Leitsatz (amtlich)
Zum Widerruf des Berufungsverzichts und zum Arglisteinwand gegen die Geltendmachung des Verzichts, weil der Gegner nach der Behauptung des Berufungsklägers in der Vorinstanz seine prozessuale Wahrheitspflicht (§ 138 Abs. 1 ZPO) verletzt und damit Anlaß zum Verzicht gegeben habe.
Normenkette
ZPO § 514
Verfahrensgang
OLG Celle (Urteil vom 15.03.1984) |
LG Stade |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 15. März 1984 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
Der Kläger macht gegen den Beklagten Ansprüche aus dem Kaufvertrag über ein gebrauchtes Motorrad geltend. Das Motorrad hat einen Unfallschaden erlitten und ist unsachgemäß repariert worden. Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe ihn arglistig getäuscht, und verlangt mit seiner Klage Erstattung der Reparaturkosten sowie der Kosten des Sachverständigen, zusammen 3.789,87 DM nebst Zinsen.
Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 15. März 1983, zugestellt am 24. März 1983, abgewiesen. Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, daß der als Partei vernommene Beklagte nach seinen Angaben von einem Unfall keine Kenntnis gehabt habe. Der Kläger hat am 22. April 1983 Berufung eingelegt und behauptet, er habe nunmehr die zwei Vorbesitzer des Motorrads ermittelt, aus deren Bekundungen sich ergeben werde, daß der Beklagte entgegen seinen Angaben bei der Parteivernehmung durch das Landgericht den Unfallschaden selbst verursacht habe. Der Beklagte erhebt die Einrede des Berufungsverzichts und verweist dazu auf das Schreiben des Rechtsanwalts H., der den Kläger als Korrespondenzanwalt vertritt, an die Prozeßbevollmächtigten des Beklagten vom 30. März 1983, in dem es unter anderem heißt:
„In der vorbezeichneten Sache (es handelt sich um den hier zu entscheidenden Rechtsstreit) vertrete ich Herrn W. (Kläger). Herr W. wird gegen das Urteil des LG … keine Berufung einlegen.
Ihre Kosten können Sie bitte direkt mit der Rechtsschutzversicherung von Herrn W. abrechnen, so daß eine Kostenfestsetzung nicht erforderlich ist. Bitte wenden Sie sich an … und geben Sie der Einfachheit halber Ihre Kosten dort an …”.
Das Oberlandesgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Revision des Klägers, deren Zurückweisung der Beklagte beantragt.
Entscheidungsgründe
Das Berufungsgericht führt aus, der Kläger habe mit dem Rechtsanwaltsschreiben vom 30. März 1983 an den erstinstanzlichen Prozeßbevollmächtigten des Beklagten wirksam auf das Rechtsmittel verzichtet (§ 514 ZPO). Hierauf habe sich der Beklagte einredeweise berufen. Die vom Kläger geltend gemachte Anfechtung des Verzichts sei unzulässig. Die Einrede des Beklagten verstoße auch nicht gegen Treu und Glauben.
Die hiergegen gerichtete Revision ist nach § 547 ZPO statthaft. Sie ist aber nicht begründet.
1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Kläger durch einseitige Erklärung gegenüber dem Prozeßbevollmächtigten des Beklagten auf die Berufung gegen das bereits ergangene Urteil verzichten konnte und diese Erklärung nicht dem Anwaltszwang unterlag (BGHZ 2, 112, 114; BGH, Urteil vom 3. April 1974 – IV ZR 83/73, NJW 1974, 1248; für Anwaltszwang Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 13. Aufl., § 137 II 5 a).
2. a) Dem Schreiben vom 30. März 1983 ist auch hinreichend deutlich der Wille des Klägers zu entnehmen, auf die Berufung zu verzichten. Hierzu gelangt der erkennende Senat im Weg eigener Auslegung, ohne an die Auslegung durch das Berufungsgericht gebunden zu sein (s. Wieczorek-Rössler, ZPO, 2. Aufl., § 514 Anm. A III d). Denn auch der gegenüber dem Gegner erklärte Verzicht ist Prozeßhandlung (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 1967 – IV ZR 21/66, LM § 514 Nr. 14 = NJW 1968, 794 795) und unterliegt damit der Auslegung durch das Revisionsgericht (vgl. allgemein BGHZ 4, 328, 334; BGH, Urteil vom 26. Januar 1983 – IV b ZR 347/81, FamRZ 1984, 353, 355 unter II B 3 m.w.N.).
b) Das Wort „Verzicht” ist nicht erforderlich, um den Verzicht der Partei auf das Rechtsmittel anzunehmen. Es muß jedoch der klare, eindeutige Wille zum Ausdruck gebracht worden sein, daß die Partei sich ernsthaft und endgültig mit dem Urteil beruhigen und es nicht anfechten wolle (vgl. BGH, Urteil vom 3. April 1974 aaO). Das ist hier dem Satz zu entnehmen, daß Herr W. (der Kläger) „gegen das Urteil des LG … keine Berufung einlegen” werde. Dieselbe Bedeutung hat der Bundesgerichtshof der Erklärung beigemessen: „Klägerin legt keine Berufung ein” (Beschluß vom 12. Oktober 1955 – VI ZB 15/55, LM ZPO § 514 Nr. 6). Hingegen hat der Bundesgerichtshof die Erklärung einer Partei, „sie habe nicht die Absicht, Revision einzulegen und bitte um Zusendung der Kostenrechnung”, nicht als Rechtsmittelverzicht verstanden (Urteil vom 26. Februar 1958 – IV ZR 211/57, LM GrundG Art. 19 Nr. 21 = MDR 1958, 414). In jenem Fall – zudem eine Ehesache – hat, soweit dem vollständigen Wortlaut des Urteils zu entnehmen, die Partei selbst gegenüber dem Prozeßbevollmächtigten der anderen Partei die Erklärung abgegeben. Das mag die Deutung nahegelegt haben, die Partei habe „lediglich die Tatsache mitgeteilt”, sie „habe – zur Zeit – nicht die Absicht, Revision einzulegen”, und habe nicht zum Ausdruck gebracht, daß sie „sich dieses Rechtes schon endgültig begebe”.
In der vorliegenden Sache rührt dagegen das fragliche Schreiben vom Korrespondenzanwalt des Klägers her. Daß es nur mit „i.A.” von einem anderen Rechtsanwalt oder einem Angestellten der Kanzlei unterschrieben worden ist, was das Berufungsgericht offenläßt, ist ohne Belang, denn nach dem Akteninhalt war nicht streitig, daß das Schreiben dem vom Korrespondenzanwalt erteilten Auftrag entsprochen hat.
3. a) Das Berufungsgericht hat zutreffend verneint, daß der Rechtsmittelverzicht angefochten werden konnte. Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe des bürgerlichen Rechts schlagen auch gegenüber einem an die Gegenpartei gerichteten Verzicht nicht durch (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 1967 aaO, NJW 1968, 794, 795 linke Spalte unten; RGZ 161, 350, 358 f.; Wieczorek-Rössler aaO, § 514 Anm. A III d 3; s. auch die Nachweise bei Orfanides, Die Berücksichtigung von Willensmängeln im Zivilprozeß, 1982, S. 158 bei Fn. 30). Ihm kann allerdings mit dem Arglisteinwand entgegengetreten werden (unten Ziff. 4).
Auf die Frage, ob in der Einlegung der Berufung überhaupt eine Anfechtungserklärung gesehen werden kann, kommt es danach nicht an.
b) Entgegen der Ansicht der Revision begründet der behauptete Verstoß des Beklagten gegen § 138 Abs. 1 ZPO (prozessuale Wahrheitspflicht) kein Recht zum Widerruf des Verzichts. Allerdings ist anerkannt, daß bei Vorliegen eines Restitutionsgrundes der Verzicht widerrufen werden kann (vgl. RG in DR 1943, 620 bei Auffinden einer Urkunde i.S. von § 580 Ziff. 7 b ZPO; BGHZ 12, 284 = LM ZPO § 515 Nr. 4 m. Anm. Johannsen für den vergleichbaren Fall der durch eine strafbare Handlung veranlaßten Rechtsmittelrücknahme). Einen Restitutionsgrund hat die Revision nicht geltend gemacht. Die Berufung auf eine bloße Verletzung der Wahrheitspflicht reicht nicht aus.
