Entscheidungsstichwort (Thema)
Hinterlegung des Sozialversicherungsausweises und Entgeltfortzahlung. Abweisung der Klage als derzeit unbegründet
Leitsatz (amtlich)
§ 100 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 SGB IV gibt dem Arbeitgeber auch dann nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht, wenn der Arbeitnehmer den Sozialversicherungsausweis erst nach Ende der Arbeitsunfähigkeit und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorlegt (Bestätigung von BAG Urteil vom 14. Juni 1995 – 5 AZR 78/94 – EEK I/1160).
Normenkette
SGB IV §§ 100, 99, 95; EFZG §§ 7, 12; ZPO § 767 Abs. 2
Verfahrensgang
Tenor
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Verpflichtung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
Der Kläger war seit dem 27. Juli 1994 bei der Beklagten als Elektromonteur/Helfer zu einem Stundenlohn von 14,00 DM beschäftigt. Ziff. II. 11. des Arbeitsvertrages vom 25. Juli 1994 hatte folgenden Wortlaut:
“Sofern der Arbeitnehmer durch einen ihn behandelnden Arzt arbeitsunfähig geschrieben wurde, steht dem Arbeitnehmer Fortzahlung des Arbeitsentgelts bis zur Dauer von 6 Wochen zu. Bei Krankheit und Unfall oder sonstiger Arbeitsverhinderung muß die Betriebsleitung unverzüglich, möglichst am gleichen Tag, bei Angabe der Gründe benachrichtigt werden. Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist innerhalb von 3 Tagen beim Arbeitgeber vorzulegen. Der Arbeitnehmer muß den Arbeitgeber zwei Arbeitstage vor Wiederaufnahme der Arbeit hiervon unterrichten und seine Arbeitskraft anbieten, bei nicht krankheitsbedingter Arbeitsverhinderung (z.B. Betreuung von Familienangehörigen) besteht kein Lohnanspruch nach § 616 Abs. 1 BGB. Wird der Sozialversicherungsausweis nicht sofort oder erst nach Ende der Krankheit vorgelegt, so entfällt der Lohnfortzahlungsanspruch.”
Ein vom Kläger gegengezeichnetes Rundschreiben lautete auszugsweise:
“Sie sind gesetzlich verpflichtet, ab Beginn des 1. Arbeitstages während der Ausführung ihrer Tätigkeit den Sozialversicherungsausweis mit Ihrem Lichtbild versehen stets mitzuführen und bei Kontrollen vorzulegen.
Weiterhin sind Sie verpflichtet, den Sozialversicherungsausweis am 1. Tag bei Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit bei Ihrem Arbeitgeber zu hinterlegen, den Sie dann bei Wiederaufnahme Ihrer Tätigkeit zurückerhalten. Sollten Sie den Sozialversicherungsausweis ab Beginn Ihrer Arbeitsunfähigkeit nicht vorlegen, so ist der Arbeitgeber berechtigt, die Lohnfortzahlung zu verweigern.
Bis Sie den Original-Sozialversicherungsausweis von der Landesversicherungsanstalt erhalten, können Monate oder auch Jahre vergehen.”
Vom 14. November 1994 bis mindestens zum 25. Dezember 1994 war der Kläger arbeitsunfähig krank. Die erste Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung händigte er am 14. November 1994 dem Niederlassungsleiter aus. Die folgenden Bescheinigungen schickte er per Post. Die Beklagte leistete keine Entgeltfortzahlung. Das Arbeitsverhältnis endete am 12. Januar 1995.
Der Kläger begehrt Entgeltfortzahlung für die Zeit vom 14. November bis zum 25. Dezember 1994 in rechnerisch unstreitiger Höhe von insgesamt 3.360,00 DM brutto. Er hat vorgetragen: Er habe am 14. November 1994 dem Niederlassungsleiter das Original des Sozialversicherungsausweises übergeben. Mit Schreiben vom 4. Januar 1995 habe er dann der Beklagten eine Kopie des Ausweises zugeschickt. Ein Schreiben vom 15. November 1994 mit der Aufforderung, der Beklagten den Sozialversicherungsausweis vorzulegen, habe er nicht erhalten. Daher stehe ihm der Entgeltfortzahlungsanspruch zu.
