Verfahrensgang
LSG Hamburg (Urteil vom 03.05.1973) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. Mai 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach ihrer Wiedererkrankung an den Folgen eines Arbeitsunfalls Anspruch auf Verletztengeld hat und wie lange dieses zu gewähren ist.
Die Klägerin zog sich bei einem Arbeitsunfall am 8. Oktober 1951 einen Schlüsselbeinbruch und ein Schädelhirntrauma zu. Unfallfolgen bestanden in den nächsten Jahren in wechselnder Stärke. Auf Grund eines sozialgerichtlichen Vergleichs vom 25. April 1963 bezieht sie seit Mai 1962 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 v.H. In der Zeit vom 19. März 1953 bis 31. März 1966 war die Klägerin mit krankheitsbedingten Unterbrechungen als Telefonistin beschäftigt. Vom 4. April bis zum 24. April 1966 bezog sie Arbeitslosengeld. Am 25. April 1966 erkrankte sie erneut an den Folgen der Schulterverletzung. Zahlreiche Operationen zur Beseitigung einer Pseudarthrose blieben ohne Erfolg. Ihren bisherigen Beruf hat sie seither nicht mehr ausüben können. Bis zum 10. Juni 1966 erhielt sie Krankengeld in Höhe des Arbeitslosengeldes bzw Hausgeld. Durch formlosen Bescheid vom 30. August 1966 lehnte es die Beklagte ab, der Klägerin Verletztengeld zu zahlen, da diese nicht arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung sei; sie habe am 25. April 1966 nicht in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden. Daraufhin beantragte die Klägerin im November 1966 die Festsetzung der Dauerrente nach einem höheren Grad der MdE. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Januar 1967 unter Hinweis auf § 622 Abs. 3 und 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben und diese am 27. Juni 1967 – also noch innerhalb der Jahresfrist des § 66 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG – auf den formlosen Bescheid vom 30. August 1966 erweitert. In erster Linie strebt sie die Zahlung des Verletztengeldes an, hilfsweise die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um mehr als 30 v.H. Nach Einholung von Gutachten hat das Sozialgericht die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30. August 1966 verurteilt, der Klägerin aus Anlaß der Wiedererkrankung für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit vom 25. April 1966 an bis auf weiteres Verletztengeld zu zahlen (Urteil vom 25. November 1971). Die Klägerin sei arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung, und auch Arbeitslose könnten arbeitsunfähig werden.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Berufung eingelegt. Diese hat das Landessozialgericht (LSG) am 3. Mai 1973 mit der Begründung zurückgewiesen, auch eine Arbeitslose könne arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung sein, und als solche stehe ihr Verletztengeld bis auf weiteres zu. Eine zeitliche Begrenzung hätte, wenn sie der Gesetzgeber beabsichtigt haben sollte, in den besonderen Vorschriften über die Gewährung des Verletztengeldes aufgenommen werden müssen. Deshalb sei auch der – nebenbei geäußerten – Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG in seinem Urteil vom 10. September 1971 (BSG 33, 134) nicht zuzustimmen. Nach § 560 Abs. 1 RVO habe der Verletzte „solange” Anspruch auf Verletztengeld, als er infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung sei und soweit er Arbeitsentgelt nicht erhalte. Zwischen den Beteiligten sei unstreitig, daß die Klägerin arbeitsunfähig sei, aber nicht erwerbsunfähig. Die zeitliche Begrenzung von 78 Wochen spiele nur in der Krankenversicherung (§ 183 Abs. 2 RVO) für den Beginn der Rente eine Rolle und sei nur in § 580 RVO als besondere Regelung ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen worden.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die zugelassene Revision eingelegt. Sie meint, wenn bei einer Wiedererkrankung als Unfallfolgen das Verletztengeld zeitlich unbeschränkt zu gewähren sei, so werde damit für einen erheblichen Teil der einschlägigen Fälle die Vorschrift des § 587 Abs. 1 RVO (Erhöhung einer Teilrente auf die Vollrente bei Arbeitslosigkeit) gegenstandslos. Die Anwendungsmöglichkeiten aus § 562 Abs. 2 Satz 1 und § 587 Abs. 1 RVO überschnitten sich. Im übrigen zeige § 580 Abs. 1 RVO, wonach die Verletztenrente spätestens mit dem Beginn der 79. Woche nach dem Unfall zu gewähren sei, den Grundsatz auf, daß das Verletztengeld aus der Unfallversicherung nur für 78 Wochen zu gewähren sei. Unbilligkeiten könne dann durch die §§ 587 Abs. 1 und 581 Abs. 2 RVO Rechnung getragen werden. Ein Unfallverletzter, der nicht i.S. des § 562 Abs. 2 Satz 1 RVO wiedererkranke, könne über die 78. Woche nach dem Unfall grundsätzlich kein Verletztengeld erhalten. Die Klägerin könne nicht bessergestellt werden.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der beiden angefochtenen vorinstanzlichen Entscheidungen die gegen den formlosen Bescheid der Beklagten vom 30. August 1966 gerichtete, die Zahlung von Verletztengeld für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin vom 25. April 1966 bis auf weiteres begehrende Klage der Klägerin abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie vermag keine überzeugenden Argumente zu erblicken, die auf eine unrichtige Rechtsanwendung seitens des Berufungsgerichts schließen ließen, betont aber, daß sie ihren Hilfsantrag auf die Gewährung einer höheren Dauerrente auch in der 2. Instanz aufrechterhalten habe und noch heute aufrechterhalte.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Nach § 560 Abs. 1 Satz 1 RVO – in der hier maßgebenden Fassung vor dem Inkrafttreten des § 21 Nr. 44 des Rehabilitations-Angleichungsgesetzes vom 7. August 1974 (BGBl I 1881) – erhält der Verletzte, solange er infolge des Arbeitsunfalls arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung ist und soweit er Arbeitsentgelt nicht erhält, Verletztengeld. Nach § 562 Abs. 1 RVO fällt das Verletztengeld mit dem Tage weg, für den erstmalig Verletztenrente gewährt wird. Nach Abs. 2 Satz 1 aaO gelten im Falle der Wiedererkrankung an Unfallfolgen die §§ 560, 561 RVO entsprechend, es sei denn, daß der Verletzte erwerbsunfähig i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO ist. Nach den Feststellungen des LSG – das ist im übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig – liegt bei der Klägerin keine Erwerbsunfähigkeit i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO vor. Zu Recht hat das LSG die Klägerin auch für arbeitsunfähig i.S. der gesetzlichen Krankenversicherung gehalten, denn auch ein arbeitslos gemeldeter Unfallversicherter kann arbeitsunfähig werden. Derjenige Verletzte, der durch die Folgen des Arbeitsunfalls seine Fähigkeit zur Arbeitsleistung eingebüßt hat, steht der Arbeitsvermittlung nicht mehr zur Verfügung (§ 103 Abs. 1 Arbeitsförderungsgesetz). Er hat somit die Möglichkeit verloren, in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit einen ihm zumutbaren Arbeitsplatz zu finden bzw. in einen solchen vermittelt zu werden; ihm steht sonach – bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen des § 560 RVO – ein Anspruch auf Verletztengeld zu, wenn diese Leistung an die Stelle des Arbeitslosengeldes tritt (siehe Urteil des Senats in BSG 35, 65, 68). Das wird letztlich von der Revision auch nicht bestritten. Sie meint nur, das Verletztengeld sei allenfalls bis zu einer Dauer von 78 Wochen zu zahlen, und sie beruft sich dazu vor allem auf § 580 Abs. 1 RVO. Nach dieser Vorschrift, die unter der Überschrift „2. Renten an Verletzte” steht, erhält der Verletzte die Rente mit dem Tage nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit i.S. der Krankenversicherung, wenn die zu entschädigende MdE über die 13. Woche nach dem Arbeitsunfall hinaus andauert, spätestens jedoch mit dem Beginn der 79. Woche nach dem