Kapitalanlegerverfahren gegen VW und Porsche wegen Diesel-Publizitätspflichtverletzung
Nach der mühsam erzielten Einigung des VW-Konzerns mit über 240.000 VW-Kunden im Rahmen der gegen VW erhobenen Musterfeststellungsklage muss Volkswagen sich gegen eine nicht unbedeutende Zahl von Kapitalanlegern in einem Kapitalanlegermusterverfahren nach dem KapMuG vor dem OLG Braunschweig zur Wehr setzen.
Anleger rügen Verletzung der Publizitätspflicht
Die Braunschweiger Kapitalanlegermusterklage richtet sich sowohl gegen VW als Musterbeklagte als auch gegen die Porsche Holding SE als weitere Musterbeklagte. Der Vorwurf gegen VW und Porsche lautet, die Unternehmen hätten den Kapitalmarkt zu spät über die Probleme mit der in den Motor des Typs EA 189 eingebaute Software zur Manipulation der Abgaswerte auf dem Rollenprüfstand informiert.
In dem dortigen Kapitalanlegermusterverfahren begehrt die Deka Investment GmbH die verbindliche Feststellung einer rechtswidrigen Verletzung der Publizitätspflicht sowohl durch die Volkswagen AG als auch durch die Porsche Automobil Holding SE.
Ad-hoc-Meldung von VW nach Ansicht der Aktionäre zu spät
VW hatte am 22.9.2015 eine Ad-hoc-Meldung veröffentlicht, nach der aufgrund bisheriger interner Prüfungen weltweit rund 11 Millionen Fahrzeuge mit den Dieselmotoren des Typs EA 189 Auffälligkeiten beim Stickoxidausstoß aufwiesen.
Man beabsichtige deshalb - so die Meldung -, im dritten Quartal des laufenden Geschäftsjahres eine ergebniswirksame Rückstellung von rund 6,5 Milliarden Euro vorzunehmen. Bereits ab Mitte September brachen die Aktienkurse der Volkswagen AG dramatisch ein.
Auch Porsche im Visier der Anleger
Ein ähnlicher Ablauf ereignete sich bei der in Stuttgart ansässigen Porsche SE, die als Holding-Gesellschaft mit rund 52 % der Stimmrechte an der Volkswagen AG beteiligt ist. Auch die Porsche Holding SE informierte den Kapitalmarkt in einer Ad-hoc-Meldung am 22.9.2015, dass infolge der Kapitalbeteiligung an der Volkswagen AG auch bei Porsche ein das Ergebnis belastender Effekt zu erwarten sei. Auch die Aktien der Porsche SE brachen bereits ab Mitte September 2015 dramatisch ein.
Eigenes Kapitalanlegermusterverfahren gegen Porsche vor dem LG/OLG Stuttgart
Nicht wenige Porsche-Aktionäre waren der Auffassung, dass die Bündelung der Kapitalanlegermusterverfahren gegen Porsche und VW vor dem LG/OLG Braunschweig weder sachgerecht noch zulässig ist. Sie strengten daher ein eigenständiges Kapitalanlegermusterverfahren vor dem LG/OLG Stuttgart an. In dem Braunschweiger Verfahren hat das OLG Braunschweig bereits in einem Teilmusterentscheid entschieden, dass für Klagen wegen der Verletzung von Publizitätspflichten jeweils die Landgerichte am Sitz der jeweiligen Konzerngesellschaften zuständig sind, das sind für VW das LG Braunschweig und für Porsche das LG Stuttgart (OLG Braunschweig, Beschluss v. 12.8.2019, 3 Kap 1/16).
Braunschweiger Verfahren durch Corona Pandemie verzögert
Infolge der Corona-Pandemie wurden dann bereits für April und Juni vom OLG angesetzte Termine aufgehoben und gleichzeitig weitere 8 Verhandlungstermine in dem Zeitraum September bis Dezember 2020 festgesetzt. Thema der Verhandlungen im September soll die Kursrelevanz der von VW (zu spät?) herausgegebenen Kapitalmarktinformationen sein.
OLG Stuttgart erklärt eigenständiges Verfahren in Stuttgart für unzulässig
In dem Kapitalanlegermusterverfahren vor dem OLG Stuttgart drängen Porsche-Aktionäre auf Feststellung der Verletzung von Publizitätspflichten der Porsche Holding SE wegen der nach ihrer Auffassung zu späten Ad-hoc-Meldung. Das OLG Stuttgart hat im Hinblick auf das Kapitalanlegermusterverfahren gegen VW vor dem OLG Braunschweig das weitere Kapitalanlegermusterverfahren in Stuttgart für unzulässig erklärt. Zwar gehe es in Stuttgart - anders als in Braunschweig - nicht um die Publizitätspflichten von VW sondern um die Publizitätspflichten der Porsche Holding SE. Eine Verletzung der Publizitätspflichten durch Porsche komme aber nur aufgrund der Kapitalbeteiligung an VW in Betracht. Deshalb betreffen nach Auffassung des OLG Stuttgart beide Verfahren den gleichen Lebenssachverhalt.
Gemäß der Sperrwirkung des § 7 KapMuG sei mit Erlass eines Vorlagebeschlusses bei einem Gericht (Braunschweig) die Einleitung weiterer Musterverfahren in der gleichen Sache ausgeschlossen (OLG Stuttgart, Beschluss v. 27.3.2019, 20 Kap 2 /17).
Teilerfolg der Kapitalanleger vor dem BGH
Die gegen den Beschluss des OLG Stuttgart eingereichte Rechtsbeschwerde der Kapitalanleger war erfolgreich. Der BGH hob die Entscheidung des OLG auf. Die Sperrwirkung des § 7 KapMuG gilt nach der Entscheidung des BGH nur für Feststellungsziele, über die in einem bereits eingeleiteten Musterverfahren mit Bindungswirkung entschieden wird. Bindungswirkung entfalte die Entscheidung in einem bereits eingeleiteten Musterverfahren für ein anderes Verfahren aber nur dann, wenn dieselbe öffentliche Kapitalmarktinformation betroffen sei. Kapitalmarktinformationen der Volkswagen-AG seien aber grundsätzlich verschieden von Kapitalmarktinformationen der Porsche Holding SE, da sie jeweils unterschiedliche Kapitalmarktsubjekte beträfen. Demgemäß hat nach der Entscheidung des BGH das Kapitalanlegermusterverfahren vor dem OLG Stuttgart neben dem Kapitalanlegermusterverfahren vor dem OLG Braunschweig Bestand.
(BGH, Beschluss v. 16.6.2020, II ZB 10/19).
Hintergrund: Kapitalanlegermusterverfahren
Das Musterverfahren in kapitalmarktrechtlichen Streitigkeiten nach dem KapMuG ist grundsätzlich mit der Musterfeststellungsklage für Verbraucher verwandt, unterscheidet sich in der Ausgestaltung aber beträchtlich. Das KapMuG ermöglicht eine einheitliche Entscheidung von gleich gelagerten Rechtsstreitigkeiten durch eine Musterentscheidung zu einzelnen Rechtsfragen in einem einzigen Musterverfahren, die dann die übrigen Gerichte bindet. Betroffen sind im wesentlichen Schadensersatzansprüche wegen falscher oder irreführender oder unterlassener öffentlicher Kapitalmarktinformationen.
Durch einen Musterverfahrensantrag gemäß § 3 KapMuG kann im ersten Rechtszug beim zuständigen LG die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens anspruchsbegründender oder anspruchsausschließender Voraussetzungen oder die Klärung von Rechtsfragen mit Bindungswirkung für andere, gleich gelagerte Fälle und Verfahren begehrt werden.
Nimmt das Gericht einen solchen Musterverfahrensantrag an, so werden Anträge mit den gleichen Feststellungszielen in einem Klageregister erfasst, § 4 KapMuG. Gemäß § 6 KapMuG werden die Feststellungsziele durch Vorlagebeschluss dem übergeordneten OLG vorgelegt. Mit Erlass des Vorlagebeschlusses ist gemäß § 7 KapMuG die Einleitung eines weiteren Musterverfahrens in der gleichen Angelegenheit ausgeschlossen.
Das OLG bestimmt dann aus verschiedenen Beteiligten gemäß § 9 KapMuG einen Musterkläger, einen Musterbeklagten sowie die Beigeladenen. In einem öffentlichen Klageregister können dann weitere Kapitalanleger innerhalb einer Frist von sechs Monaten gemäß § 10 KapMuG ihre Ansprüche zum Musterverfahren anmelden. Für die Anmeldung besteht Anwaltspflicht. Das Verfahren mündet schließlich in einem Musterentscheid des OLG oder in einem Vergleich, der durch das OLG zu genehmigen ist, § 17, 18 KapMuG. Ähnlich wie bei der Verbrauchermusterfeststellungsklage haben der Musterentscheid und der Vergleich Bindungswirkung für alle, die sich an dem Verfahren beteiligt haben bzw. die nicht aus dem Vergleich ausgetreten sind.
Hintergrund: Diesel-Abgasmanipulation
Dieselgate schlug hohe Wellen und beschäftigte außer den Kapitalanlegern auch jahrelang Hersteller, Gerichte und Diesel-Eigentümer. Ob die von VW angebotene Umrüstung durch eine Ergänzungssoftware eine angemessene Nachbesserung ist, war lange umstritten. Viele Käufer wollten die Fahrzeuge nicht behalten oder zumindest Schadensersatz wegen des Minderwertes.
Gerichte waren in der Frage der Dieselfahrzeuge erstaunlich uneinig
Die Gerichte beantworten die Frage, ob die in den Dieselfahrzeugen eingebaute „Abgas-Manipulations-Software“ als rücktrittsbegründender Mangel der Kaufsache zu bewerten ist, sehr unterschiedlich.
Statistik zu Diesel-Entscheidungen
Zur Rechtsprechungspraxis in Deutschland hat „wallstreet-online“ Zahlen aus einer Studie der Universität Regensburg zum Dieselskandal veröffentlicht, wonach 97 von 115 Landgerichten in Deutschland VW und andere Fahrzeughersteller bereits zu Schadenersatz in Fällen des Einbaus einer verbotenen Abschalteinrichtung bei Dieselfahrzeugen verurteilt haben.
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