Leitsatz (amtlich)
RVO § 1258 Abs 3 Halbs 1 ist nicht wegen Widerspruchs mit dem Grundgesetz außer Kraft getreten.
Unter "Bestreiten des Unterhalts" im Sinne des RVO § 1258 Abs 3 aF ist nur das Zurverfügungstellen von Unterhaltsmitteln für das Kind, nicht die Betreuung des Kindes zu verstehen. Kann nicht festgestellt werden, in welcher Höhe die Mutter und der Vater den Unterhalt des Kindes bestritten haben, so ist anzunehmen, daß dies entsprechend ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen geschehen ist.
Normenkette
RVO § 1258 Abs. 3 Hs. 1 Fassung: 1955-12-23; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Abs. 2 Fassung: 1949-05-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. August 1958 und des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Juli 1956 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die invalidenversicherten Eltern der am 9. September 1953 geborenen Klägerin sind an den Folgen eines Verkehrsunfalls gestorben, und zwar die Mutter am 2. und der Vater am 7. Juni 1955. Ihr Arbeitseinkommen betrug:
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im Jahre |
Mutter DM |
Vater DM |
1952 |
2 746.- |
3 432.- |
1953 |
1 951.- |
2 973.- |
1954 |
2 882.- |
3 721.- |
vom 1.1. bis 2.6.1955 |
1 214.- |
1 675.- |
Die Beklagte gewährte der Klägerin auf ihren Antrag Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres verstorbenen Vaters, lehnte dagegen ihren Antrag vom 20. Juni 1955 auf Gewährung von Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihrer verstorbenen Mutter durch Bescheid vom 17. März 1956 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 1258 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a.F. seien nicht erfüllt, da nicht die Mutter, sondern der Vater den überwiegenden Unterhalt der Klägerin bestritten habe; denn dieser habe ein höheres Arbeitseinkommen gehabt als die Mutter.
Auf die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage verurteilte das Sozialgericht Hamburg die Beklagte durch Urteil vom 17. Juli 1956 - unter Aufhebung des angefochtenen Bescheids -, der Klägerin Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihrer verstorbenen Mutter vom 1. Juli 1955 an zu gewähren. Es sah die Vorschrift des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) mit Inkrafttreten des GG als aufgehoben an, so daß Waisenrente auch nach der verstorbenen Mutter ohne Einschränkung zu gewähren sei.
Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht durch Urteil vom 28. August 1958 zurück und ließ die Revision zu. Es könne dahingestellt bleiben, ob § 1258 Abs. 3 RVO a.F. grundgesetzwidrig sei; denn der Klägerin stehe der geltend gemachte Anspruch selbst dann zu, wenn dies der Fall sei, da die Mutter vor ihrem Tode die Klägerin überwiegend unterhalten habe. Das Bareinkommen der Mutter sei zwar niedriger gewesen als das des Vaters. Daraus könne aber nur geschlossen werden, daß der Vater zum Gesamtunterhalt der Familie den überwiegenden Anteil beigesteuert habe, nicht jedoch, daß er auch überwiegend den Unterhalt der Klägerin bestritten habe; denn in der Regel werde von dem gemeinsamen Einkommen der Eltern der Mann mehr als die Frau und jeder der beiden Elternteile wiederum mehr als das Kind verbrauchen, zumal wenn es sich, wie in dem zu entscheidenden Falle, um ein zur Zeit des Todes kaum 18 Monate altes Kind handele. Außerdem werde die Unterhaltsleistung zu einem ganz erheblichen Teil durch die Betreuung des Kindes erbracht. Auch diese Leistung stelle einen materiellen Wert dar. Nach allgemeiner Lebenserfahrung müsse angenommen werden, daß der Unterhalt der Klägerin überwiegend in Form der Betreuung geleistet worden sei und daß die daneben erforderlichen Geldaufwendungen in ihrem Wert zurückträten. Die Betreuungsleistungen der Mutter und die aus ihrem Arbeitseinkommen stammenden, für die Klägerin ausgegebenen Barbeträge seien zusammen größer gewesen als die aus dem Arbeitseinkommen des Vaters für die Klägerin ausgegebenen Barbeträge.