Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgrenzung zwischen Arbeitern und Angestellten. Rentenversicherungszugehörigkeit von Prüfern in der Musterinspektion eines Automobilwerkes
Leitsatz (amtlich)
Für die Bildung der Verkehrsauffassung, wonach eine bestimmte Beschäftigung als die eines Angestellten anzusehen ist, sind die im Bundesgebiet geschlossenen Tarifverträge von entscheidender Bedeutung, wenn sie auf einer langdauernden, beständigen Tarifpraxis beruhen und eine bundesweite Übereinstimmung erkennen lassen (Fortführung von BSG 1978-10-24 12 RK 60/76 = BSGE 47, 106).
Orientierungssatz
Läßt sich eine Beschäftigung (hier: Prüfer in der Musterinspektion eines Automobilwerkes) weder nach § 3 AVG noch nach dem Berufsgruppenkatalog der Angestelltenversicherung zuordnen, dann ist zu prüfen, ob sie der Beschäftigung einer Berufsgruppe entspricht, deren Angehörige nach der Verkehrsanschauung allgemein als Angestellte betrachtet werden; soweit eine allgemeine Verkehrsanschauung nicht festzustellen ist, hängt die versicherungsrechtliche Beurteilung davon ab, ob eine vorwiegend körperliche oder eine überwiegend geistige Beschäftigung ausgeübt wird.
Normenkette
RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 3 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1957-02-23; AnVBerufsBest Fassung: 1924-03-08
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 17.12.1981; Aktenzeichen L 4 Kr 81/80) |
SG Lüneburg (Entscheidung vom 23.09.1980; Aktenzeichen S 9 Kr 44/78) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger in der Rentenversicherung der Arbeiter oder in der Rentenversicherung der Angestellten versicherungspflichtig ist.
Der Kläger ist seit Februar 1970 bei der Beigeladenen zu 3) als Prüfer in der Musterinspektion, einer Unterabteilung der Eingangs- und Musterinspektion, beschäftigt. Dort arbeiten ua 18 Prüfer in drei Gruppen unter je einem Gruppenführer. Die Tätigkeit des Klägers besteht zu 80 vH in der Prüfung von Kaufteilen und zu 20 vH in der Untersuchung innerbetrieblicher Beanstandungen. Die Einzelheiten seiner Tätigkeit ergeben sich aus einer Stellenbeschreibung der Beigeladenen zu 3). Sie sind auch in einem Arbeitsgangverzeichnis für Zeitlöhner, einem Bestandteil der Lohntarifverträge, aufgeführt. Nach einer Beurteilung der für ihn zuständigen Fachabteilung ist seine Tätigkeit zu knapp 60 vH als geistige und zu etwa 40 vH als manuelle Arbeit zu bewerten.
Den auf diese Beurteilung gestützten Antrag des Klägers vom 4. April 1978, seine Zugehörigkeit zur Rentenversicherung der Angestellten festzustellen, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 26. September 1978 ab. Auch der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 24. November 1978). Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat die Klage durch Urteil vom 23. September 1980 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das erstinstanzliche Urteil sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, daß der Kläger als Prüfer in der Rentenversicherung der Angestellten pflichtversichert sei: Zwar werde seine Tätigkeit weder in § 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) noch in der vom früheren Reichsarbeitsminister erlassenen Bestimmung von Berufsgruppen der Angestelltenversicherung vom 8. März 1924 (RGBl I 274) idF der Änderungsverordnungen vom 4. Februar und 15. Juli 1927 (RGBl I 58 und 222) - sogenannter Berufsgruppenkatalog - der Angestelltenversicherung zugeordnet. Es bestehe insoweit auch keine feste Verkehrsauffassung. Das ergebe sich schon daraus, daß die für ihn zuständige Fachabteilung seine Prüftätigkeit als eine Angestelltenbeschäftigung bewertet habe, während die Personalabteilung der Beigeladenen zu 3) Beschäftigte wie den Kläger "nach dem allgemeinen Gesamteindruck" als Arbeiter ansehe. Mangels einer gefestigten und für das gesamte Bundesgebiet einheitlichen Verkehrsauffassung sei daher die Zuordnung des Klägers zur Arbeiterrenten- oder zur Angestelltenversicherung nach der Art seiner Tätigkeit vorzunehmen; ihr "Gesamtbild" werde aber nicht durch den zeitlichen Umfang der einzelnen Tätigkeitsmerkmale, sondern durch den vom Kläger geschuldeten Arbeitserfolg (hier: die Erarbeitung des Musterprüfungsergebnisses bzw des Untersuchungsberichts) geprägt. Dieser Arbeitserfolg sowie der überwiegende Teil der zu ihm führenden Grundtätigkeiten des Klägers seien nach der Stellenbeschreibung der Beigeladenen zu 3) geistig bestimmt (Urteil vom 17. Dezember 1981).