4. Das Berufungsgericht hat schließlich nicht verkannt, daß der durch den Verzicht begründeten prozessualen Einrede der Einwand der Arglist entgegenstehen kann (s. BGH, Urteil vom 20. November 1952 – IV ZR 204/52, LM ZPO § 514 Nr. 3; Urteil vom 14. Juni 1967 aaO). Es führt jedoch aus, der Kläger habe nicht begründet dargelegt, weswegen die Berufung des Beklagten auf den Rechtsmittelverzicht gegen Treu und Glauben verstoße. Angesichts des Parteivorbringens des Beklagten sei zu erwarten gewesen, was dieser in seiner Parteivernehmung aussagen werde. Andererseits seien die Vorbesitzer des Motorrads aus dem Kraftfahrzeugbrief bekannt gewesen. Sie hätten schon in erster Instanz als Zeugen benannt werden können und vernommen werden müssen. Unter diesen Umständen lasse sich ein Einwirken des Beklagten auf die Abgabe des Rechtsmittelverzichts, das den Vorwurf des Rechtsmißbrauchs begründen könnte, nicht erkennen. Dem ist – entgegen der Ansicht der Revision, die indessen den tatsächlichen Ausgangspunkt des Berufungsgerichts nicht angreift – jedenfalls im Ergebnis zu folgen:
Der Kläger hat den Rechtsmittelverzicht durch seinen Korrespondenzanwalt schon erklären lassen, als von der Monatsfrist zur Berufung erst wenige Tage abgelaufen waren. Die Erklärung sei – so hat der Kläger im Berufungsverfahren vortragen lassen, wenn auch als Argument gegen die Auslegung als Verzicht (Schriftsatz vom 18. November 1983, Bl. 2) – „lediglich zu dem Zweck” erfolgt, „daß eine umständliche Abwicklung der Kosten über sämtliche beteiligten Anwälte, den Kläger, die Rechtsschutzversicherung vereinfacht und abgekürzt werden konnte”. Anderenfalls hätte für ihn die Gefahr bestanden, daß die Anwälte des Beklagten aufgrund der voraussehbaren Verzögerungen die Zwangsvollstreckung aus dem vorläufig vollstreckbaren Kostentitel betreiben und dadurch weitere Kosten verursachen würden.
Dieses Vorbringen kennzeichnet die Berufung des Beklagten auf den Rechtsmittelverzicht nicht als Verstoß gegen Treu und Glauben. Auch dem übrigen Prozeßstoff sind keine Umstände zu entnehmen, die den Einwand des Rechtsmißbrauchs begründen könnten. Hier geht es um einen Sachverhalt, der sich wesentlich von den Fällen unterscheidet, die den – in Ehescheidungsverfahren ergangenen – Urteilen des Bundesgerichtshofes vom 20. November 1952 und vom 14. Juni 1967 (aaO) zugrunde lagen. In der zuerst entschiedenen Sache hatte die Beklagte, die anwaltlich nicht vertreten gewesen war, geltend gemacht, sie habe im Hinblick auf wiederholte Versicherungen des Klägers, er werde sie wieder heiraten, sich nicht gegen die Klage verteidigt und erklärt, kein Rechtsmittel einlegen zu wollen. In der anderen Sache bezeichnete der Bundesgerichtshof die Berufung auf einen Rechtsmittelverzicht, der zur Auflösung der Ehe führe, dann als mit Treu und Glauben unvereinbar, wenn sich inzwischen herausgestellt habe, daß sich der Ehepartner in einem seine freie Entschließung schwerwiegend beeinträchtigenden Zustand, beispielsweise der Verwirrung oder der Depression, befunden und ohne Kenntnis oder Beistand seines Anwalts den Verzicht erklärt habe.
Im vorliegenden Fall war der Kläger durch einen Rechtsanwalt beraten und ist zu dem Verzicht nicht durch den Beklagten veranlaßt worden. Es ist auch nicht erkennbar, daß irgendwelche sonstige konkreten Umstände ausschlaggebend für die Verzichtserklärung waren, denen gegenüber die Berufung auf den Verzicht arglistig erscheint. Hierfür würde es jedenfalls nicht ausreichen, wenn der Beklagte in der ersten Instanz seine prozessuale Wahrheitspflicht verletzt hat. Um diesem Verdacht nachzugehen, bot sich gerade die Berufung an. Welche Vorstellungen den Kläger bewogen haben, trotzdem auf die Berufung zu verzichten, kann aber offenbleiben. Denn die von ihm vorgetragenen Gründe lassen nicht erkennen, daß er sich in einer Lage befand, in der der Verzicht als die Reaktion anzusehen war, mit deren Ausnutzung der Beklagte rechtsmißbräuchlich handeln würde.
Da nach alledem die Einrede des Verzichts auf die Berufung vom Beklagten mit Recht geltend gemacht worden ist, hatte das Berufungsgericht das Rechtsmittel als unzulässig zu verwerfen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens waren nach § 97 ZPO dem Kläger aufzuerlegen.
Unterschriften
Braxmaier, Dr. Skibbe, Dr. Brunotte, Dr. Paulusch, Groß
Fundstellen
NJW 1985, 2335 |
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