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte durch Schriftsatz vom 27. September 1958, eingegangen am 30. September 1958, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 7. November 1958, eingegangen am 12. November 1958, begründet. Sie führt aus, § 1258 Abs. 3 RVO a.F. verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 2 GG, da er keine unterschiedliche Regelung für Kinder männlichen und weiblichen Geschlechts zum Inhalt habe. Er verstoße aber auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, da die getroffene Regelung auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei. Der Gesetzgeber habe lediglich verschiedenartige Tatbestände verschieden geregelt, ohne die ihm durch Art. 3 Abs. 1 GG gesetzten Grenzen zu überschreiten. Erfahrungsgemäß bestreite der Vater auch unter Berücksichtigung der heutigen soziologischen Verhältnisse in der Regel den Unterhalt für die ehelichen Kinder. Bei der Anwendung des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. habe das Landessozialgericht den Begriff der überwiegenden Unterhaltsgewährung verkannt. Es sei irrigerweise nicht allein von den Einkommensverhältnissen der Ehegatten ausgegangen, sondern habe auch die Betreuungsleistungen für das Kind mitberücksichtigt. Nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes seien aber nur die Barleistungen der Ehegatten maßgebend. Da das Jahreseinkommen des Vaters höher als das der Mutter gewesen sei, habe also nicht die Mutter, sondern der Vater den Unterhalt der Klägerin überwiegend bestritten. Die Voraussetzungen für die Gewährung der Waisenrente seien daher nicht erfüllt. Selbst wenn man aber im Grundsatz der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts folgen wolle, müsse das angefochtene Urteil doch aufgehoben werden, weil es auf einem wesentlichen Verfahrensmangel beruhe; denn das Landessozialgericht habe die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten. Aus den Aussagen des Zeugen M und dessen Ehefrau gehe hervor, daß die Klägerin weder allein noch überwiegend von ihrer verstorbenen Mutter betreut worden sei. Die Betreuung sei vielmehr sowohl von der Mutter wie von dem Vater und der Zeugin M in etwa gleichem Umfange erfolgt. Der Zeuge M habe ausgesagt, daß seine Ehefrau die Klägerin während der Abwesenheit von deren Mutter betreut habe und daß der Vater die Betreuung übernommen habe, sobald er nach Hause gekommen sei. Diese Aussagen habe das Landessozialgericht unberücksichtigt gelassen.
Sie hat beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. August 1958 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Juli 1956 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Der zulässigen Revision konnte der Erfolg nicht versagt bleiben.
Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts hat die Klägerin keinen Anspruch auf Waisenrente aus der Versicherung ihrer verstorbenen Mutter. Da der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) eingetreten ist, richtet sich der geltend gemachte Anspruch gemäß Art. 2 § 5 ArVNG nach § 1258 a.F.. Art. 2 § 20 a.a.O. schreibt zwar als Ausnahme zu Art. 2 § 5 a.a.O. vor, daß § 1267 RVO auch für die vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfälle gilt, diese Vorschrift ist jedoch nach Art. 2 § 44 ArVNG in vorliegendem Fall nicht anwendbar, weil es sich um eine beim Inkrafttreten des ArVNG vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebende Sache handelt.
