Entfernen vom Unfallort – wann keine Wartepflicht des Unfallverursachers besteht
Der Unfall ereignete sich nachts auf einer Landstraße in dörflicher Gegend. Ein Autofahrer rammte ein Straßenschild (Schaden: 200 EUR) und kam von der Fahrbahn ab. Das Auto überschlug sich und kam in einem neben der Straße verlaufenden Bach zum Stehen, der Schaden am Fahrzeug war beachtlich.
Fahrer erlitt einen Unfall, wobei er zunächst ein Straßenschild umfuhr
Der Fahrer blieb auch nicht ungeschoren, er verletzte sich bei dem Unfall erheblich – er hatte eine tiefe, zehn Zentimeter klaffende Risswunde am Kopf. Der Mann, der angab, dass er sich nach dem Unfall in einem Schockzustand befunden habe, wartete nicht am Unfallort. Er ging zu einem nahegelegenen Vereinsheim um Hilfe herbeizurufen. Am Morgen des nächsten Tages verständigte seine Frau die Polizei.
Versicherung verweigert Versicherungsschutz wegen Obliegenheitsverletzung
Der Vollkaskoversicherer wollte für den entstandenen Schaden nicht aufkommen. Er sah in dem Verhalten des Mannes eine Verletzung der vertraglichen Aufklärungsobliegenheit und verwies auf die Versicherungsbedingungen (AKB 2016), die unter anderem folgende Regelungen enthielten:
E.1.1.3
„Sie müssen alles tun, was zur Aufklärung des Versicherungsfalls und des Umfangs unserer Leistungspflicht erforderlich ist. Sie müssen dabei folgende Pflichten beachten:
- Sie dürfen den Unfallort nicht verlassen, ohne die gesetzlich erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen und die dabei gesetzlich erforderliche Wartezeit zu beachten (Unfallflucht).(…) E.2.1
Verletzen Sie vorsätzlich eine Ihrer in E.1.1 bis E.1.6 geregelten Pflichten, haben Sie keinen Versicherungsschutz. Verletzen Sie Ihre Pflichten grob fahrlässig, sind wir berechtigt, unsere Leistung in einem der Schwere Ihres Verschuldens entsprechenden Verhältnis zu kürzen. Weisen Sie nach, dass Sie die Pflicht nicht grob fahrlässig verletzt haben, bleibt der Versicherungsschutz bestehen.
OLG: Kaskoversicherung muss zahlen, da Versicherungs-AKB eingehalten waren
Das Landgericht hatte einen Anspruch des Mannes gegen die Versicherung verneint. Das OLG Karlsruhe kam zu einer anderen Einschätzung. Der Mann hat wegen der Beschädigung seines Fahrzeugs einen Anspruch aus dem Kaskoversicherungsvertrag in Höhe von 15.150 EUR, da er die Versicherungsbedingungen nicht verletzt eingehalten habe.
OLG sah keinen Verstoß gegen die Wartepflicht
Nach Auffassung des Gerichts hat der Mann nicht gegen die Wartepflicht im Sinne des § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB verstoßen.
Ist kein Feststellungsberechtigter anwesend, so verlange zwar § 142 Abs. 1 Nr. 2 StGB, dass „eine nach den Umständen angemessene Zeit gewartet“ wird, bevor der Unfallort verlassen wird. Der Umfang der Wartepflicht beurteile sich nach den Maßstäben der Erforderlichkeit und der Zumutbarkeit.
Was eine angemessene Wartezeit ist
Was eine angemessene Wartezeit sei, sei abhängig von dem voraussichtlichen Eintreffen feststellungsbereiter Personen. Dies sei unter anderem abhängig von
- dem Unfallort,
- der Verkehrsdichte
- und der Tageszeit.
Auch die Höhe des Schadens spielt eine Rolle.
Je größer der Schaden, desto länger ist grundsätzlich die Wartefrist.
Es gibt nach einem Unfall keine stets geltende Mindestwartezeit
Dass stets eine Mindestwartezeit eingehalten werden müsse, sah das Gericht nicht. Im Einzelfall könne eine Wartepflicht entfallen, wenn beispielsweise vorrangige persönliche Gründe wie eine ärztliche Versorgung des Unfallbeteiligten bestehen. Ausgehend von diesen Grundsätzen bestand für den mit einer Kopfverletzung belasteten Unfallfahrer keine Wartepflicht, so befand das Gericht. Deshalb stellte das sofortige Entfernen des Mannes vom Unfallort auch keine Obliegenheitsverletzung dar: Es sei dem Mann nicht zumutbar gewesen, eine Wartezeit einzuhalten.
Am Unfallort sei nicht mit einem zufälligen Eintreffen feststellungsbereiter Personen zu rechnen gewesen. Auch der an dem Verkehrsschild entstandene Schaden, der mit 200 EUR nicht substanziell über der Bagatellgrenze lag, machte kein Verbleiben am Unfallort nötig.
→ Versicherungsrechtlich wird die Bagatellgrenze bei maximal 100,00 EUR angesetzt, in der strafrechtlichen Rechtsprechung bei maximal 50,00 EUR (vgl. OLG Nürnberg, Beschluss vom 24.01.2007 - 2 St OLG Ss 300/06).
Verlassen des Unfallortes zur Abklärung des Gesundheitszustandes zulässig
Der Unfallfahrer habe dagegen ein berechtigtes Interesse gehabt, den Unfallort unmittelbar nach der Kollision zu verlassen. Er hatte erhebliche Kopfverletzungen erlitten. Selbst wenn er sich nicht, wie von ihm behauptet, in einem schuldausschließenden Schockzustand befunden habe, stand er doch unter dem Eindruck eines gravierenden Unfallereignisses.
Der Unfallhergang und die Wunde am Kopf hätten durchaus Anlass zu der Befürchtung weitergehender Kopfverletzungen geben können. In dieser Situation durfte er zur ärztlichen Abklärung seines Gesundheitszustandes den Unfallort sogleich verlassen.
In einem solchen Falle trete das Aufklärungsinteresse der Versicherung – etwa im Hinblick auf die Prüfung einer Leistungsfreiheit wegen einer Herbeiführung des Unfalls im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit – zurück.
Versicherung konnte Verstoß gegen Obliegenheit nicht nachweisen
Die Beweislast für einen Verstoß gegen die Obliegenheit in E.1.1.3 durch Nichteinhaltung der Wartepflicht liegt beim Versicherer. Dem sei es nicht gelungen, die plausible Darlegung des Unfallfahrers zu widerlegen.
(OLG Karlsruhe, Urteil v. 06.08.2020, 12 U 53/20)
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Anmerkung: Wartepflicht gegenüber der Versicherung?
Es wird die Auffassung vertreten, wonach in der Fassung des E.1.3 AKB 2008 eine eigenständige versicherungsrechtliche Wartepflicht vereinbart sein soll, welche unabhängig von der Strafbarkeit des § 142 StGB bestehen und über diese hinausgehen soll (z.B. Tomson/Kirmse, VersR 2013, 177), sodass der Versicherungsnehmer unter Umständen bis zum Eintreffen der Polizei oder sogar unbegrenzt warten müsste, selbst wenn kein Fremdschaden entstanden ist.
Diese Auffassung übersieht jedoch, dass nach der ständigen Rechtsprechung des BGH Versicherungsbedingungen entsprechend dem Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers auszulegen sind. Dieser wird auch bei der Formulierung gem. E.1.3 AKB 2008 den Bezug zur Straftat des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) erkennen und daher nicht davon ausgehen, dass von ihm versicherungsrechtlich mehr verlangt wird als strafrechtlich. Dementsprechend ist auch bei der Obliegenheit des E.1.3 AKB 2008 davon auszugehen, dass eine Aufklärungspflichtverletzung nur bei Erfüllung des Straftatbestandes des § 142 StGB vorliegt (OLG München; OLG München, Urteil v. 26.02.2016, 10 U 2166/15 zfs 2016).
(Autoren: RAe Hillmann III/ Schneider in Deutsches Anwalt Office Premium)
Hintergrund: Was sind die Konsequenzen bei einer Fahrer-/Unfallflucht?
Nach § 142 Abs. 1 StGB macht sich ein Unfallbeteiligter strafbar, wenn er sich sofort oder nach einer den Umständen angemessenen Wartezeit vom Unfallort entfernt, ohne die erforderlichen Feststellungen zu ermöglichen.
Wurde eine Unfallflucht nach § 142 StGB begangen, so ist der Täter in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen (§ 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB) mit der Folge, dass ihm die Fahrerlaubnis vorläufig zu entziehen ist (§ 111a Abs. 1 StPO).
Gem. § 142 Abs. 4 StGB kann das Gericht im Fall einer tätigen Reue in Form von Nachmeldung des Unfalls die Strafe mildern oder von ihr absehen ,wenn ein Unfall außerhalb des fließenden Verkehrs einen nicht bedeutenden Sachschaden zur Folge hat. Der Schaden lag vorliegend jedoch über der Unerheblichkeitsgrenze von 1.300 EUR.
Obliegenheiten im Versicherungsrecht
Es wird zwischen gesetzlichen und vertraglichen Obliegenheiten unterschieden. Die gesetzlichen Obliegenheiten sind im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geregelt. Sie gelten für alle Versicherungssparten.
Gesetzlichen Obliegenheiten: Die wichtigsten gesetzlichen Obliegenheiten sind die vorvertragliche Anzeigepflicht (§§ 16 bis 22 VVG), Unterlassungs- und Anzeigepflichten im Zusammenhang mit einer Gefahrenerhöhung (§§ 23-30 VVG), die Obliegenheit zur Anzeige eines Versicherungsfalls (§ 33 VVG) und die Auskunfts- und Belegpflicht (§ 34 VVG).
Vertragliche Obliegenheiten: In den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) werden die vertraglichen Obliegenheiten vereinbart. § 28 Versicherungsvertragsgesetz regelt die Rechtsfolgen, die eintreten können, falls eine vertragliche Obliegenheit verletzt wird. Obliegenheiten müssen transparent formuliert sein (§ 307 Abs. 1 Satz 2 BGB). Das bedeutet, dass der Versicherungsnehmer deutlich erkennen kann, was von ihm verlangt wird und unter welchen Umständen er seinen Versicherungsschutz verlieren kann. Zudem dürfen Obliegenheiten den Versicherungsnehmer nicht unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 2 BGB).
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