbedingten ersatzfähigen Schockschadens (zfs 2015, 282) geht der BGH davon aus, dass psychische Beeinträchtigungen bei Tod oder schwerer Verletzung naher Angehöriger nur dann eine Gesundheitsbeeinträchtigung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen, wenn sie pathologisch fassbar sind und über das hinausgehen, dem nahe Angehörige erfahrungsgemäß in solchen Fällen ausgesetzt sind (Rn 9).
1. Eine Begrenzung des Zurechnungszusammenhangs wird vom BGH in den beiden Fallgruppen gesehen, in denen der Geschädigte den Unfall in einem neurotischen Streben nach Versorgung und Sicherheit lediglich zum Anlass nimmt, den Schwierigkeiten des Erwerbslebens auszuweichen (sog. Renten- und Begehrensneurose). Eine solche verwirklichte Begehrenshaltung beseitigt den Zurechnungszusammenhang und kann nur bei einer Gesamtschau des Schweregrads des Unfallereignisses, des subjektiven Erlebens des Unfallereignisses durch den Geschädigten und die Berücksichtigung seiner Persönlichkeit durch Einholung eines ärztlichen Gutachtens angenommen werden (so zuletzt BGH zfs 2012, 562).
Eine Zurechnung kann auch dann ausgeschlossen werden, wenn das Schadensereignis ganz geringfügig ist. Da das Unfallereignis, das die Geschädigte nach Mitteilung von Nachbarn wahrgenommen hatte, schon aufgrund des Umfangs der Verletzungen ihres Sohnes keine Bagatelle darstellte, schied diese Ausnahme der Zurechnung aus. Der BGH verneinte auch die Herleitung einer den Zurechnungszusammenhang ausschließenden Fehlverarbeitung oder gar eine Begehrensneurose aufgrund des Unterlassens der Kl., sich einer Behandlung zur Behebung ihrer Magersucht zu unterziehen, hielt es allerdings für klärungsbedürftig, ob der Kl. ein Mitverschulden anzulasten sei.
2. Aufgrund eines eingeholten Sachverständigengutachtens hatte das BG angenommen, dass bei der Kl. aufgrund des Erlebens der Unfallverletzung ihres Sohnes ein posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) eingetreten sei, was Einfluss auf die Bemessung des Schmerzensgeldes und auch auf die Prüfung des Mitverschuldens haben konnte.
Unter Fortführung seiner Erwägungen in seiner Entscheidung v. 10.7.2012 (zfs 2012, 562) meldet der BGH gegen diese Beweiswürdigung des BG Bedenken an.
Klassifiziert werden psychoreaktive Störungen nach einem Unfall in dem von der WHO entwickelten Diagnosesystem Kapitel F des ICD 10 (vgl. Dillig et al., Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V (F), Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis 2006). Sie werden in der Rspr. zugrunde gelegt (vgl. BGH zfs 2012, 562). Folgende Diagnosen werden unterschieden:
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akute Belastungsreaktion (F 43.0), |
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PTBS (F 43.1), |
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Anpassungsstörungen (F 43.2), |
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andauernde Persönlichkeitsänderungen nach Extrembelastung (F 43.3), |
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Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen (F 68.0). |
Die WHO hatte die PTBS auf der Voraussetzungsseite dahin umschrieben, dass der Betroffene einem kurz oder lang anhaltenden Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß ausgesetzt gewesen sein müsse, das nahezu bei jedem Menschen eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen müsse. Die von dem BGH übernommene Klassifizierung der WHO erleichtert dem beweiswürdigenden Richter die Überprüfung einer Einordnung eines Unfallgeschehens als Fall der PTBS. Unter Zugrundelegung der Umschreibung der WHO kann der Jurist die Feststellung einer PTBS durch vergleichende Subsumtion der Ausführungen des Sachverständigen zum – angeblichen – Vorliegen einer PTBS überprüfen und ggf. feststellen, dass der Sachverständige von einem fehlerhaften Sachverhalt ausgegangen ist. Ob damit der Anwendungsbereich der PTBS, der am häufigsten nach Verkehrsunfällen angenommen wird (vgl. Hack/Schottmann/Schwab, DAR 2008, 10; Eilers, zfs 2000, 348), eingeschränkt wird, erscheint wahrscheinlich.
RiOLG a.D. Heinz Diehl
zfs 8/2015, S. 435 - 438