- Der Kläger hat beantragt:
- Die Beklagte wird verurteilt, an ihn 1.456,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 21. Dezember 1994 zu zahlen.
- Die Beklagte wird verurteilt, an ihn 1.904,00 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich hieraus ergebenden Nettobetrag seit dem 21. Januar 1995 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Der Kläger habe weder das Original des Sozialversicherungsausweises übergeben noch eine Kopie desselben übersandt. Deshalb habe sie ihn auch mit Schreiben vom 15. November 1994 – allerdings ohne Erfolg – nochmals zur Hinterlegung des Ausweises aufgefordert. Nach Sinn und Zweck des § 100 Abs. 2 Satz 2 SGB IV sei sie berechtigt, die Entgeltfortzahlung endgültig zu verweigern.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 8. August 1995 die Klage nach Beweiserhebung als derzeit unbegründet abgewiesen. Die Beklagte habe den ihr obliegenden Beweis dafür erbracht, daß der Kläger den Sozialversicherungsausweis nicht hinterlegt habe. Die Klage sei aber nur derzeit unbegründet; denn der Beklagten stehe ein Leistungsverweigerungsrecht nicht mehr zu, sobald der Kläger seinen – u.U. nach § 96 Abs. 2 SGB IV neu zu beantragenden – Sozialversicherungsausweis vorlege.
Mit anwaltlichem Schreiben vom 30. August 1995, also kurz nach Verkündung des Urteils des Arbeitsgerichts, leitete der Kläger der Beklagten einen 1994 ausgestellten Sozialversicherungsausweis zu.
Gegen das Urteil des Arbeitsgerichts hat die Beklagte Berufung eingelegt mit dem Ziel, eine unbeschränkte Klageabweisung zu erreichen. Sie hat vorgetragen: Zumindest dann, wenn der Sozialversicherungsausweis erst nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit und nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgelegt werde, stehe dem Arbeitgeber ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht zu. Eine körperliche Hinterlegung scheide dann schon denknotwendig aus. Darüber hinaus hätten die Parteien im Arbeitsvertrag wirksam vereinbart, daß der Lohnfortzahlungsanspruch entfalle, wenn der Sozialversicherungsausweis nicht sofort oder erst nach Ende der Krankheit hinterlegt werde; § 102 SGB IV sei dispositiv. Das Landesarbeitsgericht hat entsprechend dem Antrag der Beklagten die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision, mit der er erreichen will, daß es bei dem erstinstanzlichen Urteil und damit bei der Abweisung der Klage als derzeit unbegründet bleibt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Wiederherstellung des arbeitsgerichtlichen Urteils. Danach ist die Klage nur derzeit, d.h. zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht, also am 8. August 1995, nicht begründet.
A. Die Zulässigkeit der Berufung gehört zu den auch noch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfenden Prozeßfortsetzungsvoraussetzungen (BAGE 75, 215 = AP Nr. 17 zu § 611 BGB Ausbildungsbeihilfe). Sie ist vom Berufungsgericht zu Recht bejaht worden. Die Beklagte ist durch das arbeitsgerichtliche Urteil beschwert. Denn danach kann der Kläger erneut klagen, ohne daß ihm die Rechtskraft des Urteils entgegengehalten werden kann (ständige Rechtsprechung, vgl. BGHZ 24, 279, 284; BGH Urteil vom 23. Januar 1997 – IX ZR 69/96 – BB 1997, 541 = DB 1997, 621 = NJW 1997, 1003).
Der Kläger hat gegen das Urteil des Arbeitsgerichts kein Rechtsmittel eingelegt. Es ist damit teilweise rechtskräftig geworden. Er kann daher im vorliegenden Verfahren nicht mehr die Verurteilung zur Leistung verlangen, sondern nur noch die Zurückweisung der Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil. Maßgeblich für den zeitlichen Umfang der Rechtskraft ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, der diesem Urteil vorausging (vgl. § 767 Abs. 2 ZPO). Das ist hier der 8. August 1995.
