1 Leitsatz
Es gibt keinen Grundsatz, wonach es sich die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer nach einem Beschluss nicht noch einmal anders überlegen und einen neuen, eventuell auch gegensätzlichen Beschluss zum selben Beschlussgegenstand fassen darf.
2 Normenkette
§§ 20, 23 WEG
3 Das Problem
Die Wohnungseigentümer gestatten es Wohnungseigentümer K im Juli 2022, einen Balkon zu errichten. Im August 2022 heben sie diesen Beschluss wieder auf. Wohnungseigentümer K geht gegen den zweiten Beschluss vor. K meint, eine von ihm angenommene "Beschlussreue" könne keine Grundlage für einen Zweitbeschluss sein.
4 Die Entscheidung
Dies sieht das LG anders! Das Ermessen der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer sei "zunächst einmal vollkommen frei". Es existiere kein Grundsatz im Wohnungseigentumsrecht, wonach es sich die Gemeinschaft nach einem Beschluss nicht noch einmal anders überlegen und einen neuen, eventuell auch gegensätzlichen, Beschluss zum selben Beschlussthema fassen könne. Die Befugnis dazu ergebe sich aus der "autonomen Beschlusszuständigkeit der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer". Dabei sei unerheblich, aus welchen Gründen die Gemeinschaft eine erneute Beschlussfassung für angebracht halte. Von Bedeutung sei nur, ob der neue Beschluss aus sich heraus einwandfrei sei. Dies sei in Fällen, in welchen der Beschlussgegenstand keine möglichen Interessen einzelner Wohnungseigentümer oder Dritter tangiere, ganz offensichtlich. Grenzen des grundsätzlich freien Ermessens der Gemeinschaft seien nur dann erreicht, wenn schutzwürdige Belange Einzelner durch die neue Beschlussfassung so beeinträchtigt seien, dass sie die Interessen der Gemeinschaft an der Abänderung des Beschlusses überwögen. Jeder Wohnungseigentümer könne verlangen, dass der neue Beschluss schutzwürdige Belange aus Inhalt und Wirkungen des Erstbeschlusses berücksichtige. Die dabei einzuhaltenden Grenzen richteten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Im Fall sei nicht zu erkennen, dass K im Hinblick auf den Erstbeschluss bereits Dispositionen getroffen hätte.
5 Hinweis
Problemüberblick
Im Fall geht es um die Frage, wann ein Zweitbeschluss einer ordnungsmäßigen Verwaltung widerspricht.
Zweitbeschluss: Ordnungsmäßigkeit
Nach herrschender Meinung kann jeder Wohnungseigentümer nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 WEG verlangen, dass ein Zweitbeschluss schutzwürdige Belange aus Inhalt und Wirkungen des Erstbeschlusses berücksichtigt. Die dabei einzuhaltenden Grenzen sollen sich nach den Umständen des Einzelfalls richten. Verfolgt man die Entscheidungen auf ihren Kern zurück, sind vor allem 5 Prüfsteine für die Annahme schutzwürdiger Belange gefunden worden:
- wenn ein Wohnungseigentümer durch den Zweitbeschluss einen rechtlichen Nachteil im Verhältnis zur Regelung des Erstbeschlusses erleidet;
- wenn ein Zweitbeschluss in wohlerworbene Rechte (individuelle, subjektive Sonderrechte) eingreift,
- wenn der Erstbeschluss einem Wohnungseigentümer eine günstige Rechtsposition geschaffen hat;
- wenn ein Wohnungseigentümer auf Grund des Erstbeschlusses schutzwürdige Vorkehrungen getroffen hat, die sich als sinnlos (nutzlos) erweisen würden;
- wenn es für den Zweitbeschluss keinen nachvollziehbaren Grund gab.
Im Fall war keiner dieser Punkte von besonderer Bedeutung.
Was ist für die Verwaltungen besonders wichtig?
Für einen Zweitbeschluss gibt es keine Entstehungs- oder Tatbestandsvoraussetzungen, die nicht auch für den Erstbeschluss gelten würden. Notwendig, aber auch ausreichend ist, dass der neue Beschluss nicht unter formalen oder materiellen Mängeln leidet und nicht nichtig ist. Der neue Beschluss muss bloß "aus sich heraus einwandfrei" sein. Außerdem dürfen sowohl das "Ob" als auch das "Wie" einer Änderung nicht willkürlich sein.
6 Entscheidung
LG München I, Beschluss v. 5.10.2023, 1 S 5857/23 WEG