Entscheidungsstichwort (Thema)

Rentenentziehung. Nachschieben von Gründen in der Berufungsinstanz. Gesetzlich normierter Entziehungstatbestand

 

Orientierungssatz

Bei einer Rentenentziehung nach RVO § 1293 Abs 2 aF iVm SVD 3 handelt es sich nicht um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers, sondern um die gesetzliche Verpflichtung zur Entziehung einer Rente bei Vorliegen des gesetzlich normierten Sachverhalts. Die erst in der Berufungsinstanz erfolgte Stützung des Entziehungsbescheides auf RVO § 1293 Abs 2 aF stellt daher kein unzulässiges Nachschieben von Gründen dar, da das Berufungsgericht diese Vorschrift - auch ohne ausdrückliche Berufung darauf - hätte anwenden müssen.

 

Normenkette

RVO § 1293 Abs. 2; SVD 3

 

Verfahrensgang

LSG Hamburg (Entscheidung vom 16.01.1958)

SG Hamburg (Entscheidung vom 20.07.1956)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 16. Januar 1958 aufgehoben.

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 20. Juli 1956 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die 1902 geborene Klägerin bezog seit dem 1. Juli 1952 Invalidenrente von der Beklagten, die auf Grund ärztlicher Gutachten das Vorliegen von vorübergehender Invalidität angenommen hatte. Die Beklagte entzog der Klägerin die Rente durch Bescheid vom 20. Juli 1953 mit Ablauf des Monats August 1953 wieder, weil deren Gesundheitszustand sich nach ärztlicher Begutachtung erheblich gebessert habe und Invalidität nicht mehr anzunehmen sei.

Das Sozialgericht (SG.) Hamburg, auf das die von der Klägerin an das Oberversicherungsamt Hamburg eingelegte Berufung nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage übergegangen war, bestätigte durch Urteil vom 20. Juli 1956 die Rentenentziehung, da es nach weiterer Beweiserhebung ebenfalls eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes der Klägerin annahm und diese nicht mehr als invalide ansah. Hilfsweise stützte das SG. die Rentenentziehung, da die Klägerin jedenfalls nicht invalide sei, auch auf § 1293 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung a.F. (RVO) in Verbindung mit der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 3.

Das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg verurteilte demgegenüber am 16. Januar 1958 auf die Berufung der Klägerin die Beklagte zur Weiterzahlung der Invalidenrente (ab 1.1.1957 als umgestellte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit). Es kam nach weiterer Beweiserhebung zu dem Ergebnis, daß sich der Eintritt einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen der Klägerin gegenüber dem Zeitpunkt der Rentenbewilligung nicht feststellen lasse, die Klägerin vielmehr bereits zu jenem Zeitpunkt - ebenso wie auch noch im Zeitpunkt der maßgeblichen mündlichen Verhandlung vor dem LSG. nicht invalide gewesen sei. Die Rentenentziehung könne daher nicht auf § 1293 Abs. 1 RVO a.F. gestützt werden, da dieser das Vorliegen einer wesentlichen Änderung erfordere. Eine Anwendung des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. auf den vorliegenden Fall sei, wie auch das Bundessozialgericht (BSG.) am 9. Februar und 23. August 1956 (BSG. 2 S. 188 und 3 S. 209) entschieden habe, auf den vorliegenden Fall nicht möglich, da die Beklagte ihren Entziehungsbescheid ausdrücklich nur auf Abs. 1 a.a.O. gestützt habe und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht berechtigt seien, an Stelle des Versicherungsträgers eine diesem allein vorbehaltene Ermessensentscheidung zu treffen.

Gegen das am 13. März 1958 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. April 1958 Revision, die vom LSG. zugelassen war, eingelegt und diese am 9. Mai 1958 begründet.

Die Beklagte rügt einmal,

daß das LSG. überhaupt eine Prüfung der Frage, ob bei der Klägerin zur Zeit der Rentengewährung tatsächlich Invalidität vorgelegen habe, nicht habe vornehmen dürfen,

zum anderen,

daß das LSG. zu Unrecht die Anwendung des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. verneint habe. Das LSG. habe nicht beachtet, daß die Beklagte selbst in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG. den Entziehungsbescheid auch auf jene zweite Vorschrift gestützt habe; ihr selbst sei jedoch ein Nachschieben von Gründen nicht verwehrt.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt

kostenpflichtige Zurückweisung der Revision.

Sie hält unter Berufung auf die Rechtsprechung des BSG. das angefochtene Urteil für zutreffend und die erst in der Berufungsinstanz erfolgte Stützung des Entziehungsbescheides auf § 1293 Abs. 2 RVO a.F. für ein unzulässiges Nachschieben von Gründen.

Beide Parteien sind auf den Beschluß des erkennenden Senats vom 26. März 1958 - 4 RJ 274/56 - hingewiesen worden; sie haben sich darauf - ohne weitere Erklärungen abzugeben - mit einer Entscheidung der Sache ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt; sie ist vom LSG. zugelassen und damit statthaft. Die Revision ist auch begründet.

Der erkennende Senat hat in seinem Beschluß vom 26. März 1956 - 4 RJ 274/56 - ausführlich dargelegt, daß es sich bei einem nach § 1293 Abs. 2 RVO a.F. in Verbindung mit der SVD Nr. 3 erlassenen Rentenentziehungsbescheid nicht um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers handelt. Das BSG. (1. und 3. Senat) hat seine entgegenstehende Rechtsprechung, auf die sich das angefochtene Urteil und auch die Klägerin in erster Linie stützt, aufgegeben, wie sich aus jenem Beschluß gleichfalls ergibt. Der Senat konnte daher unbedenklich auch im vorliegenden Falle seine dort entwickelten Grundsätze anwenden. Handelt es sich danach bei der fraglichen Bestimmung nicht um die Einräumung eines Ermessens an den Versicherungsträger, sondern um die gesetzliche Verpflichtung zur Entziehung einer Rente bei Vorliegen des gesetzlich normierten Sachverhalts, so ist in jeder Lage des Verfahrens von den Gerichten der Sozialversicherung im Rahmen pflichtgemäßer Rechtsanwendung zu prüfen, ob ein entsprechender Tatbestand gegeben ist. Unter diesen Umständen mußte das LSG. auch in zweiter Instanz den § 1293 Abs. 2 RVO a.F. selbst dann anwenden, wenn die Beklagte sich nicht auf ihn berufen hätte. Anders, als es der 3. Senat in seinem Urteil (BSG. 2 S. 209 [216] folgerichtig annehmen mußte, entfällt dann, wenn nicht mehr durch den Übergang von einer rechtlichen Verpflichtung zu einer bloßen Ermessensmöglichkeit der Wesensgehalt des angefochtenen Aktes sich ändert und daher die Rechtsverteidigung beim "Nachschieben" derartiger Rechtsgründe erschwert werden kann, jeder ersichtliche Grund zu einer Beanstandung des Verfahrens. Eine Hinweisverpflichtung auf einzelne gesetzliche Vorschriften, die vom Gericht möglicherweise angewandt werden können, gibt es im Rahmen des sozialgerichtlichen Verfahrens nicht; an eine Versagung des rechtlichen Gehörs könnte in einem derartigen Zusammenhang allenfalls dann gedacht werden, wenn die für die Partei unerwartete Anwendung anderer Vorschriften andere als die bisher für wesentlich gehaltenen Tatsachenkomplexe zur Grundlage habe würde und die Partei durch den fehlenden Hinweis gehindert wäre, ihr erforderlich erscheinende weitere Sachhinweise zu geben und Beweisanträge zu stellen. Im vorliegenden Falle ist jedoch die der Entscheidung zugrunde liegende Feststellung, die Invalidität bestehe an sich nicht, schon in dem landessozialgerichtlichen Verfahren unbestritten geblieben, so daß nicht einzusehen ist, in welcher Weise hier eine unzulässige Beschränkung des rechtlichen Gehörs vorgelegen haben sollte. Auf die Revision mußte somit das angefochtene Urteil wegen mangelnder Anwendung der Vorschrift des § 1293 Abs. 2 RVO a.F. aufgehoben werden.

Der festgestellte Tatbestand ermöglicht dem BSG. eine Entscheidung in der Sache; da die Entziehung der Rente sich aus § 1293 Abs. 2 RVO a.F. aus den oben erörterten Gründen als zutreffend erweist, war die Berufung gegen das Urteil des SG. zurückzuweisen; die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324610

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