Der Kläger war nicht gehalten, nach der Vorlage des Sozialversicherungsausweises am 30. August 1995 das Urteil des Arbeitsgerichts mit der Berufung anzugreifen, um eine Verurteilung des Beklagten zu erreichen. Der Kläger kann auch erneut klagen. Wird eine Klage als derzeit (bzw. zur Zeit) unbegründet abgewiesen und tritt nach der letzten vorangegangenen mündlichen Verhandlung, aber vor Rechtskraft die Voraussetzung ein, von deren Vorliegen das Bestehen des Anspruchs nach diesem Urteil abhängt, so hat der Kläger die Wahl, ob er diese neue Tatsache im Wege der Berufung in den alten Prozeß einführt, oder ob er einen neuen Prozeß anstrengt. Diese Wahlmöglichkeit wird nicht dadurch eingeschränkt, daß (nur) der Beklagte gegen ein derartiges Urteil Berufung einlegt.
B. Der Kläger hat entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Abs. 1 EFZG, § 611 BGB in Verbindung mit dem Arbeitsvertrag. Ein Recht zur endgültigen Verweigerung der Entgeltfortzahlung ergibt sich weder aus § 100 Abs. 2 Satz 2 SGB IV noch aus dem Arbeitsvertrag.
I. Der Senat hat in drei Urteilen vom 14. Juni 1995 entschieden, daß sich aus § 100 Abs. 2 Satz 2 SGB IV kein endgültiges, sondern nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht ergibt (– 5 AZR 143/94 – BAGE 80, 165 = AP Nr. 1 zu § 100 SGB IV = EzA § 100 SGB IV Nr. 1 = SAE 1996, 62 mit Anm. Misera = JuS 1997, 182 mit Anm. Ruland; ablehnend Böhm, NZA 1995, 1092; – 5 AZR 78/94 – EEK I/1160; – 5 AZR 252/94 – BB 1995, 2018). In zwei Fällen hatte der Arbeitnehmer den Sozialversicherungsausweis zwar verspätet, aber noch während der Zeit der Arbeitsunfähigkeit hinterlegt, in einem Fall erst nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses vorgelegt (– 5 AZR 78/94 –, aaO).
Das Landesarbeitsgericht will von dieser Rechtsprechung abweichen für den Fall, daß der Arbeitnehmer der Hinterlegungspflicht während der Arbeitsunfähigkeit schuldhaft nicht nachkommt, weil die Hinterlegung nach dem Ende der Arbeitsunfähigkeit sinnlos sei und eine Verpflichtung dazu auch nicht mehr bestehe.
II. Diese Ausführungen halten der Revision nicht stand.
1. Wie der Senat in seinen Urteilen vom 14. Juni 1995 ausgeführt hat, ist der Gesetzeswortlaut unklar. § 100 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB IV ist an die Bestimmungen über das Leistungsverweigerungsrecht des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall angelehnt (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG, früher § 5 Satz 1 Nr. 1 LFZG). Danach ist der Arbeitgeber berechtigt, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit zu verweigern, “solange” der Arbeitnehmer die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht vorlegt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ergibt sich daraus nur das Recht des Arbeitgebers, die Lohnfortzahlung zeitweise zu verweigern (grundlegend BAGE 23, 411 = AP Nr. 1 zu § 3 LohnFG).
Schon aufgrund dieser Rechtsprechung liegt es nahe, daß auch § 100 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB IV dem Arbeitgeber nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht einräumt. Daß die Vorschrift so verstehen ist, ergibt sich auch aus der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 11/2807 S. 20; 11/4865 S. 7, 26). Das hat der Senat in den genannten Urteilen vom 14. Juni 1995 näher ausgeführt; darauf wird verwiesen. Dabei hat der Senat berücksichtigt, daß Vorlage und Hinterlegung unterschiedliche Vorgänge sind und im Gesetzgebungsverfahren die unterschiedliche Wirkung der nachträglichen Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Hinterlegung des Sozialversicherungsausweises möglicherweise nicht in vollem Umfang deutlich geworden ist.
2. Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts nicht für die Einräumung eines endgültigen Leistungsverweigerungsrechts. Die Annahme eines endgültigen Leistungsverweigerungsrechts führte zu Ergebnissen, die dem deutlich gewordenen Willen des Gesetzgebers widersprächen.