Die Voraussetzungen des § 1258 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 RVO a.F. sind zwar, wie auch zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, erfüllt, da die Klägerin ein Kind der Versicherten ist und das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Es war jedoch zu prüfen, ob die einschränkende Vorschrift des Abs. 3, erster Halbsatz der Rentengewährung entgegensteht. Die Klägerin ist eine eheliche Tochter des "hinterbliebenen" Ehemanns der Versicherten; denn die Versicherte ist vor ihrem Ehemann gestorben und die Ehe hat bis zum Tode der Versicherten bestanden. Die Klägerin hat daher nur dann Anspruch auf Waisenrente, wenn die Versicherte vor ihrem Tode den Unterhalt der Klägerin überwiegend bestritten hat. Dies war jedoch nicht der Fall. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die Betreuung eines Kindes durch seine Eltern kein Unterhalt im Sinne dieser Vorschrift. Schon der Gesetzeswortlaut spricht dagegen; nach allgemeinem Sprachgebrauch versteht man unter dem Begriff "Bestreiten des Unterhalts" das Zurverfügungstellen der Unterhaltsmittel. Hätte der Gesetzgeber nicht nur die Unterhaltsmittel, sondern auch die Betreuung der Kinder als Unterhalt im Sinne dieser Vorschrift angesehen, so würde er zudem wohl kaum die Sonderregelung des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. in dieser Form erlassen haben, da sie nach damaligem bürgerlichen Recht zu Ergebnissen geführt hätte, die kaum als sinnvoll bezeichnet werden können. Die kleineren Kinder einer vermögens- und einkommenslosen Ehefrau, bei denen die - im wesentlichen von der Mutter erbrachten - Betreuungsleistungen im Verhältnis zu den vom Vater aufgebrachten Unterhaltsmitteln in der Regel im Vordergrund stehen, würden danach beim Tode der versicherten Mutter Waisenrente erhalten haben, während die größeren Kinder, bei denen die Betreuungsleistungen im Verhältnis zu den vom Vater erbrachten Unterhaltsmitteln in der Regel in ihrer Bedeutung zurücktreten, keine Waisenrente bei dem Tode der Mutter erhalten hätten. Es kann nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber diese Regelung gewollt hat. Dies bestätigt, daß das Gesetz unter Unterhalt nur die Unterhaltsmittel versteht. Hinzu kommt, daß die Rentenversicherung Schutz gegen die Minderung oder den Wegfall der Erwerbsfähigkeit des Versicherten bietet, die Hinterbliebenenrenten also den Zweck haben, den infolge des Todes des versicherten Ernährers wegfallenden, unmittelbar oder wenn er bereits Invalidenrente bezog, mittelbar aus Erwerbstätigkeit stammenden Unterhalt zu ersetzen. Zwar hat der Gesetzgeber in § 1258 Abs. 3 RVO a.F. nicht auf den aus Erwerbstätigkeit stammenden Unterhalt, sondern allgemein auf den Unterhalt abgestellt. Hierin liegt sicherlich eine Ausweitung des nach diesen Grundsätzen eigentlich zulässigen Unterhaltsbegriffs, da danach auch die aus Vermögen stammenden Unterhaltsmittel zu berücksichtigen sind. Jedoch konnte der Gesetzgeber diese Ausweitung unbedenklich vornehmen, weil bei dem Kreis der betroffenen Personen praktisch doch nur das Einkommen aus Erwerbstätigkeit eine Rolle spielt. Es geht aber nicht an, eine sich noch weiter von dem Zweck der Hinterbliebenenrenten entfernende Auslegung des Begriffs "Unterhalt" vorzunehmen, an welche der Gesetzgeber bei Erlaß dieser Vorschrift wohl nicht gedacht hat, indem auch die Betreuungsleistungen als Unterhalt im Sinne dieser Vorschrift angesehen werden, zumal diese Ausweitung anders als die von dem Gesetzgeber selbst vorgenommene Ausweitung für den Kreis der rentenversicherten Personen eine praktisch ins Gewicht fallende Rolle spielt. Aus § 1258 Abs. 3 RVO a.F. selbst ergibt sich also schon mit genügender Deutlichkeit, daß unter Unterhalt nur die Unterhaltsmittel zu verstehen sind. Bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes ist dies auch nicht zweifelhaft gewesen. Zweifel sind erst unter der Herrschaft des Gleichberechtigungsgrundsatzes des Art. 3 Abs. 2 GG aufgetreten. Da nach diesem Grundsatz (vgl. Gleichberechtigungsgesetz vom 18.Juni 1957 (BGBl. I S. 609)) auch die von der Frau durch Führung des Haushalts und Betreuung der Kinder erbrachten Leistungen den durch Zurverfügungstellung der Unterhaltsmittel erbrachten Leistungen des Mannes gleichwertig sind, konnte die Frage auftauchen, ob die Haushaltführung und die Betreuung der Kinder durch die Frau nicht auch als Unterhalt im Sinne des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. anzusehen sind. Das kann jedoch nicht angenommen werden. Es ist zwar richtig, daß nunmehr diese Leistungen der Frau denen des Mannes gleichwertig sind, sie sind ihnen aber nicht gleichartig, und zwar gerade in dem für die Anwendung des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. entscheidenden Gesichtspunkt, da keine Unterhaltsmittel zur Verfügung gestellt werden. Eine andere Frage ist, ob nicht der bürgerlich-rechtliche Begriff des Unterhalts auch für das Recht der Rentenversicherung maßgebend ist. Wenn man dies auch grundsätzlich bejahen kann, so doch höchstens soweit, wie das Sozialversicherungsrecht selbst keinen eigenen ausreichenden Anhalt für die Auslegung des Unterhaltsbegriffs bietet, es also ergänzungsbedürftig ist. Die entsprechende Anwendung des bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsbegriffs muß also seine Grenze dort finden, wo eigenständige sozialversicherungsrechtliche Regelungen vorhanden oder doch ausreichend deutlich erkennbar sind. Wie aber bereits dargelegt, bestehen in § 1258 Abs. 3 RVO a.F. in ausreichendem Umfang Anhaltspunkte dafür, daß diese Vorschrift unter Unterhalt nur die Zurverfügungstellung von Unterhaltsmitteln versteht. Der abweichende Unterhaltsbegriff des bürgerlichen Rechts kann insoweit jedenfalls nicht Platz greifen. Es kommt also nach wie vor allein darauf an, ob die Mutter überwiegend die Unterhaltsmittel für das Kind zur Verfügung gestellt hat. Das Berufungsgericht meint allerdings, man müsse annehmen, daß die Eltern mehr als das Kind und der Mann mehr als die Frau von dem Gesamteinkommen verbraucht hätten. Das Erstere wird zwar in der Regel richtig sein, hieraus ergibt sich aber nichts für die Beurteilung der hier zu entscheidenden Frage; denn das Verhältnis zwischen den für die Klägerin erbrachten Leistungen der Eheleute wird dadurch in keiner Weise berührt. Das Zweite könnte, wenn es im Einzelfall festgestellt werden könnte, für die hier zu entscheidende Frage zwar von Bedeutung sein, einen allgemeinen Erfahrungssatz, daß in der Ehe der Mann mehr verbraucht als die Frau, gibt es jedoch entgegen der Annahme des Berufungsgerichts nicht. Da im vorliegenden Fall nicht festzustellen ist, in welcher Höhe die Elternteile den Unterhalt der Klägerin bestritten haben, muß man annehmen, daß dies entsprechend ihrer bürgerlich-rechtlichen Unterhaltsverpflichtung (§§ 1601 ff BGB) gemäß ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen (§ 1606 Abs. 3 BGB) geschehen ist. Wenn auch erst das Gleichberechtigungsgesetz die heute geltende, dem Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 2 GG gemäße Fassung des § 1606 Abs. 3 BGB gebracht hat, so sind doch deren Grundsätze auch schon für die hier maßgebende Zeit (vor Juni 1955) anzuwenden, da sie sich im Grunde schon aus Art. 3 Abs. 2 GG ergeben.
Da die Mutter der Klägerin nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ein niedrigeres Erwerbseinkommen als der Vater hatte, muß daher angenommen werden, daß sie den Unterhalt der Klägerin nicht überwiegend bestritten hat. Der Klägerin steht somit ein Anspruch auf Waisenrente aus der Versicherung ihrer verstorbenen Mutter nicht zu.
Es war allerdings noch zu prüfen, ob § 1258 Abs. 3, erster Halbsatz RVO a.F. nicht wegen Verstoßes gegen Vorschriften des Grundgesetzes mit Inkrafttreten des Grundgesetzes außer Kraft getreten ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Insbesondere steht diese Vorschrift nicht mit Art. 3 Abs. 1 und 2 GG in Widerspruch. Geht man von den Ansprüchen der Waisen aus, so liegt offensichtlich keine unterschiedliche Regelung für Waisen männlichen und weiblichen Geschlechts vor, so daß ein Verstoß gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 3 GG nicht vorliegen kann. Andererseits besteht allerdings eine unterschiedliche Regelung zwischen den Waisen einer Ehefrau und denen aller anderen Versicherten. Dies steht jedoch nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG in Widerspruch, da diese unterschiedliche Regelung als sachgemäß und nicht als willkürlich anzusehen ist. Die zu regelnden Sachverhalte unterscheiden sich darin, daß bei einer Ehefrau im Gegensatz zu allen anderen Versicherten in der Regel, d.h., wenn sie nicht selbst Einkünfte aus Erwerbstätigkeit hat - Einkünfte aus Vermögen könnten bei dem Kreis dieser Personen praktisch außer Betracht bleiben - angenommen werden kann, daß nicht sie, sondern der Ehemann die Unterhaltsmittel für die Kinder zur Verfügung stellt. Wenn auch Frauen heute mehr als früher erwerbstätig zu sein pflegen, so ist dies doch hauptsächlich bei unverheirateten Frauen sowie bei verheirateten Frauen, die keine betreuungsbedürftigen Kinder haben, der Fall. Bei den durch § 1258 Abs. 3 RVO a.F. betroffenen Frauen handelt es sich aber um verheiratete Frauen mit meist noch betreuungsbedürftigen Kindern. Man kann daher nicht annehmen, daß diese Frauen in der Regel erwerbstätig sind. Eine andere Frage ist allerdings, ob nicht etwa deshalb ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 und 2 GG gegeben sein könnte, weil an die Beiträge der versicherten Ehefrau insofern geringere Wirkungen geknüpft werden als an die des Ehemannes und auch aller anderen Versicherten, als aus ihren Beiträgen - im Gegensatz zu den nach denselben Grundsätzen erhobenen Beiträgen des Ehemannes und auch aller anderen Versicherten - bei ihrem Tode nicht in jedem Fall Waisenrentenansprüche ihrer Kinder entstehen. Aber auch unter diesem Gesichtspunkt liegt ein Verstoß gegen den Gleichberechtigungsgrundsatz nicht vor. Es geht nicht an, die an die Beiträge des Versicherten geknüpften Leistungsarten einzeln für sich zu betrachten, sondern das Versicherungsverhältnis muß als Ganzes gesehen werden. Dann aber ist festzustellen, daß die versicherte Ehefrau hinsichtlich anderer Leistungsarten auch günstiger gestellt ist als der Mann und alle anderen Versicherten. So wurde z.B. nach § 1253 Abs. 3 RVO a.F. unter gewissen Voraussetzungen bereits Invalidenrente gewährt, ohne daß die versicherte Ehefrau invalide war. Es ist insgesamt gesehen nichts dafür ersichtlich, daß in der Invalidenversicherung an die Beiträge einer Ehefrau geringere Leistungen geknüpft waren als an die des Ehemannes und anderer Versicherter.
Man könnte an einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG allerdings auch deshalb denken, weil wegen der Fassung des § 1258 Abs. 3 RVO, nach welcher es darauf ankommt, ob die Waise ein eheliches Kind des "hinterbliebenen Ehemannes" ist, dasjenige Kind, dessen Vater kurz vor oder gleichzeitig mit der Mutter gestorben ist, besser gestellt ist als das Kind, dessen Vater kurz nach der Mutter gestorben ist, obwohl diese Fälle eigentlich gleich zu behandeln wären. Gedacht hat der Gesetzgeber bei der Regelung des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. an eine Einschränkungsmöglichkeit in den Fällen, in denen die Ehefrau nur ausnahmsweise die Unterhaltsmittel für die Kinder zur Verfügung gestellt hat, in denen also während eines für die Beurteilung dieser Frage hinreichenden Zeitraums beide Ehegatten gelebt haben. Die hiernach nicht ganz glückliche und auch im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG nicht unbedenkliche Abgrenzung in § 1258 Abs. 3 RVO a.F. kann aber nicht zur Folge haben, daß diese Vorschrift als aufgehoben angesehen werden muß, sondern allenfalls nur, daß im Wege verfassungskonformer Auslegung eine zutreffende Abgrenzung vorgenommen wird. Zu Gunsten der Klägerin könnte sich dies jedoch nicht auswirken, da dies nur dazu führen könnte, auch die Fälle, in denen der Vater gleichzeitig mit oder kurz vor der Mutter gestorben ist, der Einschränkungsmöglichkeit des § 1258 Abs. 3 RVO a.F. zu unterwerfen, keinesfalls aber, daß der hier zu entscheidende Fall nicht dieser Einschränkungsmöglichkeit unterliegt.
Da der Klägerin somit ein Anspruch auf Waisenrente aus der Versicherung ihrer Mutter nicht zusteht, mußten das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 17. Juli 1956 aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1984150 |
BSGE, 1 |