Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung: Versicherungsschutz bei Zurücklegung einer Wegstrecke mit versicherter und nicht versicherter Handlungstendenz
Leitsatz (amtlich)
Die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, wonach eine Tätigkeit mit gespaltener Handlungstendenz oder gemischter Motivationslage dann unter Versicherungsschutz steht, wenn der Versicherte die Verrichtung auch dann vorgenommen hätte, wenn die private Zielrichtung des Handelns entfallen wäre, gelten auch für die Zurücklegung von Wegstrecken, die sowohl mit einer versicherten als auch einer unversicherten Handlungstendenz vorgenommen werden. Es findet insoweit keine Aufteilung des Versicherungsschutzes nach Streckenabschnitten dergestalt statt, dass sich der Versicherungsschutz jeweils nach dem nächsten Streckenziel richtet, dass also ein unversichertes Zwischenziel die gesamte Wegstrecke bis zum Erreichen dieses Zwischenziels von dem im Hinblick auf das Endziel bestehenden Versicherungsschutz ausnimmt.
Orientierungssatz
Zitierungen: Vergleiche BSG, 12. Mai 2009, B 2 U 12/08 R, BSG, 9. November 2010, B 2 U 14/10 R, BSG, 18. Juni 2013, B 2 U 7/12 R, BSG, 26. Juni 2014, B 2 U 4/13 R).
Tenor
I. Das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 18.08.2015 und der Bescheid der Beklagten vom 04.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.03.2015 werden aufgehoben.
II. Es wird festgestellt, dass der Unfall des Klägers vom 15.09.2013 ein Arbeitsunfall ist.
III. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Parteien ist streitig, ob sich der Unfall des Klägers während einer versicherten Tätigkeit ereignet hat und der Unfall deshalb als Arbeitsunfall im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung nach § 8 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) anzusehen ist.
Der 1977 geborene Kläger war im Zeitpunkt des streitgegenständlichen Unfalls vom 15.09.2013 bei der Firma T. GmbH in Bad G. tätig. Am 15.09.2013 erlitt er während einer Arbeitspause einen Unfall. Er hatte in der Küche seine Brotzeit gegessen und dazu Wasser aus seiner Wasserflasche getrunken. Danach begab er sich in Richtung "Raucherbude", die vom Arbeitgeber als Raucherraum für die Arbeitspausen zur Verfügung gestellt wurde, um dort zu rauchen. Anschließend wollte er weiter zu einem Wasserspender gehen, um seine Wasserflasche, die er mit sich führte, als Vorrat für die sich anschließende Arbeitsschicht wieder aufzufüllen, um danach zu seinem Arbeitsplatz zurückzukehren. Noch auf dem ersten Teil des Weges von der Küche zur Raucherbude fuhr ihm ein Gabelstapler über den linken Fuß. Der Kläger erlitt eine Lisfranc'sche Luxationsfraktur am linken Vorfuß mit Weichteilschädigung und drohendem Compartment-Syndrom. Auf die in der Beklagtenakte enthaltenen Lichtbilder von der Unfallstelle wird verwiesen.
Nach dem Bericht der Polizeiinspektion M-Stadt vom 09.10.2013 musste der Kläger auf dem Weg zum Raucherraum über einen Gang gehen, in welchem Stapler fuhren. In diesen Gang kam er, indem er eine Nische benutzte, vor welcher Paletten mit hohen Gütern lagerten. Aufgrund dessen konnte der Gabelstaplerfahrer ihn nicht sehen. Der Kläger übersah offensichtlich den Stapler und trat in den Gang. Der Staplerfahrer versuchte noch zu bremsen, konnte einen Zusammenprall jedoch nicht mehr verhindern. In den Hallen der Firma herrscht das Gebot Stapler vor Fußgänger. Die Fußgänger haben auf die Stapler zu achten. Die Sicht an der Unfallstelle war stark eingeschränkt.
Mit Bescheid vom 04.11.2014 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls vom 15.09.2013 als Arbeitsunfall und Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab.
Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.03.2015 als unbegründet zurück. Der Widerspruchsbescheid wurde am 09.03.2015 abgesandt.
Dagegen hat der Kläger am 16.03.2015 beim Sozialgericht Ulm Klage erhoben. Dieses hat sich mit Beschluss vom 08.04.2015 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Augsburg (SG) verwiesen.
Im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils, nicht aber in der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 18.08.2015, steht, der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung auf Nachfrage des Gerichts angegeben, dass er ca. 15 bis 16 Zigaretten pro Tag rauche. Davon rauche er mehr in der Freizeit als während der Arbeitszeit. Er sei auch in der Lage, völlig ohne das Rauchen einer Zigarette seinen Dienst zu verrichten. Auch konkret am Unfalltag hätte es ihm nichts ausgemacht, keine Zigarette zu rauchen. Mit Schriftsatz vom 22.07.2015 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers ausgeführt, es sei falsch, dass das Rauchen für den Kläger unabweisbar notwendig gewesen sei, um weiter zu arbeiten. Derartiges sei nie vorgetragen worden.
Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 04.11.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vo...