Ziel des “Gesetzes zur Einführung des Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze” vom 6. Oktober 1989 (BGBl. I S. 1822) ist die Erweiterung und Verbesserung des Instrumentariums zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung, des Leistungsmißbrauchs und der mißbräuchlichen Ausnutzung der Geringfügigkeitsgrenze (BT-Drucks. 11/2807, S. 1). Dieses gesetzgeberische Anliegen wird in § 95 Abs. 1 SGB IV ausdrücklich beschrieben. Es soll dem Arbeitnehmer schwerer gemacht werden, während der ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit einer anderen Beschäftigung nachzugehen. Hat der Arbeitnehmer den Sozialversicherungsausweis beim Arbeitgeber oder Sozialversicherungsträger hinterlegt, so kann der Arbeitnehmer, der bei einem anderen Arbeitgeber arbeiten will, seiner Verpflichtung, bei Beginn der Beschäftigung den Ausweis vorzulegen (§ 99 Abs. 1 Satz 1 SGB IV), nicht nachkommen. Solange der Sozialversicherungsausweis nicht hinterlegt wird, ist er dazu in der Lage. Wird der Sozialversicherungsausweis erst nach dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit hinterlegt, so kann die Hinterlegung für den davorliegenden Zeitraum ihren Zweck nicht mehr erfüllen, und zwar unabhängig davon, ob die Arbeitsunfähigkeit und das Arbeitsverhältnis noch fortbestehen oder aber geendet haben. Der Zweck, Leistungsmißbrauch zu verhindern, könnte am besten erreicht werden, wenn der Arbeitnehmer, der den Ausweis nicht hinterlegt, weder vom Arbeitgeber Entgeltfortzahlung noch von der Krankenkasse Krankengeld erhält. Darin ist dem Landesarbeitsgericht zuzustimmen.
Der Gesetzgeber hat aber für die Bundesanstalt für Arbeit, die Krankenkasse und den Sozialhilfeträger einerseits und den Arbeitgeber andererseits schon im Wortlaut unterschiedliche Regelungen für den Fall getroffen, daß der Arbeitnehmer bzw. Leistungsempfänger der Aufforderung zur Hinterlegung des Sozialversicherungsausweises nicht nachkommt. Die Krankenkasse, wie auch die Bundesanstalt für Arbeit, kann die Leistung bis zur Nachholung der Hinterlegung ganz oder teilweise versagen oder entziehen; der Träger der Sozialhilfe kann die Leistung beschränken (§ 100 Abs. 1 Satz 4 SGB IV). Hierfür ist ein rechtsförmiges Verfahren vorgeschrieben; § 66 Abs. 3 und § 67 SGB I gelten entsprechend (§ 100 Abs. 1 Satz 4 Halbs. 2 SGB IV). Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen “Sozialleistungen … wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf die Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist”. Nach § 67 SGB I kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen, wenn die Mitwirkung nachgeholt wird und die Leistungsvoraussetzungen vorliegen. Für die Verweigerung der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber ist ein derart differenziertes Instrumentarium im Gesetz dagegen nicht vorgesehen, wie § 100 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB IV zeigt.
Wäre der Arbeitgeber bei nicht erfolgter Vorlage des Sozialversicherungsausweises zur endgültigen Leistungsverweigerung berechtigt, so wäre im Regelfall die Krankenkasse zur Zahlung von Krankengeld nach § 44 SGB V verpflichtet. Damit wäre nicht nur ein wesentlicher Zweck des Gesetzes, nämlich die Verhinderung von Leistungsmißbrauch durch krankgeschriebene Arbeitnehmer, nicht erreicht, sondern es käme auch zu einer Verschiebung der Lasten von den Arbeitgebern auf die Krankenkassen: Die Arbeitgeber würden entlastet, die Krankenkassen dagegen zusätzlich belastet, obwohl das Gesetz zur Einführung des Sozialversicherungsausweises und zur Änderung anderer Sozialgesetze in erster Linie eine Entlastung der Kassen und damit der Beitrags- und Steuerzahler bezweckt (BT-Drucks. 11/2807 S. 10). Das hat das Landesarbeitsgericht nicht berücksichtigt.
3. Aus demselben Grund kann auch nicht danach unterschieden werden, ob der Sozialversicherungsausweis noch während der Krankheit oder erst danach hinterlegt oder vorgelegt wird, so wie es das Landesarbeitsgericht befürwortet. Eine solche Unterscheidung hätte zudem zur Folge, daß der Arbeitnehmer, der den Sozialversicherungsausweis trotz Aufforderung bislang nicht hinterlegt hat, an der Verlängerung seiner Krankschreibung interessiert sein müßte, weil er sich durch die Hinterlegung noch während bestehender Arbeitsunfähigkeit den Entgeltfortzahlungsanspruch auch für die Vergangenheit sichern könnte.