Arbeitsunfall, es sei denn, daß sich der Verletzte dann noch in Heilanstaltspflege befindet. Dabei bezieht sich der letzte Halbsatz des § 580 Abs. 1 RVO nur auf Verletzte, die zu Beginn der 79. Woche nach dem Arbeitsunfall noch arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung sind und nicht schon wegen Erwerbsunfähigkeit i.S. der 2. Alternative des § 580 Abs. 1 RVO Anspruch auf Verletztenrente haben (vgl. Urteil des Senats vom 26. Juni 1973 in SozR Nr. 3 zu § 580 RVO). Diese Vorschrift kann hier aber schon deshalb nicht zum Zuge kommen, weil die Klägerin schon bei Beginn der hier streitigen Arbeitsunfähigkeit eine Verletztenrente bezogen hat. Andererseits ergibt sich aus dieser Vorschrift, daß ein Unfallverletzter, sofern er auch noch nach dem Ablauf von 78 Wochen arbeitsunfähig i.S. der Krankenversicherung ist – jedenfalls unter den im letzten Halbsatz dieser Vorschrift genannten Umständen – auch über die 78. Woche hinaus Verletztengeld erhält. Darüber, was im Falle einer Wiedererkrankung zu gelten hat, die viele Jahre nach dem Arbeitsunfall auftritt, trifft § 580 Abs. 1 RVO jedoch keine Bestimmung. Das LSG hat deshalb zutreffend darauf hingewiesen, daß – jedenfalls in diesen Fällen – eine Begrenzung des Verletztengeldes auf 78 Wochen dann, wenn sie der Gesetzgeber beabsichtigt haben sollte, in die besonderen Vorschriften über die Gewährung des Verletztengeldes – insbesondere in § 562 Abs. 2 RVO – hätte aufgenommen werden müssen. Dies um so mehr, als in § 560 Abs. 1 RVO wie auch in § 562 Abs. 1 RVO besondere – und zwar andere – Regelungen über die Dauer dieser Leistungen enthalten sind. § 562 Abs. 2 Satz 1 RVO erklärt andererseits ausdrücklich nur § 560 RVO, der Verletztengeld zuspricht, „solange” Arbeitsunfähigkeit besteht, sowie § 561 RVO, der die Berechnung des Verletztengeldes regelt, für entsprechend anwendbar. § 561 RVO verweist ebenso wie § 560 RVO im wesentlichen auf § 182 RVO, nicht aber auf § 183 Abs. 2 Satz 1 RVO, nach dem Krankengeld ohne zeitliche Begrenzung gewährt wird, jedoch für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit nur für höchstens 78 Wochen innerhalb von je drei Jahren, gerechnet von dem Tage des Beginns der Arbeitsunfähigkeit an. Aus alledem ist zu schließen, daß weder diese Vorschrift noch der in § 580 Abs. 1 RVO enthaltene Grundsatz einer Beschränkung auf 78 Wochen für den Fall der Wiedererkrankung entsprechend anwendbar ist. Eine zeitliche Begrenzung mittelbar aus der allein den Beginn der Verletztenrente bestimmenden Regelung des § 580 Abs. 1 RVO zu entnehmen, ist somit nicht möglich (ebenso: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1974, Band II S. 566 c und Thiel in BG 1973, 30 f). Zwar hat der 5. Senat des BSG in BSG 33, 134, 135 ausgesprochen, er neige zu der Auffassung, daß das Verletztengeld, wie sich mittelbar aus § 580 Abs. 1 RVO mit genügender Deutlichkeit ergebe, allenfalls bis zu 78 Wochen zu zahlen wäre. Wegen seiner abweichenden Ansicht brauchte der erkennende Senat jedoch nicht den Großen Senat gemäß § 42 SGG anzurufen, denn abgesehen davon, daß diese Entscheidung stark durch die Besonderheiten des Einzelfalles geprägt ist, in dem zu entscheiden war, unter welchen Voraussetzungen einem Bergmann, der auf Anordnung der Berufsgenossenschaft oder der Bergbehörde seine Untertage-Tätigkeit wegen der Gefahr der Verschlimmerung seiner Silikose aufgeben muß, Verletztengeld bzw. Übergangsleistungen nach § 5 der 3. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) bzw. § 3 der 7. BKVO zu gewähren ist, war in dieser Streitsache zunächst noch ungeklärt, ob überhaupt eine Arbeitsunfähigkeit i.S. der Krankenversicherung bestand. Da deshalb die Sache an das LSG zurückverwiesen werden mußte, hat sich der 5. Senat in dieser Rechtsfrage ersichtlich nicht festgelegt, sondern nur erklärt, er neige zu der obengenannten Auffassung (siehe dazu auch Thiel aao S. 31).