Gegen dieses Urteil richten sich die - vom LSG zugelassenen - Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zu 3): Das LSG sei unzutreffend davon ausgegangen, daß sich bisher noch keine feste bundeseinheitliche Verkehrsanschauung gebildet habe, die den Prüferberuf des Klägers der Arbeiterrentenversicherung zuordne. Der Feststellung einer solchen Verkehrsanschauung stehe nicht entgegen, daß die Tätigkeit eines Prüfers von der zuständigen Fachabteilung des Klägers und der Personalabteilung der Beigeladenen zu 3) unterschiedlich beurteilt werde. Das LSG habe daher nicht von einer entsprechenden Beweisaufnahme absehen dürfen. Schließlich sei das LSG, soweit es sein Ergebnis auf die konkret vom Kläger ausgeübte Tätigkeit gestützt habe, auch von unzutreffenden Annahmen ausgegangen, da der Kläger keine Prüfberichte, sondern nur Meßberichte fertige, bei denen es sich um Bestandteile der Prüfberichte handele. Im Zusammenhang damit habe das LSG auch die Begriffe der körperlichen Arbeit und der "geistig geprägten" Tätigkeiten unrichtig abgegrenzt, insbesondere die körperliche Arbeit zu Unrecht auf einfache manuelle Verrichtungen beschränkt.
Die Beklagte und die Beigeladene zu 3) beantragen, das Urteil des LSG Niedersachsen vom 17. Dezember 1981 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Lüneburg vom 23. September 1980 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revisionen zurückzuweisen.
Er ist der Auffassung, das LSG habe zutreffend entschieden, daß seine Tätigkeit der Angestelltenversicherungspflicht unterliege.
Die Beigeladenen zu 1) und 2) haben keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
Auf die Revisionen der Beklagten und der Beigeladenen zu 3) ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um hieraus die Zugehörigkeit des Klägers zur Angestelltenversicherung oder zur Arbeiterrentenversicherung zu begründen.
Nach § 1227 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) werden alle Personen, die als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigt sind, in der Rentenversicherung der Arbeiter versichert, sofern sie nicht nach den Bestimmungen des Angestelltenversicherungsgesetzes oder anderer Sondergesetze rentenversicherungspflichtig sind.
Das LSG hat zunächst zutreffend festgestellt, daß die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit weder in § 3 AVG noch im Berufsgruppenkatalog der Angestelltenversicherung dieser zugeordnet worden ist. Der Kläger gehört somit nicht zu den Angestellten im Sinne dieser Bestimmungen. In Rechtsprechung und Schrifttum ist jedoch seit langem anerkannt, daß die Zuweisung von Beschäftigten zur Angestelltenversicherung in den genannten Bestimmungen nicht erschöpfend, sondern nur beispielhaft abgegrenzt ist. Vor allem bei Berufsgruppen, die erst in neuerer Zeit entstanden sind, ist deshalb weiter zu prüfen, wie die betreffende Beschäftigung im Arbeitsleben bewertet wird. Das Bundessozialgericht (BSG) hat dabei vorrangig darauf abgestellt, ob die jeweilige Beschäftigung derjenigen einer Berufsgruppe entspricht, deren Angehörige nach der Verkehrsanschauung allgemein als Angestellte betrachtet werden (vgl BSGE 10, 82, 83; 16, 98, 105; 47, 106, 107). Soweit eine allgemeine Verkehrsanschauung nicht festzustellen ist, bestimmt sich die Zuordnung zur Arbeiterrenten- oder zur Angestelltenversicherung nach der konkreten Gestalt des betreffenden Beschäftigungsverhältnisses, dh nach der Art der jeweiligen Tätigkeit, insbesondere nach ihren mehr geistigen oder mehr körperlichen Anforderungen. Feststellungen hierzu sind aber erst geboten, wenn sich eine allgemeine Verkehrsanschauung nicht ermitteln läßt (BSG aa0).