Schließlich ist zu beachten, daß die Einräumung eines endgültigen Leistungsverweigerungsrechts den Arbeitnehmer in eine schlechte Beweissituation brächte, und zwar selbst dann, wenn man mit dem Arbeitsgericht dem Arbeitgeber die Beweislast dafür auferlegte, daß der Arbeitnehmer den Ausweis nicht hinterlegt hat. Denn für die Übergabe oder den Erhalt des Ausweises stünden häufig nur Zeugen des Arbeitgebers zur Verfügung.
4. Der Senat hält danach an seiner Auffassung fest, daß § 100 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB IV dem Arbeitgeber nur ein zeitweiliges Leistungsverweigerungsrecht einräumt. Hinterlegt der Arbeitnehmer den Sozialversicherungsausweis verspätet während der Arbeitsunfähigkeit oder legt er ihn nach deren Ende dem Arbeitgeber vor, so ist dieser zur Entgeltfortzahlung auch für die davorliegende Zeit verpflichtet. Hätte der Gesetzgeber ein endgültiges Leistungsverweigerungsrecht anordnen wollen, so hätte er dies deutlich machen müssen. Aus § 100 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB IV ergibt sich diese Rechtsfolge nicht.
III. Ein Recht zur endgültigen Leistungsverweigerung ergibt sich auch nicht aus dem Arbeitsvertrag und dem Rundschreiben der Beklagten. Dabei kann dahinstehen, ob die Bestimmung über den Wegfall des Lohnfortzahlungsanspruchs bei Nichtvorlage des Ausweises bereits bei Abschluß des Arbeitsvertrages Vertragsinhalt geworden ist oder erst später durch Gegenzeichnung des Rundschreibens. An ersterem bestehen erhebliche Zweifel, weil die Vertragsbestimmung – obwohl wesentlich – ohne besondere Hervorhebung an versteckter Stelle steht (vgl. Senatsurteil vom 29. November 1995 – 5 AZR 447/94 – AP Nr. 1 zu § 3 AGB-Gesetz, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Denn dessen ungeachtet wäre eine solche Vereinbarung – wie das Landesarbeitsgericht zutreffend ausgeführt hat – gem. § 134 BGB nichtig. Die Vereinbarung eines endgültigen Leistungsverweigerungsrechts überschreitet den Rahmen des § 100 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 SGB IV. Sie stellt deshalb eine von den Vorschriften des Entgeltfortzahlungsgesetzes zu Lasten des Arbeitnehmers abweichende Vereinbarung dar. Nach § 12 EFZG darf aber insoweit von den Bestimmungen des EFZG nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden.
IV. Damit hat das Arbeitsgericht zu Recht entschieden, daß die Klage nur derzeit, d.h. am 8. August 1995, unbegründet war. Eine Verurteilung zur Entgeltfortzahlung wegen zwischenzeitlicher Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann nur in einem weiteren Prozeß erfolgen.
Bei dieser Sachlage kann wiederum dahinstehen, wie die Regelung über das Verlangen der Hinterlegung des Sozialversicherungsausweises beim Arbeitgeber nach § 100 Abs. 2 Satz 1 SGB IV im übrigen zu verstehen ist, inbesondere ob der Arbeitgeber generell und im Voraus durch Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in den Arbeitsvertrag die Hinterlegung des Sozialversicherungsausweises verlangen kann oder aber nur im Rahmen billigen Ermessens im Einzelfall, z.B. bei hinreichendem Verdacht eines Mißbrauchs, ferner ob ein solches Verlangen erst nach Eintritt krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit erhoben werden darf oder unabhängig hiervon, und schließlich, wie es um die Frage der Mitwirkung oder Mitbestimmung des Betriebsrats bestellt ist.
Unterschriften
Griebeling, Schliemann, Reinecke, Werner, Winterfeld
Fundstellen
Haufe-Index 884866 |
FA 1998, 94 |
NZA 1998, 424 |
RdA 1998, 63 |
ZAP 1998, 18 |
RDV 1998, 111 |