Grenzüberschreitende Sitzverlegung – und sie geht doch?!
Die VALE Costruzioni SRL, eine GmbH italienischen Rechts, beabsichtigte ihre gesamte Geschäftstätigkeit nach Ungarn zu verlagern. Dort sollte sie als ungarische GmbH (Kft.) fortbestehen. Hierfür wurde eine ungarische GmbH (Kft.) neu gegründet, die bei ihrer Anmeldung die italienische Gesellschaft als ihre Rechtsvorgängerin angab. Dieser wurde die Eintragung in das Budapester Handelsregister verwehrt, da eine in Italien gegründete und eingetragene GmbH aufgrund der in Ungarn geltenden Rechtsvorschriften ihren Gesellschaftssitz nicht nach Ungarn verlegen und auch nicht als Rechtsvorgängerin einer ungarischen GmbH eingetragen werden kann.
Entscheidung des EuGH (C-378/10)
In seinem Urteil stellt der EuGH zunächst klar, dass für die Gründung und Funktionsweise einer Gesellschaft die nationalen Rechtsvorschriften maßgeblich sind. Die Niederlassungsfreiheit gebietet es jedoch, nationale und grenzüberschreitende Sachverhalte gleich zu behandeln. Daher sei eine inländische Regelung mit der Niederlassungsfreiheit unvereinbar, wenn sie für inländische Gesellschaften die Möglichkeit einer formwechselnden Sitzverlegung vorsehe, einer ausländischen Gesellschaft diese Möglichkeit durch Umwandlung in eine inländische Gesellschaftsform jedoch verwehre. Der aufnehmende Mitgliedsstaat (hier: Ungarn) sei jedoch befugt, die für einen solchen Umwandlungsvorgang maßgeblichen innerstaatlichen Voraussetzungen und Regelungen zu bestimmen und gegenüber den Parteien des grenzüberschreitenden Umwandlungsvorgangs zur Anwendung zu bringen, etwa gläubigerschützende Vorschriften. Allerdings müsse bei der Anwendung inländischen Rechts der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz gewahrt bleiben, der die Ungleichbehandlung von in- und ausländischen Gesellschaften verbietet und die gebührende Berücksichtigung von Dokumenten der Behörden des Herkunftsmitgliedstaats gebietet.
Anmerkung
Mit seiner Entscheidung schreibt der EuGH seine jüngere Rechtsprechung zu Gunsten der Mobilität europäischer Gesellschaften fort: Mit „Überseering“ und „Inspire Art“ wurde der Zuzug u.a. von Limiteds nach Deutschland zulässig. „Cartesio“ verbot die Verhinderung des Wegzugs und mit „SEVIC“ griff der EuGH der inzwischen in Kraft getretenen Verschmelzungsrichtlinie vor, die grenzüberschreitende Verschmelzungen innerhalb der EU ermöglicht. Nach der nun ergangenen Entscheidung in Sachen „VALE“ ist grundsätzlich klar, dass alle grenzüberschreitenden Umwandlungsvorgänge (auch Sitzverlegungen) den Schutz der Niederlassungsfreiheit genießen. Dabei wird es den Mitgliedstaaten wenig nützen, sich auf Haarspalterei a la „Es gibt in Deutschland keine formwechselnde Sitzverlegung; dies sind zwei getrennte Vorgänge.“ zu berufen. Deutschland und die übrigen Mitgliedstaaten täten gut daran, auf EU-Ebene seit Jahren nicht vorankommende Projekte wie die Sitzverlegungsrichtlinie nun endlich voranzutreiben und abzuschließen. Parallel dazu sollten im nationalen Recht die Voraussetzungen für die Beteiligung von EU-Gesellschaften an allen Umwandlungsformen geschaffen werden – in Deutschland ist dies bislang (in Umsetzung der Verschmelzungsrichtlinie) nur für grenzüberschreitende Verschmelzungen geschehen.
Für den Rechtsanwender bringt das EuGH-Urteil außer Hoffnung auf die mittelfristige Schaffung entsprechender Umwandlungsmöglichkeiten wenig. Denn kaum jemand wird bereit sein, sich ohne detaillierte nationale Ausführungsvorschriften und allein auf die Niederlassungsfreiheit und den EuGH gestützt, auf das Risiko einer grenzüberschreitenden Umwandlung einzulassen. Dies ist häufig auch gar nicht notwendig, denn mit den Möglichkeiten der Societas Europaea (SE) zur Sitzverlegung und der bereits rechtssicheren, weil im nationalen Recht implementierten grenzüberschreitenden Verschmelzung stehen Instrumente bereite, die – zwar mit einigem zusätzlichen Aufwand – rechtssicher grenzüberschreitende Umgestaltungen ermöglichen.
Ein zweiter Aspekt, der der ungehinderten Anwendung grenzüberschreitender Umwandlungen im Wege steht, ist die aus Sicht des Rechtsanwenders unbefriedigende steuerliche Situation. Eine konkrete Regelung sieht das EU-Recht in Form der Fusionsrichtlinie nur für grenzüberschreitende Verschmelzungen und die Sitzverlegung der SE vor. Andere Umwandlungsvorgänge sind nicht erfasst, so dass man sich diesbgzl. nur auf die Niederlassungsfreiheit und Kapitalverkehrsfreiheit des EU-Vertrags berufen kann. Problematisch ist weiterhin, dass selbst die Fusionsrichtlinie die Steuerneutralität nur insoweit sicherstellt, wie im Wegzugsstaat ein Besteuerungsrecht erhalten bleibt, z.B.in Form und bzgl. einer zurückbleibenden Betriebsstätte. Ist dies nicht gegeben, z.B. bei dem Hauptsitz zuzuordnenden Beteiligungen, Marken, Patenten etc. stellt sich die Frage der sofortigen Besteuerung stiller Reserven. Der EuGH ist in diesem Punkt – wohl unter dem Druck der Mitgliedstaaten – in letzter Zeit etwas zurückhaltender mit der ungehemmten Anwendung der Grundfreiheiten des EU-Vertrags und dem Verwerfen diesen entgegenstehender, nationaler Steuerregeln geworden. Es ist daher stets im Einzelfalls sorgfältig zu prüfen, welche Steuerfolgen die angedachte grenzüberschreitende Umwandlung konkret hat.
Rechtsanwälte Dr. Stefan Lammel, Jan Henning Martens, Friedrich Graf von Westphalen & Partner, Freiburg
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