Für die Frage nach dem Bestehen einer allgemeinen Verkehrsanschauung, kommt es, wie das BSG schon wiederholt betont hat (SozR Nrn 12 und 13 zu § 3 AVG; BSGE 47, 106, 107f), auf die Ansicht der beteiligten Berufskreise und der interessierten Öffentlichkeit an. Diese muß sich allerdings, um für den - dem Bundesrecht angehörenden - Angestelltenbegriff relevant zu sein, auf das gesamte Bundesgebiet erstrecken; insbesondere erfüllt eine lediglich regional begrenzte Tarifpraxis nicht die an die Bildung einer allgemeinen Verkehrsanschauung zu stellenden Anforderungen (BSG aa0). Andererseits schließt die - von einer sonst im wesentlichen einheitlichen Auffassung - abweichende Beurteilung einer Tätigkeit in einem einzelnen Unternehmen oder gar, wie hier, in einer von mehreren Abteilungen eines Unternehmens die Feststellung einer allgemeinen Verkehrsanschauung nicht aus. Allgemein bedeutet nicht ausnahmslos, sondern im wesentlichen einheitlich.
Dementsprechend haben die Beklagte und die Beigeladene zu 3) zutreffend gerügt, daß das LSG das Fehlen einer allgemeinen Verkehrsanschauung schon aus einem (vermeintlichen) Widerspruch zwischen der für den Kläger zuständigen Fachabteilung und der Personalabteilung der Beigeladenen zu 3) hergeleitet hat. Das LSG hätte vielmehr der Frage nachgehen müssen, ob sich für die Zuordnung der in einem Automobilwerk beschäftigten Prüfer zur Arbeiterrenten- oder zur Angestelltenversicherung in den beteiligten Berufskreisen und der interessierten Öffentlichkeit des gesamten Bundesgebietes eine bestimmte Verkehrsanschauung gebildet hat (BSG SozR Nr 12 zu § 3 AVG). Hierfür kommt tarifvertraglichen Regelungen, worauf das BSG ebenfalls schon hingewiesen hat, eine erhebliche Bedeutung zu (BSG SozR Nr 13 zu § 3 AVG); ihnen wird sogar eine entscheidende Bedeutung beizumessen sein, wenn sie auf einer langandauernden, beständigen Tarifpraxis beruhen und eine bundesweite Übereinstimmung erkennen lassen. Eine solche übereinstimmende tarifrechtliche Beurteilung läßt, da den Tarifpartnern insoweit bei der Meinungsbildung eine führende Rolle zufällt, auf eine hinreichend gesicherte Verkehrsanschauung schließen, sofern dem nicht etwa im Einzelfall gleichwertige Erkenntnisquellen entgegenstehen. Eine derartige Verkehrsanschauung könnte auch hier in bezug auf die Tätigkeit eines Prüfers in der Musterinspektion eines Automobilwerks bestehen, wenn das Vorbringen der Beklagten und der Beigeladenen zu 3) zutrifft, daß die betreffende Tätigkeit in den einschlägigen Tarifverträgen des gesamten Bundesgebiets der Gruppe der Arbeiter zugeordnet wird.
Die Feststellung, ob eine allgemeine Verkehrsanschauung in diesem Sinne vorhanden ist, kann vom Revisionsgericht nicht nachgeholt werden (BSGE 47, 106, 108), so daß der Rechtsstreit an das LSG zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen