Entscheidungsstichwort (Thema)
Befangenheit bei vorzeitiger Bekanntgabe des beschlossenen Urteils durch den Berichterstatter
Leitsatz (NV)
1. Das Rechtsschutzinteresse für ein Ablehnungsgesuch entfällt grundsätzlich erst dann, wenn keine Entscheidung des Richters mehr aussteht, wenn also die Instanz mit allen Nebenentscheidungen beendet ist und auch eine Abänderung der Entscheidung nicht mehr in Betracht kommt.
2. Verfahrensverstöße oder sonstige Rechtsfehler eines Richters können eine Besorgnis der Befangenheit ausnahmsweise dann rechtfertigen, wenn Gründe dargetan sind, die dafür sprechen, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem ihn ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruht. Die Fehlerhaftigkeit muß ohne weiteres feststellbar und gravierend sein und auf unsachliche Erwägungen schließen lassen.
3. Eine Bindung an die der Geschäftsstelle übergebene und einem Beteiligten bekanntgegebene Urteilsformel setzt u. a. voraus, daß diese von allen Richtern unterschrieben ist.
Normenkette
FGO § 51 Abs. 1, § 104 Abs. 2; ZPO § 42
Tatbestand
Das FG hat am 10. November 1993 in den im Rubrum aufgeführten Streitsachen der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) mündlich verhandelt. An der mündlichen Verhandlung nahm der Berichterstatter A teil. Der Vorsitzende schloß die mündliche Verhandlung mit der Verkündung des Beschlusses, daß eine Entscheidung den Be teiligten zugestellt werde. Beratung und Beschlußfassung über die Urteilsformel fanden noch am Tag der mündlichen Verhandlung statt. Das Urteil ist den Beteiligten Anfang Februar 1994 zugestellt worden. Bis zum 24. Januar 1994 war der Geschäftsstelle des Senats eine von den beteiligten Richtern unterschriebene Urteilsformel nicht übergeben worden.
Mit Schriftsatz vom 22. Dezember 1993 lehnten die Kläger A wegen Besorgnis der Befangenheit ab und beantragten, die mündliche Verhandlung wieder zu eröffnen. Zur Begründung trugen sie vor, A habe, obwohl Entscheidungen des Gerichts noch nicht vorlägen, dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt -- FA --) auf Anfrage mitgeteilt, die Klagen in der Haupt sache und wegen Aussetzung der Vollziehung würden abgewiesen werden. Wie sich gezeigt habe, nutzten die Steuerbehörden bereits ihre Kenntnis von den künftigen Urteilen, um Vorteile zu erreichen. Der Kämmerer der Gemeinde B habe unter Hinweis auf die bevorstehende Abweisung der Klagen -- vor Auslaufen der Aussetzung der Vollziehung -- versucht, die Klägerin zur vorzeitigen Zahlung der Gewerbesteuer zu veranlassen; er habe ferner die Stadt C von seinen Überlegungen unterrichtet, die ihrerseits nunmehr ähnliche Maßnahmen erwöge. Die einseitige vorzeitige Bekanntgabe begründe die Besorgnis der Befangenheit. Diese bevorzugte Behandlung des Fiskus lasse Zweifel an der Unparteilichkeit auch bei der Urteilsbildung aufkommen. Es sei zu befürchten, daß diese Bevorzugung der Steuergläubiger auf einer inneren Vorein genommenheit ihnen, den Klägern, gegenüber beruhe, und zwar insbesondere "wegen der Straftaten im wirtschaftlichen Vorfeld der streitigen Steueransprüche".
Der Richter am Finanzgericht A hat in einer dienstlichen Äußerung vom 30. Dezember 1993 unter Bezugnahme auf einen von ihm gefertigten Aktenvermerk vom 14. Dezember 1993 zum Sachverhalt wie folgt Stellung genommen: An diesem Tage habe ein Mitarbeiter der Gemeinde B bei ihm angerufen und um Mitteilung der Entscheidung gebeten. Er habe es abgelehnt, eine solche Auskunft zu erteilen und die Gemeinde an das FA verwiesen. Diesem habe er anschließend das Ergebnis der Beratung bekanntgegeben. Ebenso habe er dem Prozeßvertreter, Rechtsanwalt D, auf dessen telefonische Anfrage vom 14. Dezember 1993 das Ergebnis mitgeteilt.
Hierzu haben die Kläger vorgetragen, die dienstliche Äußerung des A bestätige die "Bevorzugung des Fiskus". Die Gemeinde B habe sich dem Kläger gegenüber auf die Abweisung der Klage in der Einkommensteuersache berufen. Erst daraufhin habe Rechtsanwalt D beim FG unter Bezugnahme auf das Vorgehen der Gemeinde B nachgefragt. Richter A habe das beklagte FA "von sich aus informiert oder dessen Anfrage veranlaßt", indem er die Gemeinde B an das FA verwiesen und so seine Bereitschaft zur Auskunft signalisiert habe. Diese Vorinformation sei zu einem Zeitpunkt erfolgt, als keine unabänderliche Entscheidung des Gerichts vorgelegen und jedes Mitglied des Gerichts noch die Möglichkeit gehabt habe, wegen etwaiger Bedenken oder weiterer Überlegungen eine erneute Beratung zu fordern. Letzteres sei durch die vorzeitige Bekanntgabe wenn nicht abgeschnitten, so doch erheblich erschwert worden. Beide Beteiligte hätten gleich behandelt werden müssen. Nunmehr ergäbe sich der Eindruck eines "besonderen Drahts" des Bericht erstatters zum FA und die Besorgnis, den Belangen der Finanzverwaltung würde Vorrang eingeräumt. Im übrigen seien sie, die Kläger, nicht an demselben Tag wie das FA informiert worden. Der Prozeßvertreter Rechtsanwalt D habe bei Gericht angefragt, nachdem er am Morgen durch Rechtsanwalt E von der "Vorinformation der Gemeinde B" erfahren habe.
Das FG hat den Ablehnungsantrag zurückgewiesen. Es könne offen bleiben, ob ein Ablehnungsgesuch nach Bekanntgabe des Beratungsergebnisses noch zulässig sei, denn jedenfalls sei das Gesuch unbegründet. Richter A habe das Ergebnis der Beratung allen Beteiligten bekanntgegeben. Von einer Bevorzugung des FA könnte nur dann die Rede sein, wenn den Klägern oder ihren Rechtsvertretern die dem FA erteilte Auskunft verweigert worden wäre. Daß die gewünschte Auskunft dem beklagten FA früher erteilt worden sei als den Klägern, hänge mit der zeitlichen Reihenfolge der Anfragen zusammen und lasse deshalb keine Rückschlüsse auf eine Befangenheit zu. Dies gelte unabhängig davon, ob die Anfragen am selben Tag oder an verschiedenen Tagen gestellt worden seien. Ohne Bedeutung sei es auch, ob sich Rechtsanwalt D nur deshalb beim FG nach dem Ergebnis der Beratung erkundigt habe, weil sich die Gemeinde B zuvor auf entsprechende Informationen berufen hatte. Es sei auch nicht geboten gewesen, die Kläger ohne diesbezügliche Anfrage über das Ergebnis der Beratung zu informieren, denn dazu wäre das Gericht selbst nach vorausgegangener Übergabe einer unterschriebenen Urteilsformel an die Geschäftsstelle nicht verpflichtet gewesen (Bezugnahme auf Beschluß des Bundesverwaltungsgerichts -- BVerwG -- vom 24. Juni 1971 I CB 4/69, BVerwGE 38, 220, 223, 224 = Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1972, 46). Die Rechtsauffassung, daß die Bekanntgabe des Beratungsergebnisses vor Zustellung des Urteils nicht statthaft sei, treffe nicht zu.
Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, mit der die Kläger u. a. vortragen: Der Beschluß des FG habe die dienst liche Äußerung des Richters A mißdeutet. Dieser habe die Gemeinde informieren wollen, allerdings nur mittelbar, "um den Schein der Korrektheit zu wahren". Er habe die Information dem FA "ungefragt aufgedrängt", damit die Gemeinde sie dort habe abrufen können. Im Grunde habe ihm nichts an der Information der Beteiligten gelegen, sondern an der Unterrichtung der Gemeinde "zur Unterstützung deren fiskalischer Interessen". Der angefochtene Beschluß habe den Umstand übergangen, daß hier das Beratungsergebnis eigenmächtig bekanntgegeben worden ist, bevor die Entscheidung bei der Geschäftsstelle hinterlegt gewesen sei. Das vom FG beschlossene Urteil sei bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirksam gewesen. Es sei nicht auszuschließen, daß die vorzeitige Bekanntgabe eine mögliche Neuberatung und Änderung der Entscheidung verhindert habe und verhindern sollte. Die formlose Bekanntgabe einer der Geschäftsstelle noch nicht übergebenen Entscheidung sei der Zustellung nicht gleichzusetzen und führe deshalb nicht zur Wirksamkeit dieser Entscheidung. Deshalb habe das FG bei einem entsprechenden Wunsch eines Senatsmitglieds oder auch bei begründeter Besorgnis der Befangenheit -- ohne den mit Erfolg abgelehnten Richter -- erneut mündlich verhandeln und erneut entscheiden können. A habe gewußt, daß sie, die Kläger, in Höhe von ... Mio. DM in Anspruch genommen worden seien, während aus der Veräußerung der Geschäftsanteile nur ... Mio. DM erlöst worden seien. In dieser wirtschaftlichen Situation sei für sie jede einzelne Aussetzung von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung gewesen. Die Gemeinde habe von der gewährten Aussetzung der Vollziehung vorzeitig loskommen wollen. Demgegenüber seien sie selbst daran interessiert gewesen, daß die Aussetzung der Vollziehung bis zur vom Gericht beschlossenen Bekanntgabe des Urteils durch Zustellung fortwährte. Ihr eigenes wirtschaftliches Interesse sei durch das unkorrekte Verhalten des A beeinträchtigt worden. A habe sich angesichts dieser gegenläufigen Interessen nicht neutral verhalten.
Das FA ist der Beschwerde entgegengetreten. Die Kläger könnten nicht davon ausgehen, der Berichterstatter habe bei der Urteilsfindung voreingenommen entschieden. Die Annahme, dieser habe fiskalische Interessen fördern wollen, sei fernliegend; aus seinem Verhalten könne nicht hergeleitet werden, er habe bereits bei der Fällung des Urteils parteiisch zugunsten des Fiskus gestimmt.
Entscheidungsgründe
Die zulässigen Beschwerden, die der Senat zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden hat, sind nicht begründet.
1. Ziel einer Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit ist es, den abgelehnten Richter an einer weiteren Tätigkeit in dem betreffenden Verfahren zu hindern. Das Ablehnungsverfahren findet nur im Hinblick auf eine weitere richterliche Verfahrenstätigkeit statt (Beschluß des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 7. Mai 1986 I B 70/85, BFH/NV 1987, 653). Das Rechtsschutzbedürfnis für ein Ablehnungsgesuch entfällt deshalb grundsätzlich dann, wenn keine Entscheidung des Richters mehr aussteht, wenn also die Instanz mit allen Nebenentscheidungen beendet ist und auch eine Abänderung der Entscheidung nicht mehr in Betracht kommt (BFH-Beschluß vom 26. März 1980 I B 23/80, BFHE 130, 20, BStBl II 1980, 335; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluß vom 29. Januar 1993 2 Z BR 114/92, Monatsschrift für Deutsches Recht -- MDR -- 1993, 471, m. w. N.; Stein/Jonas/Leipold, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl. 1993, § 44 Rdnr. 5).
Im Streitfall war das gefällte Urteil noch nicht wirksam geworden (hierzu unten 3.), konnte also -- z. B. auf einen Antrag auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung hin -- abgeändert werden. Bis zu dem Zeitpunkt, in dem sich das Gericht seiner Entscheidung entäußert, müssen Äußerungen der Beteiligten zur Kenntnis genommen werden, wobei ein früherer Zeitpunkt als die dokumentierte Übergabe des Urteils tenors an die Geschäftsstelle nicht in Betracht kommt (vgl. BVerwG-Urteil vom 14. April 1989 4 C 22.88, Deutsches Verwaltungsblatt -- DVBl -- 1989, 874). Im übrigen gehört zu den Nebenentscheidungen auch das Verfahren der Tatbestandsberichtigung (Urteil des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 3. Oktober 1962 V ZR 212/60, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1963, 46; BFH-Beschluß vom 17. August 1989 VII B 70/89, BFHE 157, 494, BStBl II 1989, 899). Eine solche haben die Kläger mit Schriftsatz vom 15. Februar 1993 beantragt. Das Rechtsschutzbedürfnis für das Ablehnungsgesuch ist nicht rückwirkend dadurch entfallen, daß das FG den Antrag auf Berichtigung des Urteilstatbestandes mit Beschluß vom 3. März 1993 abgelehnt hat.
2. Nach § 51 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i. V. m. § 42 der Zivilprozeßordnung (ZPO) können die Beteiligten einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Gründe für ein solches Mißtrauen sind gegeben, wenn ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.
a) Es müssen Anhaltspunkte für eine unsachliche Einstellung oder Willkür des Richters vorliegen (z. B. Senatsbeschluß vom 1. Juli 1992 X B 38/92, BFH/NV 1993, 110, m. w. N.). Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich voreingenommen ist. Entscheidend ist vielmehr, ob der Beteiligte, der ein Ablehnungsgesuch angebracht hat, von seinem Standpunkt aus bei Anlegung eines objektiven Maßstabs Anlaß hat, Voreingenommenheit des Richters zu befürchten (BFH-Beschluß vom 4. Juli 1985 V B 3/85, BFHE 144, 144, BStBl II 1985, 555; Tipke/Kruse, Abgabenordnung -- Finanzgerichtsordnung, § 51 FGO Tz. 7).
b) Verfahrensverstöße oder sonstige Rechtsfehler eines Richters sind grundsätzlich kein Ablehnungsgrund (vgl. Beschlüsse des BFH vom 24. August 1989 IV B 59/89, BFH/NV 1990, 308; vom 26. Juli 1989 IV B 106--109/88, BFH/NV 1991, 165, m. w. N.). Sie können eine Besorgnis der Befangenheit ausnahmsweise dann rechtfertigen, wenn Gründe dargetan sind, die dafür sprechen, daß die Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem ihn ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruht. Denn durch das Institut der Richterablehnung soll eine unparteiische Rechtspflege gesichert, nicht aber die Möglichkeit einer Überprüfung einzelner Verfahrenshandlungen eröffnet werden (vgl. BFH-Beschlüsse vom 17. Juli 1974 VIII B 29/74, BFHE 112, 457, BStBl II 1974, 638; vom 5. September 1989 VII B 65/89, BFH/NV 1990, 310; vom 27. Juli 1992 VIII B 59/91, BFH/NV 1993, 112; vom 9. Dezember 1992 VI B 46/92, BFH/NV 1993, 318; vom 2. März 1993 VII B 189/92, BFH/NV 1993, 738; Bundesarbeitsgericht -- BAG --, Beschluß vom 20. Oktober 1992 5 AZR 377/92, NJW 1993, 879). Die Fehlerhaftigkeit muß ohne weiteres feststellbar und gravierend sein und auf unsachliche Erwägungen schließen lassen (BFH-Beschlüsse vom 7. April 1988 X B 4/88, BFH/NV 1989, 587; in BFH/NV 1990, 310; in BFH/NV 1993, 112, jeweils m. w. N.).
c) Wird die Befangenheit aus Verfahrensverstößen hergeleitet, so müssen zusätzliche Anhaltspunkte vorhanden sein, die dafür sprechen, daß das Fehlverhalten auf einer unsachlichen Einstellung des Richters beruht (BFH-Beschlüsse in BFH/NV 1990, 310; vom 21. November 1991 VII B 53--54/91, BFH/NV 1992, 526). Hierbei gilt, daß sich der Schluß vom Verfahrensfehler auf die Besorgnis der Befangenheit eines Richters zwar regelmäßig noch nicht auf Grund eines einzelnen Verfahrensverstoßes begründen läßt. Es können aber beanstandete Vorgänge (Verfahrensverstöße und sonstige Verhaltensweisen) in ihrer Gesamtheit einen Grund darstellen, der den Beteiligten von seinem Standpunkt aus zu Recht befürchten lassen kann, der abgelehnte Richter werde nicht oder nicht mehr unparteilich entscheiden (Beschluß in BFH/NV 1992, 526).
