Leitsatz (redaktionell)
Wenn das LSG aus zutreffenden Gründen feststellt, daß die von dem Vertreter des Klägers mit einem Faksimilestempel versehene Berufungsschrift nicht der im Gesetz vorgeschriebenen Schriftform entspricht, muß es gleichzeitig weiter prüfen, ob angesichts der besonderen Umstände des Falles trotz Ablaufs der Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist.
Normenkette
SGG § 151 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, Abs. 3 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 6. Juli 1959 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Ehemann und Vater der Kläger H... B... bezog wegen verschiedener Verletzungen eine Versorgungsrente; er verstarb am 31. Dezember 1951. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte den Antrag der Kläger auf Hinterbliebenenversorgung durch Bescheid vom 24. März 1953 ab, weil H... B... an einer vom Versorgungsleiden unabhängigen Lungenentzündung verstorben sei. Der Widerspruch wurde am 16. August 1954 zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage durch Urteil vom 23. Februar 1956 ab. Das Urteil wurde dem Vertreter der Kläger, dem Rechtsschutzvertreter des VdK V..., L... D..., gegen Empfangsbekenntnis am 20. April 1956 zugestellt. Am 28. April 1956 legte der blinde Vorsitzende und Geschäftsführer des Reichsverbandes der Kriegsopfer und Rentenempfänger, H... B..., Berufung ein. Die Berufungsschrift war nicht unterzeichnet, sondern mit einem Faksimilestempel des Bevollmächtigten versehen. Am 6. Juni 1959 reichte der Bevollmächtigte vorsorglich eine von ihm handschriftlich unterzeichnete Berufungsschrift ein. Durch Urteil vom 6. Juli 1959 verwarf das Landessozialgericht (LSG) die Berufung als unzulässig, weil sie nicht innerhalb eines Monats seit der Zustellung des Urteils schriftlich eingelegt sei. Das Urteil des SG sei dem damaligen Prozeßbevollmächtigten D... ordnungsgemäß zugestellt worden, weil die Zustellung dem § 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) entspreche, der sinngemäß auch auf Angestellte von Verbänden der Kriegsopfer anzuwenden sei. Die am 28. April 1956 eingelegte Berufung sei nicht formgerecht, weil die Schriftform nicht gewahrt sei; diesem Erfordernis sei nur genügt, wenn das Schriftstück handschriftlich unterzeichnet worden sei. Die am 6. Juni 1959 eingegangene unterzeichnete Berufung sei verspätet; eine Wiedereinsetzung könne nach § 67 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht bewilligt werden. Das LSG ließ die Revision zu.
Die Kläger legten gegen das am 14. August 1959 zugestellte Urteil am 7. September 1959 Revision ein und begründeten ihr Rechtsmittel im gleichen Schriftsatz.
Sie tragen vor, die Berufung sei fristgerecht eingelegt worden, das LSG habe daher die Berufungsschrift noch innerhalb der Berufungsfrist zurücksenden können, damit die eigenhändige Unterschrift hätte nachgeholt werden können. Der späteren Aufforderung dieser Art habe der Bevollmächtigte sofort entsprochen. Überdies seien die Unterschrift durch Handschriftstempel jahrelang hingenommen und sämtliche Berufungen anerkannt worden. Auch handele es sich nicht um einen Firmenstempel, sondern um einen Handschriftstempel.
Die Kläger beantragen,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 6. Juli 1959 aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist begründet.
Zunächst hat das LSG mit Recht angenommen, die Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils an den damaligen Bevollmächtigten des Klägers am 20. April 1956 sei wirksam erfolgt. Nach § 5 Abs. 2 VwZG kann das zuzustellende Schriftstück an Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, Rechtsanwälte, Patentanwälte, Verwaltungsrechtsräte, Notare, Steuerberater und Helfer in Steuersachen in der Form zugestellt werden, daß der Empfänger ein Empfangsbekenntnis mit Datum und Unterschrift versieht und an die zustellende Behörde zurücksendet. Diese Vorschrift ist zwar nicht nach ihrem Wortlaut, jedoch entsprechend ihrem Sinn auf die Verbandsvertreter anzuwenden. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 14. August 1959 (BSG 10, 244) ausgesprochen, und zwar mit der Begründung, das gesetzgeberische Motiv für die Regelung der vereinfachten Zustellung in § 5 Abs. 2 VwZG liege in dem besonderen Vertrauen, das die dort aufgeführten Stellen und Personen verdienten. Dieses besondere Vertrauen sei jedenfalls nicht nur deshalb gerechtfertigt, weil diese Personengruppen eine durch eine besondere Auslese und Verpflichtung bedingte Stellung im öffentlichen Leben hätten, sondern auch deshalb, weil sie mit der Führung fremder Rechtsangelegenheiten im allgemeinen oder auf einem besonderen Fachgebiet besonders vertraut seien. Auch wenn die Verbandsvertreter nicht ausdrücklich in § 5 Abs. 2 VwZG genannt seien, so könne daraus nicht geschlossen werden, daß diesen Personengruppen nicht vereinfacht zugestellt werden dürfe. Denn das SGG sei erst nach dem VwZG in Kraft getreten. Der Senat schließt sich dieser Auffassung an, und zwar aus der Erwägung heraus, daß die Verbandsvertreter die gleichen Aufgaben vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zu erfüllen haben wie die in § 5 Abs. 2 genannten Personengruppen. Sie müssen daher auch insoweit diesen gleichgestellt werden.
