Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsprüfung. Beitragsnachforderung. Säumniszuschlag. Nettolohnhochrechnung. bedingt vorsätzliches Verhalten des Arbeitgebers. Beweiswürdigung. objektive Beweislast für unverschuldete Unkenntnis iSd § 24 Abs 2 SGB 4. Feststellungslast für subjektiven Tatbestand im Rahmen des § 14 Abs 2 S 2 SGB 4

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bedingter Vorsatz iSd § 14 Abs 2 S 2 SGB IV und iSd § 24 Abs 2 SGB IV setzt voraus, dass der Arbeitgeber in einer zumindest laienhaften Bewertung erkannt hat, dass er selbst möglicherweise Arbeitgeber ist, dass eine Abführungspflicht existiert und dass er durch die fehlende Anmeldung oder unvollständige oder unrichtige Angaben die Heranziehung zum Abführen von Sozialversicherungsbeiträgen ganz oder teilweise vermeiden könnte.

2. Ob bedingter Vorsatz oder bewusste Fahrlässigkeit vorliegt, ist durch eine umfassende Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls anhand der konkreten Tatumstände festzustellen. Es kommt darauf an, aus welchen objektiven, äußerlich erkenn- und nachweisbaren Umständen der zulässige Rückschluss auf den subjektiven Tatbestand gezogen werden kann.

3. Bei der Beweiswürdigung kann von Relevanz sein, ob und inwiefern der Arbeitgeber im Geschäftsverkehr erfahren ist. Dabei kann es vorwerfbar sein, wenn ein Arbeitgeber bei Unklarheiten hinsichtlich der versicherungs- und beitragsrechtlichen Beurteilung einer Erwerbstätigkeit darauf verzichtet, die Entscheidung einer fachkundigen Stelle herbeizuführen oder Rechtsrat einzuholen. Jedenfalls bei Kaufleuten, die Arbeitgeber sind, sind auch die im Zusammenhang mit ihrem Gewerbe bestehenden Erkundigungspflichten in Bezug auf die arbeits- und sozialrechtliche Situation in den Blick zu nehmen.

4. Die objektive Beweislast für die unverschuldete Unkenntnis von der Zahlungspflicht iSd § 24 Abs 2 SGB IV trägt derjenige, der sich darauf beruft. Die Feststellungslast für den subjektiven Tatbestand im Rahmen des § 14 Abs 2 S 2 SGB IV trifft im Zweifel den Versicherungsträger, der sich auf die Anwendung der Nettolohnhochrechnung beruft.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 14.02.2022; Aktenzeichen B 12 R 30/21 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 2. Mai 2018 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 06.07.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.09.2016 abgewiesen.

II. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig sind in einem Verfahren nach § 28p Abs. 1 Satz 5 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) die im Rahmen der Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von 19.250,26 Euro für die Zeit vom 01.03.2010 bis 30.09.2010 erhobenen Säumniszuschläge (6.337,50 Euro) sowie die von der Beklagten vorgenommene Nettolohnhochrechnung. Kern des Rechtsstreits ist, ob die Klägerin für den Beigeladenen zu 1, der in der Zeit vom 01.03.2010 bis 30.09.2010 als Fahrer und Leergutkommissionierer beauftragt wurde, schuldhaft keine Sozialversicherungsbeiträge abgeführt hat.

Die Klägerin betreibt eine seit fast 450 Jahren bestehende Brauerei. Inhaber des Unternehmens, das seit 2013 als GmbH & Co. KG und seit 2014 als N-Brauerei KG im Handelsregister (HRA xxx des Amtsgerichts Nürnberg) eingetragen ist, war im streitgegenständlichen Zeitraum der im Jahr 1943 geborene G. Dieser machte nach seinem Schulabschluss eine kaufmännische Lehre im elterlichen Betrieb und absolvierte in W ein Studium zum Diplom-Braumeister. Anschließend arbeitete er im Familienunternehmen, übernahm dieses ab 1980 als Inhaber und ist bis heute im Betrieb tätig. Seit Ende des Jahres 2014 ist sein Sohn G1 Kommanditist der Klägerin und einzelvertretungsberechtigter Geschäftsführer der G VERWALTUNGS GmbH, die neben G persönlich haftende Gesellschafterin der Klägerin ist. Im Jahr 2010 gab es bei der Klägerin vier Abteilungen mit etwa 80 Mitarbeitern, davon ca. 12 Fahrer.

Bei der Klägerin waren in den Arbeitsbereichen Leergutsortierung, Getränkeausfahren und Verräumen von Festmobiliar in den Jahren 2009/2010 sowohl eigene Arbeitnehmer als auch Leiharbeiter, insbesondere von der Leiharbeitsfirma R, eingesetzt. Einer der im Jahr 2009 über R vermittelten Leiharbeiter war der Beigeladene zu 1 (Beigeladener), H. Im Jahr 2010 teilte er dem Logistikleiter der Klägerin (D) mit, dass er ein Nebengewerbe für private Transporte angemeldet habe und bot auf dieser Basis seine Dienste für 13,00 Euro pro Stunde an, womit er unterhalb der damals der Klägerin von R angebotenen Konditionen (15,85 Euro/Stunde) lag. D und der Beigeladene kamen überein, dass der Beigeladene bei erhöhtem Arbeitsanfall als Subunternehmer der Klägerin tätig werden sollte. Seine Tätigkeit erfolgte in der Zeit vom 01.03.2010 bis 03.09.2010.

Der Beigeladene erstellte über den Zeitraum ab 01.03.2010 bis 03.09.2010 in unregelmäßigen Abständen Rechnungen über seine Arbeitseinsätze im Betrieb der Klägerin. Die Rechnungen tragen den Briefkopf "H Logistik L-T-D" mit...

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