Solches hat die Rechtsprechung z. B. angenommen, wenn der betroffene Richter die seiner richterlichen Tätigkeit gesetzten Schranken mißachtet und verfassungsrechtliche Grundrechte verletzt hat oder wenn in einer Weise gegen Verfahrensregeln verstoßen wurde, daß sich bei den Verfahrensbeteiligten der Eindruck der Voreingenommenheit aufdrängen konnte (Beschluß in BFH/NV 1993, 112).
3. Diese Voraussetzungen sind im Streitfall nicht erfüllt. Zwar entsprach das von den Klägern beanstandete Vorgehen nicht den Vorschriften der FGO über die Bekanntgabe einer gefällten Entscheidung. Indes läßt sich allein hieraus -- mangels weiterer die Befangenheit indizierender Umstände -- die Besorgnis einer Voreingenommenheit des Richters A nicht herleiten.
a) Nach § 104 Abs. 2 FGO ist statt der Verkündung die Zustellung des Urteils zulässig; es ist dann binnen zwei Wochen nach der mündlichen Verhandlung der Geschäftsstelle zu übergeben. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieser Vorschrift auch dann genügt, wenn die unterschriebene Urteilsformel fristgerecht der Geschäftsstelle übergeben wird (vgl. BFH-Urteil vom 6. November 1985 II R 217/85, BFHE 145, 120, BStBl II 1986, 175, m. w. N. der Rechtsprechung des BFH und des BVerwG; BFH-Urteil vom 3. Juni 1992 II R 112/89, BFH/NV 1993, 35). Sinn und Zweck des § 104 FGO liegen in erster Linie darin, die Förmlichkeiten der Verkündung zu ersetzen. Aus der Erwägung, daß die vorgeschriebene Übergabe (zumindest) der Urteilsformel eine nutzlose Formalität wäre, wenn sie nicht dazu führen würde, die Beteiligten über die Entscheidung des Gerichts schon vor der Zustellung des vollständigen Urteils in Kenntnis zu setzen (Beschluß in BVerwGE 38, 220, 223, 224), wird die Befugnis des Gerichts hergeleitet, die der Geschäftsstelle übergebene und von den beteiligten Richtern unterschriebene Urteilsformel den Verfahrensbeteiligten -- wenn auch formlos durch Übersendung einer Abschrift -- bekanntzugeben; damit gilt die Entscheidung als verkündet (BFH- Urteil in BFHE 145, 120, BStBl II 1986, 175). Die Frage, ob die Verfahrensbeteiligten einen Rechtsanspruch auf formlose Bekanntmachung der Entscheidungsformel haben (so Bayerischer Verwaltungsgerichtshof -- BayVGH --, Urteil vom 30. April 1986 25 B 82 C. 762, Bayerische Verwaltungsblätter -- BayVBl -- 1986, 655), kann hier dahingestellt bleiben.
Die Bindungswirkung setzt u. a. voraus, daß "das Urteil" der Geschäftsstelle übergeben worden ist (§ 104 Abs. 2 FGO). Dies bedeutet jedenfalls, daß die Entscheidungsformel von allen Richtern unterschrieben sein muß (vgl. BVerwG-Urteil vom 11. November 1971 I C 64.67, BVerwGE 39, 51). Diese Formenstrenge rechtfertigt sich daraus, daß Urteile zu ihrer rechtlichen Wirksamkeit der Verlautbarung bedürfen, die vom Wissen und Wollen aller Richter mitgetragen sein muß, die an der Entscheidung mitgewirkt haben. Das Unterschrifts erfordernis gewährleistet in der aus Gründen der Rechtssicherheit gebotenen Eindeutigkeit, daß das Urteil den Beteiligten nicht ohne den erforderlichen Verlautbarungswillen der mitwirkenden Richter bekanntgegeben wird (vgl. -- zum Ergehen eines Urteils ohne vorangegangene mündliche Verhandlung -- BVerwG-Urteil vom 3. Dezember 1992 5 C 9.89, BVerwGE 91, 242; zur Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung BayVGH in BayVBl 1986, 655, 656). Für die Übergabe des Tenors an die Geschäftsstelle verlangt das Gesetz kein förmliches Verfahren (BVerwG- Urteil vom 19. Januar 1987 9 C 247.86, BVerwGE 75, 337, 342).
b) Hiernach konnte der Berichterstatter A durch eine eigenmächtige vorzeitige Bekanntgabe der Entscheidungsformel eine Bindungswirkung nicht herbeiführen. Das vom Senat des FG beschlossene Urteil war nach wie vor "nicht in der Welt". Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß es die -- verfahrensrechtlich fehlerhafte -- Absicht des Richters A gewesen wäre, eine solche Bindungswirkung zum Nachteil der Kläger herbeizuführen, um die Berücksichtigung eines etwaigen weiteren Vorbringens auszuschließen. Auch haben die Kläger keine weiteren Umstände vorgetragen, die das verfahrensfehlerhafte Vorgehen als Anzeichen einer Voreingenommenheit erscheinen ließen und die den Schluß rechtfertigten, der Berichterstatter würde weiterem Sachvortrag nicht mehr aufgeschlossen gegenüberstehen. Weder aus dem Sitzungsprotokoll noch aus den Urteilsgründen sind Anhaltspunkte dafür ersichtlich, welche die Annahme einer unsachlichen Einstellung des Richters A gegenüber den Klägern nahelegen könnten. Vor allem ist nicht ersichtlich, daß A versucht hätte, das Entscheidungsergebnis vor den Klägern zu verheimlichen.
Das von den Klägern beanstandete Verhalten des A ist auch nicht willkürlich. "Schlichte" Fehlerhaftigkeit reicht hierfür nicht aus. Von einem Akt der Willkür kann nur dann gesprochen werden, wenn die Entscheidung und/oder die Verfahrensweise bei verständiger Würdigung der das Prozeßrecht beherrschenden Grundsätze nicht mehr verständlich, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar, mithin schlechthin unhaltbar sind und sich der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen. Dies ist hier nicht der Fall. Es ist zu berücksichtigen, daß nach den dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung -- freilich unter bestimmten förmlichen, hier nicht eingehaltenen Kautelen -- den Beteiligten bereits vor der Zustellung des vollständigen Urteils dessen Ergebnis bekanntgegeben werden darf.
Die Annahme der Kläger, A habe die fiskalischen Interessen der Gemeinde B fördern wollen, beruht auf einer nicht realistischen Einschätzung der verfahrensrechtlichen Situation. Die Vollziehung der Gewerbesteuerbeträge war nach ihrem eigenen Vorbringen "bis zur Entscheidung des FG" in der Hauptsache ausgesetzt worden. Solange eine -- verfahrensrechtlich wirksame -- Entscheidung des FG nicht vorlag, war dieser verfahrensrechtliche Besitzstand der Kläger nicht angetastet; sie brauchten sich auf die von der Gemeinde B gewünschte vorzeitige Entrichtung der Gewerbesteuer nicht einzulassen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte dafür vor, daß der Bericht erstatter beabsichtigt hätte, die Kläger in eine gegenüber der Gemeinde nachteilige Position zu bringen.
4. Soweit die anwaltlich vertretenen Kläger die sachliche Richtigkeit der vom Berichterstatter A abgegebenen dienstlichen Äußerung anzweifeln, haben sie keine diesbezüglichen Beweisanträge -- etwa auf Vernehmung des Richters A als Zeugen -- gestellt, denen das FG hätte nachgehen müssen (vgl. BFH-Beschluß vom 29. Juni 1992 V B 84/91, BFH/NV 1993, 251).
Fundstellen
Haufe-Index 420413 |
BFH/NV 1995, 692 |