Ob die Ansicht der Revision, daß nach dem Beginn der 79. Woche dem Wiedererkrankten dadurch geholfen werden könnte, daß eine Rentenerhöhung nach § 587 Abs. 1 RVO vorgenommen werde, zutrifft, mag zweifelhaft sein. Denn § 587 RVO setzt voraus, daß der Verletzte „infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen” ist. Hieran könnte es fehlen, wenn die Arbeitsunfähigkeit infolge der Wiedererkrankung während der Zeit eintritt, in der der Verletzte – wie hier -wegen Arbeitslosigkeit kein Arbeitseinkommen hat (siehe dazu auch Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand September 1974, § 587 Anm. 2 S. 516). Im übrigen kann die Vorschrift des § 587 Abs. 1 RVO schon mit Rücksicht auf ihre ganz andere Zweckbestimmung für eine zeitliche Begrenzung des Verletztengeldes nicht herangezogen werden.
Wenn die Revision ferner meint, der Klägerin könne nach § 581 Abs. 2 RVO geholfen werden, so ist dazu zu bemerken, daß die Beklagte, selbst unter Berücksichtigung dieser von Amts wegen zu beachtenden Vorschrift, die MdE nicht höher als 30 v.H. eingeschätzt hat. Im übrigen sind die Kriterien dieser Vorschrift andere als die des § 562 Abs. 2 RVO.
Der Revision ist einzuräumen, daß eine viele Jahre hindurch bestehende „Arbeitsunfähigkeit” – ohne daß diese nach angemessener Zeit zur „Erwerbsunfähigkeit” wird – mit den in der Sozialversicherung üblichen Vorstellungen nicht in Einklang steht; vielmehr lassen diese den Grundsatz erkennen, daß sich an die wegen Arbeitsunfähigkeit gewährten Leistungen zu gegebener Zeit die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit anschließt. Doch will die Beklagte im Grunde weder die eine noch die andere Art von Leistungen (hier Erhöhung der Verletztenrente) gewähren. Im übrigen wäre es in solchen Fällen Sache der Beklagten, nach einer gewissen Übergangszeit im Wege der Berufshilfe (§ 556 Abs. 1 Nr. 2 RVO) mit allen geeigneten Mitteln besorgt zu sein, die Klägerin zur Aufnahme notfalls eines anderen Berufs oder einer anderen Erwerbstätigkeit zu befähigen, um so die Arbeitsunfähigkeit möglichst zu beseitigen (vgl. dazu grundlegend BSG 19, 179, 181 ff sowie BSG 26, 288, 290). Sie hat – wie schon angedeutet – ferner die Möglichkeit, dem Hilfsantrag der Klägerin auf Gewährung einer höheren Rente (vgl. Bl. 157 Rs. der SG-Akten), der laut Sitzungsniederschrift vom 5. Mai 1973 vor dem LSG nicht zurückgenommen worden ist, zu entsprechen. Dazu dürfte auch deshalb Veranlassung bestehen, weil die Beklagte im Revisionsverfahren selbst angedeutet hat, daß dieses Begehren nicht aussichtslos erscheine (vgl. S. 7 der Revisionsbegründungsschrift). Nach alledem war – wie geschehen – zu erkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen