Entscheidungsstichwort (Thema)
Zu den Voraussetzungen eines Erlasses nach § 44 SGB II
Leitsatz (amtlich)
1.§ 44 SGB II verpflichtet den Leistungsträger zu einer Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen, bei der die persönlichen und wirtschaftlichen Belange des Schuldners mit dem grundsätzlich gegebenen öffentlichen Interesse an der Einziehung von Forderungen der Leistungsträger abzuwägen sind. Der unbestimmte Rechtsbegriff der "Unbilligkeit" ragt in den Ermessensbereich hinein und ist im Rahmen einer einheitlichen Ermessensentscheidung zu würdigen.
2. Eine Verrechnung nach§ 52 SGB I hemmt die Verjährung nach§§ 50 Abs. 4 Satz 3 SGB X ,52 SGB X .
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Landshut vom 3. November 2021 wird zurückgewiesen.
II. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 22.04.2024 wird abgewiesen.
III. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin und Berufungsklägerin (Klägerin) begehrt den Erlass einer Erstattungsforderung des vormalig Beigeladenen und jetzigen Berufungsbeklagten (Beklagten) in Höhe von 101.567,80 Euro nach§ 44 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) .
Die Klägerin stand seit Januar 2005 durchgehend im SGB II-Leistungsbezug beim Beklagten. Im Erstantrag gab die Klägerin an, dass sie kein Vermögen habe, das 4.850,- Euro übersteige, in den Folgeanträgen jeweils, dass sich keine Änderungen ergeben hätten. Im Zuge eines Datenabgleichs im Jahr 2013 wurde dem Beklagten bekannt, dass die Klägerin Kapitalerträge aus Vermögen erzielt hatte. In der Folge stellte sich heraus, dass bereits im Jahr 1976 auf den Namen der Klägerin eine kapitalbildende Lebensversicherung mit einmaliger Zahlung im Todes- bzw. Erlebensfall abgeschlossen worden war, für die kein Verwertungsausschluss bestand. Versicherungsnehmerin war die Klägerin, bezugsberechtigte Person im Falle des Todes der Klägerin ihre Schwester. In der Zeit vom 01.10.1976 bis 01.10.1997 wurden die monatlichen Beiträge von der Klägerin selbst bezahlt. Zum 01.10.1997 wurde der Vertrag beitragsfrei gestellt. Der Rückkaufswert zum 01.01.2005 betrug 14.482,36 Euro. Die Ablaufleistung zum 01.10.2009 betrug 18.922,- Euro und wurde in einem "Parkdepot" bei der Versicherung neu angelegt. Von Mai 2013 bis Oktober 2014 wurden Beträge in Höhe von insgesamt 12.000,- Euro in mehreren Tranchen auf das Konto der Klägerin ausgezahlt. Zum 01.10.2014 wurde das Restguthaben auf einem neuen Parkdepot angelegt. Zwischen Januar 2015 und Februar 2016 erfolgten von dort nochmals in mehreren Tranchen Auszahlungen in Höhe von insgesamt 5.000,- Euro auf das Konto der Klägerin.
Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens trug die Klägerin vor, dass ihr Vater die Lebensversicherung abgeschlossen habe. Die Schwester der Klägerin erklärte, dass bei Fälligkeit der Versicherung für sie und die Klägerin jeweils die Hälfte des Auszahlungsbetrags gedacht gewesen sei.
In der Folge nahm der Beklagte nach Anhörung der Klägerin die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01.01.2005 bis 28.02.2014 in voller Höhe zurück und machte die Erstattung überzahlter Leistungen einschließlich der Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung in Höhe von insgesamt 101.567,80 Euro geltend (Bescheid vom 11.03.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2014 für die Zeit von Januar 2005 bis Februar 2013 in Höhe von 99.371,28 Euro und Bescheid vom 27.05.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.11.2013 für die Zeit von März 2013 bis Februar 2014 in Höhe von 2.196,52 Euro). Diese Bescheide wurden bestandskräftig, nachdem die Berufungen gegen die klageabweisenden Urteile des Sozialgerichts München vom 27.04.2016 ( S 32 AS 3072/13 undS 32 AS 1698/14 ) in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 21.08.2019 zurückgenommen wurden ( L 16 AS 344/16 und L 16 AS 345/16 ). Im Rahmen der Verhandlung vor dem Senat stellte die Klägerin einen Antrag auf Erlass der Forderung gemäߧ 44 SGB II .
Im Rahmen der Anhörung vom 15.10.2019 zu den wirtschaftlichen Verhältnissen durch die vormalig beklagte Bundesagentur für Arbeit (BA), die vom Beklagten mit der Einziehung der Forderung beauftragt worden war, gab die Klägerin an, seit 01.07.2019 eine monatliche Rente in Höhe von 1.047,04 Euro der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Knappschaft-Bahn-See und eine Betriebsrente in Höhe von 54,50 Euro der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) zu beziehen. Ihr Girokontostand (IBAN DE...) habe sich am 05.11.2019 auf 276,- Euro belaufen, ihr Barvermögen auf 120,- Euro. Zudem bestünden zwei Sparkonten bei der P mit einem Guthaben in Höhe von 2.831,69 Euro und bei der H in Höhe von 202,15 Euro sowie ein Festgeldkonto bei der D (W) AG mit einem Kontostand von knapp über 5.000,- Euro.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 20.12.2019 lehnte die BA namens und im Auftrag des Beklagten den Antrag auf Erlass ab. Ein Erlass setze sachliche oder persönliche Unbilligkeit voraus. Diese Voraussetzungen läg...