Häufig problematisch ist in der Praxis insbesondere die Auslegung der Reichweite der Befreiung von den Verkehrsvorschriften, was sich z.B. auch auf eine Haftungsquote nach einem Verkehrsunfall auswirkt.
Der von den Verkehrsvorschriften Befreite hat grundsätzlich keine Vorrechte gegenüber den übrigen Verkehrsteilnehmern. § 35 StVO befreit nur von StVO-Pflichten, ändert die Verkehrsregeln und -gebote jedoch nicht. Dies folgt unmittelbar aus § 35 Abs. 8 StVO, wonach die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden. Der Umfang der Befreiung ist daher an § 35 Abs. 8 StVO zu messen, woraus schon gefolgert werden kann, dass die Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bei Sonderrechtsfahrten nicht obsolet wird. Vielmehr ist § 35 Abs. 1 StVO im Hinblick auf die mit der Wahrnehmung von Sonderrechten verbundenen erheblichen Gefährdungen (anderer Verkehrsteilnehmer) eng auszulegen und als Ausnahmevorschrift zu bezeichnen. Vom Gericht wird deshalb auch die Feststellung der konkreten Umstände, die die Dringlichkeit der Dienstaufgabe im Verhältnis zu den Gefahren, die durch die Verletzung von Verkehrsvorschriften entstehen können, belegen, gefordert. Konsequenz hieraus ist, dass der Berechtigte die Verkehrsregeln allenfalls mit größter Sorgfalt "missachten" darf. Die dem Sonderrechtsfahrer obliegende Sorgfaltspflicht ist dabei umso größer, je mehr seine gegen die StVO verstoßende Fahrweise, die zu der zu erfüllenden hoheitlichen Aufgabe nicht außer Verhältnis stehen darf, die Unfallgefahr erhöht. Es gelten der allgemeine Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Übermaßverbot. Hieraus folgt, dass stets derjenige Eingriff in die Verkehrsordnung zu wählen ist, der die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer am geringsten beeinträchtigt. Für den bevorrechtigten Verkehrsteilnehmer wird somit der Maßstab verkehrsgerechten Verhaltens sogar verschärft: Er muss der erhöhten Unfallgefahr, die durch das Abweichen von Vorschriften herbeigeführt wird, zusätzlich begegnen.
Der Berechtigte darf also sein Sonderrecht erst wahrnehmen, wenn er sich sicher sein kann, dass ihm von anderen Verkehrsteilnehmern Vorrang eingeräumt wird und diese ihn wahrgenommen haben. Ausreichend kann es beispielsweise sein, wenn der nach § 35 Abs. 5a StVO berechtigte Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs erkennt, dass Fahrzeuge vor ihm Martinshorn und Blaulicht wahrgenommen haben, indem sie an den Straßenrand fahren, um ein schnelleres Vorbeikommen zu ermöglichen.
Der Fahrer eines Sonderrechtsfahrzeugs muss den sonst bevorrechtigten Verkehrsteilnehmern auch von sich aus zu erkennen geben, dass er Sonderrechte in Anspruch nimmt. Dies ist konsequent, aber sicherlich dort schwierig, wo die Sonderrechtsfahrzeuge nicht als solche sofort zu erkennen sind. Deshalb ist es wichtig, dass das Sonderrechtsfahrzeug, wenn möglich, seine Sonderrechte nur nach Einschaltung von Blaulicht und Signalhorn wahrnimmt, wobei anerkannt ist, dass die Sonderrechte auch dann greifen, wenn das Fahrzeug weder Blaulicht, noch Signalhorn eingeschaltet hat – anders als beim Wegerecht nach § 38 StVO.
Diese Grundsätze gelten auch für Wegerechtsfahrzeuge. Nimmt ein Wegerechtsfahrzeug gem. § 38 Abs. 1 und 2 StVO, z.B. ein Krankenwagen, zugleich auch Sonderrechte gem. § 35 Abs. 1 StVO wahr, so darf er ebenfalls andere Verkehrsteilnehmer nicht gefährden, auch wenn er zur Rettung von Menschenleben unterwegs ist. Denn es ist unzulässig, gefährdete Menschen auf Kosten anderer zu retten. Im Ergebnis dürfen jedoch an den von dem Fahrer des Rettungsfahrzeugs zu beachtenden Sorgfaltsmaßstab auch keine übertriebenen Anforderungen gestellt werden. Das Vertrauen eines Fahrers eines Einsatzfahrzeugs ist nicht erst dann geschützt, wenn die Verkehrsteilnehmer erkennbar dem Gebot des § 38 Abs. 1 S. 2 StVO Folge leisten. Es muss früher angesetzt werden, und zwar an die berechtigte Erwartung des Fahrers, dass die Verkehrsteilnehmer, die die Signale des Einsatzfahrzeuges wahrgenommen haben und sich auf das Fahrzeug einstellen können, dem Gebot entsprechend handeln werden. Anderenfalls würde die Vorschrift auch ins Leere laufen.
Zwar gilt § 35 Abs. 1 StVO auch bei Übungseinsätzen, zutreffend ist die Vorschrift dann aber besonders eng auszulegen, da auf Seiten des Sonderrechtsfahrers keine realen Rechtsgüter auf dem Spiel stehen, während auf der anderen Seite das Eigentum und die körperliche Unversehrtheit von Verkehrsteilnehmern bei rücksichtslosem Fahren gefährdet sein können.
§ 35 StVO schränkt also zusammengefasst die Rechte anderer Verkehrsteilnehmer zugunsten des Sonderrechtsfahrzeugs nur ein, sofern diese nicht gefährdet oder geschädigt werden.