Entscheidungsstichwort (Thema)

Tätlicher Angriff. Beweisnot und -erleichterungen im Opferentschädigungsrecht

 

Orientierungssatz

1. Der Senat hält an der Rechtsprechung zur Beweisnot und Beweiserleichterung im Opferentschädigungsrecht (BSG vom 22.6.1988 9/9a RVg 3/87 = SozR 1500 § 128 Nr 34; vom 22.6.1988 9/9a BVg 4/87 = SozR 1500 § 128 Nr 35; vom 31.5.1989 9 RVg 3/89) fest.

2. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen (Gründe vgl BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 19.12.1989 1 BvR 1444/89).

 

Normenkette

OEG § 1 Abs 1 S 1, § 10a

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 21.06.1988; Aktenzeichen L 4 Vg 3/86)

SG Trier (Entscheidung vom 07.08.1986; Aktenzeichen S 4 Vg 3/85)

 

Tatbestand

Der Kläger beantragte 1984 Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) wegen der Folgen von Verletzungen, die er als 19jähriger in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1962 erlitten hat. Er wurde morgens am Fuß eines Pfeilers einer Moselbrücke in Trier schwerverletzt aufgefunden, etwa 15 m unterhalb der Fahrbahn. Der Verlust eines Unterschenkels sowie eine Versteifung des anderen Fußgelenks sind zurückgeblieben. An die vorausgegangenen Vorgänge kann sich der Kläger nicht erinnern. Täter einer Gewalttat sind nicht gefunden worden. Antrag, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Bescheid vom 28. August 1985, Urteile des Sozialgerichts - SG - vom 7. August 1986 und des Landessozialgerichts - LSG - vom 21. Juni 1988). Die Vorinstanzen haben ebenso wie die Verwaltung einen vorsätzlichen tätlichen Angriff (§ 1 OEG), durch den die Schädigung verursacht worden sein müßte, nicht als erwiesen angesehen. Die Art der Verletzungen biete, so das LSG, nach dem rechtsmedizinischen Gutachten von Prof. Dr. R.       keinen überzeugenden Hinweis auf eine gegen den Kläger gerichtete Angriffshandlung. Nach den Befunden sei der Kläger durch den Absturz von der Brücke verletzt worden; er könne auch durch ein Fahrzeug hinuntergeschleudert worden sein. Es gebe keinen Anhalt dafür, daß der Kläger als Opfer eines Unfalles zu dessen Verdunkelung in die Tiefe geworfen worden sei.

Der Kläger beanstandet mit der - vom LSG zugelassenen - Revision die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) für Fälle, in denen eine vorsätzliche Angriffshandlung nicht erwiesen ist. Der Beweisnot solcher Opfer müsse Genüge getan werden. Das LSG habe seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Es hätte durch ein Gutachten klären müssen, warum das Fehlen von Spuren eines Verkehrsunfalles die Möglichkeit einer Kollision mit einem Personenkraftwagen nicht ausschließe. Außerdem hätte es einen Verkehrssachverständigen über die üblichen Spuren eines Unfalles der angenommenen Art und die ehemaligen Polizeibeamten S.        und H.       über das Fehlen von Unfallspuren hören müssen.

Der Kläger beantragt,

die angefochtenen Urteile sowie den Bescheid des Beklagten aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger Versorgung nach dem OEG zu gewähren, hilfsweise, den Großen Senat anzurufen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet.

Das LSG hat mit Recht die Klageabweisung bestätigt. Seine rechtliche Beurteilung deckt sich mit der Rechtsprechung des Senats, auch mit den nachher ergangenen einschlägigen Entscheidungen.

Eine Härteversorgung nach § 10a OEG (idF der Bekanntmachung vom 7. Januar 1985 - BGBl I 1) wegen Folgen einer vor dem 15. Mai 1976 erlittenen Verletzung setzt eine Schädigung iS des § 1 OEG voraus (Urteil des Senats vom 27. April 1989 - 9 RVg 1/88). Hier kommt allein als Ursache ein vorsätzlicher rechtswidriger tätlicher Angriff in Betracht (§ 1 Abs 1 OEG). Ein solcher muß mit einem Handeln in feindseliger Willensrichtung verbunden sein (BSGE 56, 234 = SozR 3800 § 1 Nr 4; BSGE 59, 46, 47 = SozR 3800 § 1 Nr 6). Diese Voraussetzung ist nach dem vom Berufungsgericht festgestellten Sachverhalt, an den das Revisionsgericht gebunden ist (§ 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), nicht erwiesen. Das geht zu Lasten des Klägers. Die Schwierigkeit, eine derartige feindselige Tat nachzuweisen, rechtfertigt keine Beweiserleichterungen über die anerkannten hinaus, die dem Kläger nicht helfen - Glaubhaftmachen von Tatsachen und Anscheinsbeweis (BSGE 63, 270 = SozR 1500 § 128 Nr 34; SozR 1500 § 128 Nr 35; Urteil des Senats vom 31. Mai 1989 - 9 RVg 3/89 -).

An dieser Rechtsprechung hält der Senat trotz des Angriffs der Revision fest. Gegenüber den Begründungen der genannten Entscheidungen hat die Revision nichts Neues vorgebracht. Sie verkennt die Einordnung des OEG in das Recht der sozialen Entschädigung und das begrenzte Regelungsfeld dieses Gesetzes. In den zitierten Entscheidungen hat der Senat auch zu § 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der KOV und zum Beweisnotstand in der Seeunfallversicherung Stellung genommen.

Die Verfahrensrüge der unzureichenden Sachaufklärung (§ 103 SGG) führt nicht zu einer Aufhebung des Berufungsurteils. Der Kläger hat nicht schlüssig dargetan, warum sich dem LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus die als geboten bezeichneten Beweiserhebungen hätten aufdrängen müssen und warum ihr Ergebnis für die Entscheidung tragend gewesen wäre. Das LSG ist Prof. Dr. R.       Beurteilung gefolgt, Anzeichen für eine gewaltsame Handlung einer anderen Person seien nach den medizinischen Befunden nicht zu erkennen. Das ist der maßgebende Sachverhalt.

Ergänzend dazu hat das LSG als Erklärung für den denkbaren Geschehensablauf - neben anderen, nach allgemeiner Lebenserfahrung denkbaren, aber nicht erörterten - die Möglichkeit in Betracht gezogen, daß der Kläger von einem fahrenden Personenkraftwagen erfaßt und über das Brückengeländer geschleudert wurde, und zwar auf Grund eines Gutachtens aus dem Bereich der Rechtsmedizin, zu der auch die Beurteilung von fahrtechnischen Vorgänge einschließlich des von Zeugen bekundeten Fehlens von Unfallspuren (Glassplitter usw) gehört (Klein in: Mueller - Hg -, Gerichtliche Medizin, Band 1, 2. Aufl 1975, 643 ff, 662 ff, bes. 684; Schaidt in: Forster - Hg -, Praxis der Rechtsmedizin für Mediziner und Juristen, 1986, 240, 252 ff). Dies war aber keine tatsächliche Feststellung, auf der das Berufungsurteil beruht. Die darauf bezogenen Verfahrensrügen sind somit nicht schlüssig.

Der Große Senat ist nicht anzurufen, weil der Senat, wie bereits in seiner Rechtsprechung geklärt, nicht von einer Entscheidung des 2. Senats abweicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658506

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