Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Kryokonservierung. Kostenerstattung für Inanspruchnahme eines nicht zugelassenen Leistungserbringers aufgrund Systemversagens
Leitsatz (amtlich)
Falls die Kassenärztliche Vereinigung den Versicherten keinen für ihren Fall geeigneten und zugelassenen Leistungserbringer benennen kann, ist damit ein Systemversagen hinreichend nachgewiesen.
Orientierungssatz
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) war vom Gesetzgeber nicht ermächtigt, die Geltung des gesetzlichen Anspruchs der Versicherten auf Kryokonservierung vom formalen Akt der Umsetzung
im Einheitlichen Bewertungsmaßstab - EBM (juris: EBM-Ä 2008) abhängig zu machen.
Tenor
I. Auf die Berufungen des Klägers sowie der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 28.07.2022 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Kosten für die Maßnahmen der Kryokonservierung ab dem 22.02.2021 zu erstatten sowie den Kläger künftig von den Kosten für Maßnahmen der Kryokonservierung freizustellen, längstes bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres des Klägers.
II. Im Übrigen werden die Berufungen zurückgewiesen.
III. Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Kryokonservierung von Samenzellen.
Der im Jahr 1992 geborene, verheiratete Kläger ist gesetzlich krankenversichertes Mitglied der Beklagten. Im Rahmen einer urologischen Untersuchung am Freitag, dem 18.02.2021 ergab sich bei ihm ein Verdacht auf einen Tumor im rechten Hoden, der sich am folgenden Tag bei einer Untersuchung im Krankenhaus bestätigte. Ein Operationstermin wurde für den 24.02.2021 vereinbart.
Am Dienstag, dem 22.02.2021 wurde um 9 Uhr die Kryokonservierung von Samenzellen des Klägers im MVZ K R durchgeführt. Hierfür entstanden Kosten i.H.v. 450 Euro. Die Rechnung wurde vom Kläger am 22.02.2021 beglichen. Die Lagerung des Materials wurde seitdem durch die G in R mbH (Geschäftsführer S) übernommen. Hierfür fielen ab dem 22.02.2021 weitere Kosten i.H.v. halbjährlich 145 Euro an (Rechnung vom 22.02.2021 für die Zeit vom 22.02.2021 bis 22.08.2021, Rechnung vom 28.07.2021 für die Zeit vom 22.08.2021 bis 22.02.2022 und Rechnung vom 31.01.2022 für die Zeit vom 22.02.2022 bis 22.08.2022). Die jeweiligen Rechnungen enthielten den Hinweis, dass bei Ausgleich innerhalb eines Monats der Vertragsverlängerung um ein halbes Jahr zugestimmt werde. Eine Kündigung bedürfe der schriftlichen Form mit den Unterschriften beider Partner.
Am 24.02.2021 wurde nach intraoperativer pathologischer Bestätigung der Verdachtsdiagnose der tumorbefallene rechte Hoden des Klägers sowie der rechte Nebenhoden im Rahmen eines stationären Aufenthalts im Klinikum L entfernt. Am Freitag, den 26.01.2021 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen.
Am Montag dem 01.03.2021 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Übernahme der Kosten für die Kryokonservierung der Spermien. Es wurde der entsprechende Behandlungsplan des MVZ K eingereicht mit angegebenen geschätzten Gesamtkosten i.H.v. ca. 600 Euro.
Mit Bescheid vom 02.03.2021 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Aufgrund der aktuellen rechtlichen Lage würden keinerlei Kosten für die Kryokonservierung übernommen werden können, da diese noch keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung darstelle.
Hiergegen legte der Kläger form- und fristgerecht Widerspruch ein. Die Kryokonservierung sei aufgrund des bestätigten Verdachts von Hodenkrebs erforderlich gewesen, um die Chance eines Kinderwunschs aufrechtzuerhalten. Beigefügt war der Operationsbericht des Klinikums L.
Am 23.04.2021 wurde auch der linke Hoden des Klägers operativ entfernt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 05.05.2021 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Richtlinie zur Kryokonservierung von Ei- oder Samenzellen oder Keimzellgewebe sei am 20.02.2021 in Kraft getreten. Erst, wenn die Vergütungsregelungen und Abrechnungsziffern im Bewertungsausschuss zwischen dem GKV-Spitzenverband und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung vereinbart seien, könne die ambulante Kryokonservierung zur Erhaltung der Fertilität bei einer Krebserkrankung als Sachleistung durch die GKV zur Verfügung gestellt und über die elektronische Gesundheitskarte abgerechnet werden. Die Kryokonservierung sei noch keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Erst ab dem Tag des Inkrafttretens der Vergütungsregelung (Aufnahme in den EBM) bestehe im konkreten Einzelfall Anspruch auf die Kryokonservierung und die dazugehörigen Maßnahmen für jene Teilleistungen, die nach diesem Zeitpunkt anfallen. Dies bedeute, dass Leistungen, die vor der Aufnahme in den EBM bereits durchgeführt wurden, nicht erstattet werden können.
Am 13.10.2021 reichte der Kläger bei der Beklagten eine Kopie der Rechnung vom 28.07.2021 betreffend die Lagerkosten für die Zeit vom 22.08.2021 bis 22.02.2021 i.H.v. 145 Euro ein und beantragte die Erstattung der Kosten.
Mit Bescheid vom ...