Da somit die Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils am 20. April 1956 wirksam erfolgt ist, lief die Berufungsfrist am 22. Mai 1956 ab (der 20. und 21. Mai 1956 waren gesetzliche Feiertage). Die innerhalb dieser Frist am 28. April 1956 eingegangene Berufung entspricht nicht den gesetzlichen Formvorschriften, weil sie nicht, wie in § 151 SGG gefordert, schriftlich eingelegt ist. Denn der Aufdruck eines Faksimilestempels entspricht nicht der im Gesetz vorgeschriebenen Schriftform. Diese Form ist nur dann gewahrt, wenn das betreffende Schriftstück handschriftlich unterzeichnet ist (vgl. BSG 1, 243; 6, 256; 8, 142). An diesem Erfordernis muß im Interesse der Rechtssicherheit festgehalten werden, weil nur so eine Nachprüfung möglich ist, ob die Rechtsmittelschrift auch tatsächlich von dem Verantwortlichen stammt und mit seinem Willen eingereicht worden ist. Dies muß jedenfalls für den Fall gelten, daß die Unterschrift durch einen Faksimilestempel ersetzt ist. Die fehlende Unterschrift kann nach Ablauf der Rechtsmittelfrist auch nicht mehr nachgeholt werden (BSG 6, 256).
Die Kläger können nicht damit gehört werden, das LSG habe den Mangel der Berufungsschrift sofort erkennen und ihnen diese zur Nachholung der Unterschrift zusenden müssen, weil dann die Berufungsschrift noch rechtzeitig hätte formgerecht eingereicht werden können. Denn eine Partei kann sich nicht darauf verlassen, daß bei dem erheblichen Geschäftsanfall der Landessozialgerichte sofort eine Überprüfung der Berufungsschriften auf etwaige Formmängel hin erfolgt.
Das LSG hat jedoch nicht genügend geprüft, ob den Klägern Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist nach § 67 SGG zu gewähren ist. Es ist zwar mit Recht davon ausgegangen, daß eine solche nur unter den Voraussetzungen des § 67 Abs. 3 SGG gewährt werden kann, weil innerhalb der Jahresfrist keine formgerechte Berufung eingelegt worden ist (der unterzeichnete Schriftsatz vom 21. März 1957 stellt keine Berufungseinlegung dar, sondern nimmt nur auf die früher eingelegte Berufung Bezug). Jedoch hat das LSG nicht beachtet, daß auch nach Ablauf der im Abs. 3 genannten Jahresfrist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht ausgeschlossen ist. Sie ist vielmehr zu gewähren, wenn der Antrag vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war. Als höhere Gewalt und unabwendbarer Zufall in diesem Sinne ist ein Ereignis anzusehen, dessen Eintritt oder Folgen von demjenigen, dem die Vornahme der Prozeßhandlung oblag, bei Anwendung der gerade ihm nach Lage des Falles gerechterweise zuzumutenden Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (vgl. RGZ 96, 322, 324). Das LSG hätte daher prüfen müssen, warum der Klägervertreter bei seinen Schriftsätzen an das LSG einen Faksimilestempel verwandte, auf wessen Veranlassung dies geschah, ob etwa derartige Berufungen vom LSG ausdrücklich oder stillschweigend als formgerecht angesehen worden sind oder ob dies etwa darauf beruht, daß der Faksimilestempel nicht als solcher erkannt wurde. Des weiteren wäre von Bedeutung, ob der Klägervertreter nach Bekanntwerden der oben genannten Rechtsprechung des BSG über die Erfordernisse der Schriftform belehrt worden ist oder ob er sich selbst um die Kenntnis dieser Rechtsprechung bemüht hat (er behauptet, seit 1957 sei von ihm neben dem Faksimilestempel auch eine handschriftliche Unterzeichnung verlangt worden). Ferner wäre zu prüfen, ob dem Klägervertreter nach Bekanntwerden der Rechtsprechung des BSG mit Rücksicht auf seine Blindheit zuzumuten war, seine beim LSG anhängigen Sachen zu überprüfen und nachträglich formgerecht Rechtsmittelschriften einzureichen. Solange diese Gesichtspunkte nicht geklärt sind, kann nicht darüber entschieden werden, ob ein Ausnahmefall im Sinne des § 67 Abs. 3 SGG vorlag.
Da somit die tatsächlichen Feststellungen zu einer abschließenden Entscheidung des Senats nicht ausreichen, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Diesem bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen