Wegen abgasmanipuliertem Diesel können Kunden VW auch in anderen EU-Ländern verklagen
Gerichtlichen Streitigkeiten um Schadensersatzzahlungen gegenüber VW wegen des Einbaus unzulässiger Abschaltvorrichtungen in Dieselfahrzeugen beschäftigen nicht nur in Deutschland, sondern auch im europäischen Ausland die Gerichte. Nach einer Grundsatzentscheidung des EuGH sind solche Klagen vor den Gerichten der Mitgliedstaaten zulässig.
Der österreichische VKI klagt aus abgetretenem Recht von 574 VW-Dieselkäufern
Der österreichische Verein für Konsumenteninformation (VKI), eine gemeinnützige Verbraucherorganisation, hatte vor dem Landgericht Klagenfurt eine Schadensersatzklage gegen die deutsche Volkswagen-AG, gerichtet unter anderem auf Schadenersatz in Höhe von 3.611.806 Euro anhängig gemacht. Der klagende Verein machte nach österreichischem Recht deliktische und quasideliktische Ansprüche für 574 Verbraucher aus abgetretenem Recht gegen die Volkswagen AG geltend.
Sämtliche der Klage zu Grunde liegende Kaufverträge waren vor dem 18.9.2015 geschlossen worden. Zu diesem Zeitpunkt war der Dieselskandal öffentlich geworden.
Europäische Typengenehmigung mit Manipulations-Software erschlichenen
Die Autokäufer hatten in Österreich neue oder gebrauchte Fahrzeuge mit dem von VW hergestellten Motor des Typs EA 189 gekauft. Dieser Motortyp war mit einer sogenannten Abgas-Abschalte-Vorrichtung versehen, einer Software, die die Prüfstandsituation eines Fahrzeugs erkannte und dort einen Abgasausstoß im Rahmen der vorgeschriebenen Höchstwerte anzeigte, während unter realistischen Bedingungen auf der Straße die tatsächlich emittierten Schadstoffe die zulässigen Obergrenzen um ein Vielfaches überschritten.
Durch diese Abgasmanipulation hatte Volkswagen die Typengenehmigung für den betreffenden Motor gemäß den Zulassungsvorschriften der Union erhalten (EG-VO Nr. 715/2007 - Euro 5 und Euro 6 -).
Geminderter Fahrzeugwert als Schaden
Vor dem LG Klagenfurt machte der VKI geltend, die Käufer der Fahrzeuge hätten durch die Manipulationssoftware einen Schaden erlitten. Dieser bestehe darin, dass sie mit Erfüllung der Kaufverträge Fahrzeuge erhalten hätten, die sie bei Kenntnis der Manipulationssoftware nicht oder nur zu einem deutlich, mindestens um 30 % geminderten Kaufpreis erworben hätten. Dies führe zu einem nach österreichischem Recht ersatzpflichtigen Schaden.
LG Klagenfurt zog alleinige Zuständigkeit deutscher Gerichte in Erwägung
Der verklagte Autohersteller VW rügte die fehlende internationale Zuständigkeit des österreichischen Gerichts in Klagenfurt. Nach Auffassung des LG hing die Frage der Zuständigkeit davon ab, an welchem Ort sich der infolge der Abgasmanipulation entstandene Schaden verwirklicht hat. Dieser könnte, da die Fahrzeuge in Deutschland hergestellt wurden, bereits dort mit Fertigstellung der Fahrzeuge endgültig eingetreten sein. In diesem Fall wären möglicherweise allein deutsche Gerichte für die Entscheidung über Schadensersatzansprüche zuständig.
Vorlage der Zuständigkeitsfrage an den EuGH
Das LG ersuchte den EuGH um Beantwortung der Frage, ob Art. 7 Nr. 2 der EU-VO 1215/2012 über die Gerichtszuständigkeit innerhalb der EU dahin auszulegen ist, dass sich der Ort der Verwirklichung des Schadens in einem Fall, in dem Fahrzeuge von ihrem Hersteller mit einer den Abgasausstoß manipulierenden Software ausgestattet sind, bereits am Ort der Fahrzeugherstellung oder erst in dem Mitgliedstaat liegt, in den das Fahrzeug ausgeliefert wurde.
Gerichte am Herstellungsort und Auslieferungsort zuständig
Der EuGH verwies in Beantwortung der Rechtsfrage auf seine ständige Rechtsprechung, dass der Ort, an dem ein schädigendes Ereignis eingetreten ist
- sowohl der Ort der Verwirklichung des Schadenserfolgs
- als auch den Ort des für den Schaden ursächlichen Geschehens liegt,
- so dass der Beklagte in diesen Fällen nach der Wahl des Klägers vor dem Gericht eines dieser beiden Orte verklagt werden kann (EuGH, Urteil v. 16.7.2009, C-189/08; EuGH, Urteil v. 29.7.2019, C-451/18).
Schadensverwirklichung mit Fahrzeugkauf
Für den anhängigen Fall folgerte der EuGH aus dieser Rechtsprechung, dass der Ort des Eintritts des schädigenden Ereignisses der Herstellungsort des Fahrzeuges, also Deutschland ist. Bereits dort habe dem Fahrzeug ein Mangel angehaftet. Verwirklicht habe sich der Schaden aber erst beim österreichischen Käufer. Erst in Österreich habe der Käufer ein Fahrzeug erhalten, das in seinem Wert hinter dem nach den geschlossenen Kaufverträgen vorausgesetzten Wert deutlich zurückblieb. Somit sei Österreich der Ort der Schadensverwirklichung.
Minderwert ist materieller Primärschaden
Ergänzend stellte der EuGH fest, dass der Schaden des Letzterwerbers kein nur mittelbarer Schaden, sondern ein unmittelbarer Primärschaden und auch kein reiner Vermögensschaden, sondern ein materieller Schaden ist. Nur im Fall eines mittelbaren Vermögensschadens wäre Art. 5 Nr. 3 des Brüsseler Übereinkommens einschlägig, wonach Schäden, die nur die mittelbare Folge eines ursprünglich von anderen Rechtssubjekten erlittenen Schadens sind, keine eigene gerichtliche Zuständigkeit begründen können (EuGH, Urteil vom 11.1.1990, C-220/88).
EuGH lässt keine Zweifel am Vorliegen eines Schadens
Der EuGH machte darüber hinaus deutlich, dass vorbehaltlich der vorzunehmenden Würdigung des Sachverhalts durch das LG Klagenfurt der Schaden in der Differenz zwischen dem Preis, den der Erwerber jeweils für das erworbene Fahrzeug gezahlt hat und dessen infolge des Einbaus der Schummel-Software geminderten Wertes besteht.
VW musste mit Klagen im EU- Ausland rechnen
Nach der Europäischen Verordnung zur Zuständigkeit der Gerichte EU-VO 1215/2012 ist die Vorhersehbarkeit der Inanspruchnahme vor ausländischen Gerichten durch mögliche Beklagte ein weiteres Kriterium für die Bestimmung der Zuständigkeit. Auch hierzu vertrat der EuGH eine klare Auffassung. Jeder in einem Mitgliedstaat niedergelassene Autohersteller, der unzulässige Manipulationen an Fahrzeugen vornimmt, die in anderen Mitgliedstaaten in den Verkehr gebracht werden, müsse vernünftigerweise erwarten, dass er auch vor den Gerichten dieser Staaten verklagt werden kann.
LG Klagenfurt ist für Klage gegen VW zuständig
Mit diesen Erwägungen kam der EuGH zum Ergebnis, dass die Europäische Verordnung über die Zuständigkeit der Gerichte dahingehend auszulegen ist, dass die Zuständigkeit der Gerichte in dem Mitgliedstaat gegeben ist, in dem sich der durch den Einbau einer Manipulationssoftware bewirkte Schaden beim Käufer verwirklicht hat. Damit ist das LG Klagenfurt also für die Entscheidung über die Schadenersatzklage des VKI zuständig. Entsprechendes gilt für Käufer-Klagen in anderen EU-Ländern.
(EuGH, Urteil v. 9.7.2020, C 343/19).
Hintergrund: Never ending Diesel-Story
Dieselgate schlug hohe Wellen und beschäftigte jahrelangHersteller, Gerichte und Diesel-Eigentümer. Ob die von VW angebotene Umrüstung durch eine Ergänzungssoftware eine angemessene Nachbesserung ist, war lange umstritten. Viele Käufer wollten die Fahrzeuge nicht behalten oder zumindest Schadensersatz wegen des Minderwertes.
Gerichte waren in der Frage der Dieselfahrzeuge erstaunlich uneinig
Die Gerichte beantworten die Frage, ob die in den Dieselfahrzeugen eingebaute „Abgas-Manipulations-Software“ als rücktrittsbegründender Mangel der Kaufsache zu bewerten ist, sehr unterschiedlich.
Statistik zu Diesel-Entscheidungen
Zur Rechtsprechungspraxis in Deutschland hat „wallstreet-online“ Zahlen aus einer Studie der Universität Regensburg zum Dieselskandal veröffentlicht, wonach 97 von 115 Landgerichten in Deutschland VW und andere Fahrzeughersteller bereits zu Schadenersatz in Fällen des Einbaus einer verbotenen Abschalteinrichtung bei Dieselfahrzeugen verurteilt haben.
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