Orientierungssatz
Der Rentenversicherungsträger ist verpflichtet, die Kosten für eine Zwangsunterbringung in einer geschlossenen Anstalt zu tragen, auch wenn neben einer Lungentuberkulose Trunksucht besteht, jedoch der Versicherte ausschließlich wegen der ansteckungsfähigen Tuberkulose asyliert worden ist (RVO § 1244a Abs 7 S 3, BSHG § 130).
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 7 S. 3 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 130 Fassung: 1969-09-18
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. November 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist umstritten, ob der Kläger, das Land Niedersachsen, von der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) zu Recht den Ersatz der Kosten verlangt, die ihm durch die Unterbringung und Behandlung des Tbc-kranken Rentners Th. im Niedersächsischen Landeskrankenhaus L, einer geschlossenen Heilstätte, im Jahre 1967 entstanden sind (§ 1244 a Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Bei dem 1907 geborenen Th. wurde 1964 eine Lungen-Tbc festgestellt. Er wurde darauf in verschiedenen Heilstätten auf Kosten der Beklagten behandelt. Am 20. Januar 1967 beantragte das Ordnungsamt der Stadt H beim Amtsgericht (AG) Hannover, Th. wegen ansteckender Krankheit in das Landeskrankenhaus L einzuweisen. In dem dem Antrag beigefügten amtsärztlichen Gutachten wurde eine "offene ansteckungsfähige Lungen-Tbc" angegeben; zum "Umfang der Umgebungsgefährdung" wurde angeführt, Th. treibe sich seit langer Zeit wohnungslos herum, "dazu Alkoholmißbrauch". Das AG erließ am selben Tag einen auf die §§ 8, 11 des Freiheitsentziehungsgesetzes gestützten und mit den §§ 1 bis 3, 37, Abs. 2 Bundesseuchengesetz (BSeuchenG) begründeten Einweisungsbeschluß. Mit Beschluß vom 12. Juni 1967 setzte es die Vollziehung des Unterbringungsbeschlusses bis auf weiteres aus, nachdem das Landeskrankenhaus L die Beurlaubung des Th. aus der Zwangsasylierung (§ 10 Abs. 3 des Freiheitsentziehungsgesetzes) zur Fortsetzung des Heilverfahrens im Landeskrankenhaus Schloß O. vorgeschlagen hatte. Am 27. September 1967 hob das AG den Einweisungsbeschluß auf, weil nach dem Gutachten des Landeskrankenhauses Schloß O. die Voraussetzungen für eine zwangsweise Unterbringung nicht mehr vorlagen; in dem Gutachten war u. a. gesagt, Th. erscheine zwar mindestens einmal wöchentlich angetrunken oder volltrunken, für seine Zurückverlegung in das Landeskrankenhaus L fehlten aber die gesetzlichen Voraussetzungen, nämlich die Ansteckungsfähigkeit der Tbc.
Der Kläger beansprucht von der Beklagten die Kosten der Unterbringung des Th. im Landeskrankenhaus L.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Mai 1972). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger die für die stationäre Behandlung des Th. im Landeskrankenhaus L entstandenen Kosten zu ersetzen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 27. November 1974).
Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt: Die Leistungspflicht des Rentenversicherungsträgers entfalle gemäß § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO immer dann, aber auch nur dann, wenn der an Tbc erkrankte Leistungsberechtigte nach § 130 Bundessozialhilfegesetz - BSHG - wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht worden sei. Bei Th. habe nach ärztlichem Gutachten zwar eine Suchtkrankheit, nämlich Trunksucht, bestanden. Jedoch sei Th. nicht deswegen, sondern ausschließlich wegen der Tbc in Anstaltspflege untergebracht worden. Der Tatbestand des § 130 Abs. 1 BSHG sei nur erfüllt, wenn eines der dort bezeichneten Leiden schon für sich allein den Aufenthalt in der geschlossenen Anstalt erfordert habe. Demgemäß müsse während der Anstaltspflege die neben der Tbc bestehende Krankheit mit den für die Behandlung einer derartigen Krankheit üblicherweise eingesetzten Mitteln und Methoden behandelt worden sein. Das sei nicht geschehen. Wegen Suchtkrankheit habe eine Indikation für eine Unterbringung in Anstaltspflege nicht bestanden. Das werde auch dadurch deutlich, daß das AG den Unterbringungsbeschluß aufgehoben habe, nachdem das Landeskrankenhaus Schloß O. mitgeteilt habe, die Tbc sei nicht mehr ansteckungsfähig. Somit sei allein die Tbc der Faktor gewesen, der die Unterbringung erforderlich gemacht habe.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie hat ausgeführt, bei § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO sei darauf abzustellen, ob die vorliegende Trunksucht für die Zwangseinweisung ein auslösender Faktor gewesen sei. Das LSG berücksichtige nicht, daß die Trunksucht im Landeskrankenhaus L in Form der individuellen Gesprächstherapie und der Alkoholentziehung mit dem Ziel der Entwöhnung behandelt worden sei.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für zutreffend. Im übrigen sei er als Träger des Landeskrankenhauses L nicht der zuständige Kostenträger für die Unterbringung wegen Trunksucht. Er habe lediglich die Unterbringung in diesem Krankenhaus ermöglicht.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Verpflichtung der Beklagten, für Th. stationäre Heilbehandlung wegen Tbc zu gewähren, ist nicht nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO entfallen; denn Th. war nicht wegen eines der in § 130 BSHG aufgeführten Leiden, sondern wegen Tbc zwangsweise untergebracht.
Die Pflicht des Rentenversicherungsträgers, stationäre Heilbehandlung zu gewähren, entfällt nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO i. V. m. § 130 BSHG, wenn der Tbc-Kranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder Suchtkrankheit - Trunksucht - auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist; einem solchen Tbc-Kranken ist während der Unterbringung auch Heilbehandlung von dem für diese Unterbringung zuständigen Kostenträger zu gewähren.
Wird der Tbc-Kranke nur wegen der Tbc untergebracht (§ 37 Abs. 2 BSeuchenG), bleibt der Rentenversicherungsträger für die Kosten der stationären Heilbehandlung leistungspflichtig (SozR Nr. 34 zu § 1244 a RVO). Wie in den Entscheidungen des Senats vom 26. Juni 1973 (SozR Nr. 36 zu § 1244 a RVO) und vom 22. Mai 1974 - 4 RJ 283/72 - ausgeführt, hat die Freistellung von der Kostentragungspflicht nach § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO Vorrang, wenn die Tbc und ein Leiden im Sinn des § 130 BSHG zusammentreffen und auch dieses Leiden die Anstaltsunterbringung erfordert; welche Leiden die Unterbringung erfordern, kann nicht allein den Gründen des Unterbringungsbeschlusses entnommen werden, wenn darin die Tbc allein in den Vordergrund gerückt ist; es bleibt zu prüfen, ob auch eine Suchtkrankheit die Unterbringung notwendig gemacht hat. An dieser Auffassung ist festzuhalten.
Das LSG hat anhand der ärztlichen Gutachten festgestellt, daß Th. nur wegen Tbc, nicht auch wegen Trunksucht, zwangsasyliert wurde. Es hat sich bei dieser Feststellung dadurch bestätigt gesehen, daß trotz fortbestehender Trunksucht des Th. die Aufhebung des Unterbringungsbeschlusses erfolgt ist. Der Art der Behandlung eines Leidens während der Unterbringung ist keine so große Bedeutung für die Frage beizumessen, welche Leiden zur Unterbringung geführt haben, wie es das LSG ausgeführt hat. Um eine Zwangsunterbringung zu rechtfertigen, müssen zum Bestehen eines Leidens weitere Umstände hinzukommen, wie etwa Mißachtung von Absonderungsvorschriften oder Störung der öffentlichen Ordnung. Darüber gibt die Behandlung allein keinen Aufschluß.
Da Th. nur wegen der Tbc untergebracht war, ist die Entscheidung des LSG rechtmäßig.
Der Kläger als Träger des Landeskrankenhauses L. ist berechtigt die Leistung der Beklagten zu verlangen. Die Unterbringungskosten sind bisher dem Kläger allein entstanden; er hatte den gerichtlichen Unterbringungsbeschluß zu vollziehen.
Er hatte aber die Kosten nur vorbehaltlich der Kostentragungspflicht eines Dritten zu übernehmen (§§ 37, 62 BSeuchenG). Dieser Dritte ist die gemäß § 1244 a RVO verpflichtete Beklagte. Die Auffassung des Klägers, Rechtsgrundlage seines Anspruchs sei der im öffentlichen Recht allgemein gegebene Ausgleichsanspruch zwischen Leistungsträgern des öffentlichen Rechts, ist nicht zu beanstanden.
Eine Kostentragungspflicht der beigeladenen Krankenkasse nach § 1244 a Abs. 3 RVO kommt hier nicht in Betracht, weil es sich um eine stationäre Behandlung gehandelt hat.
Die Revision der Beklagten ist somit als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen