Leitsatz (amtlich)
Ist ein Versicherter infolge Krankheit mehr als einen Monat erwerbsunfähig und wird er anschließend wieder versicherungspflichtig beschäftigt oder tätig, ist die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nur unterbrochen. Eine solche nicht mit Beiträgen belegte Zeit ist Ausfallzeit nach RVO § 1259 Abs 1 Nr 1.
Orientierungssatz
Die Zeit einer vorübergehenden Erwerbsunfähigkeit, der eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nachfolgt, ist eine Ausfallzeit nach RVO § 1259 Abs 1 Nr 1, und zwar unabhängig davon, ob für diese Zeit ganz, teilweise oder überhaupt nicht Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit (RVO § 1276) oder eine Dauerrente wegen Erwerbsunfähigkeit (RVO § 1247) gewährt worden ist oder eine derartige Zeit- oder Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse entzogen worden ist (RVO § 1286). Damit wird auch voll dem Sinn und Zweck der Ausfallzeitenregelung Rechnung getragen, dem Versicherten einen angemessenen Ausgleich für unverschuldeten Beitragsausfall zu gewähren und ihn vor Nachteilen zu bewahren, die er sonst in der Rentenversicherung dadurch erleiden würde, daß er durch von ihm nicht zu vertretende Umstände für bestimmte Zeiten vom Erwerbsleben ausgeschlossen war (so auch BSG 1968-05-03 1/12 RJ 440/67 = BSGE 28, 68, 69).
Normenkette
RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1276 Fassung: 1957-02-23, § 1286 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 30. September 1974 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1966 als Ausfallzeit bei der dem Kläger gewährten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) anzurechnen hat.
Der ... 1912 geborene Kläger, der am 2. Dezember 1965 einen Herzinfarkt erlitten hatte, bezog vom 3. Dezember 1965 bis 10. Juni 1967 Krankengeld und während eines Heilverfahrens vom 19. Oktober bis 16. November 1966 Übergangsgeld. Die Beklagte gewährte dem Kläger vom 1. Januar bis 31. Dezember 1967 Rente wegen EU auf Zeit unter Berücksichtigung des Ersatzanspruchs der Krankenkasse.
Vom 12. Juni 1967 bis 10. Oktober 1970 war der Kläger wieder versicherungspflichtig beschäftigt, jedoch innerhalb dieser Zeit vom 25. September bis 1. November 1967, 4. Juli bis 8. August 1968, 30. März bis 25. April 1969 und vom 9. März bis 29. Juli 1970 arbeitsunfähig krank. Nach einem weiteren Heilverfahren vom 10. Juni bis 22. Juli 1970 gewährte die Beklagte dem Kläger auf dessen Antrag vom 14. Oktober 1970 Rente wegen EU vom 1. November 1970 an (Bescheid vom 7. Juni 1971). Sie ließ die streitige Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1966 bei der Rentenberechnung unberücksichtigt.
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 7. Juni 1971 verurteilt, die streitige Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1966 als Ausfallzeit zu berücksichtigen (Urteil vom 17. Oktober 1973). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 30. September 1974).
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat zutreffend dem Kläger die Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 1966 als Ausfallzeit gemäß §§ 1258, 1259 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zuerkannt. In dieser Zeit ist nämlich eine versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit mindestens einen Kalendermonat unterbrochen, nicht aber beendet worden, wie dies die Beklagte annimmt. Die Beklagte mißt dem Umstand entscheidende Bedeutung bei, daß der Kläger wegen der Folgen seines Herzinfarkts in der ganzen streitigen Zeit erwerbsunfähig gewesen ist. Weil er erwerbsunfähig gewesen sei, sei er aus dem Erwerbsleben ausgeschieden und habe so sein Beschäftigungsverhältnis beendet. Unerheblich sei es dabei, daß der Kläger erst ab 1. Januar 1967 Rente wegen EU auf Zeit (§ 1276 RVO) bezogen habe. Dies gehe nur darauf zurück, daß der Kläger die Rente so spät beantragt habe. Letztlich sei der Fall so anzusehen, als habe der Kläger in der streitigen Zeit eine Rente wegen EU auf Zeit erhalten.
Der Beklagten ist in ihrem Gedankengang insoweit zuzustimmen, als die Ausfallzeitenregelung des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht die an einen krankheitsbedingten Zustand im jeweiligen Rechtsgebiet der Sozialversicherung geknüpften Rechtsfolgen entscheidend sein läßt, sondern allein auf die tatsächlichen Umstände abhebt. Diese sind: Eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit wird durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit mindestens einen Kalendermonat unterbrochen. Die Rechtsfolgen in der Gestalt von Leistungen - z. B. in der Krankenversicherung Gewährung von Krankengeld (§ 182 Abs. 1 Nr. 2 RVO) und in der Rentenversicherung Gewährung von Rente wegen EU (§ 1247 RVO) - mögen allerdings regelmäßig dafür sprechen, daß der Versicherte infolge Krankheit arbeitsunfähig i. S. des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO ist (für den Bezug von Krankengeld: BSGE 29, 77, 81 = SozR Nr. 21 zu § 1259 RVO; BSGE 32, 232, 233 = SozR Nr. 34 aaO; für den Bezug von Rente wegen EU: BSGE 28, 68 = SozR Nr. 20 zu § 1259 RVO; SozR Nrn. 36 und 55 aaO). Mehr als ein Beweisanzeichen ist jedoch derartigen Rechtsfolgen und den damit verbundenen Leistungen nicht zu entnehmen. Daher gibt die Gewährung von Krankengeld keinen allein entscheidenden Grund dafür ab, die streitige Zeit als Ausfallzeit nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO zu behandeln. Das Gegenteil ist auch nicht daraus zu schließen, daß der Kläger in der streitigen Zeit keine Rente wegen EU auf Zeit bezogen hat.
Die Beklagte wird aber darüber hinaus der Lage des Falles nicht gerecht. Sie meint, sobald ein Versicherter erwerbsunfähig geworden ist, sei dessen versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit schlechthin beendet. Sie verkennt dabei jedoch, daß die mit der EU zusammenfallende Arbeitsunfähigkeit nicht notwendigerweise ein Dauerzustand sein muß. Es ist nämlich deutlich zu unterscheiden, ob der Versicherte infolge Krankheit dauernd oder nur vorübergehend erwerbsunfähig ist. Ist er dauernd erwerbsunfähig, kann keine Rede davon sein, daß die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit unterbrochen worden ist. Sie ist vielmehr mit dem Eintritt der dauernden EU beendet und daher kein Ausfallzeitentatbestand nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO (vgl. BSGE 28, 68, 70 = SozR Nr. 20 zu § 1259 RVO; BSGE 32, 232, 234 = SozR Nr. 34 aaO; SozR Nrn 36, 55 aaO; ebenso: 5. Senat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 26. September 1974 - 5 RJ 140/72). Anders ist es hingegen, wenn der Versicherte infolge Krankheit vorübergehend erwerbsunfähig und anschließend wieder versicherungspflichtig beschäftigt oder tätig ist. In einem solchen Fall ist das Arbeits- und Versicherungsleben nicht auf Dauer beendet. Vielmehr ist dann, wie es dem Grundgedanken der Regelung des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO entspricht, die zur Arbeitsunfähigkeit führende Krankheit lediglich eine Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gewesen. Der Ausfallzeitentatbestand der durch Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeit ist durch eine voraufgehende und eine nachfolgende versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit "umrahmt". Die Zeit einer vorübergehenden EU und gleichzeitigen Arbeitsunfähigkeit, der eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit nachfolgt, ist demnach eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO, und zwar unabhängig davon, ob für diese Zeit ganz, teilweise oder überhaupt nicht Rente wegen EU auf Zeit (§ 1276 RVO) oder eine Dauerrente wegen EU (§ 1247 RVO) gewährt worden ist oder eine derartige Zeit- oder Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse entzogen worden ist (§ 1286 RVO). Maßgebend ist dabei allein, daß der Versicherte krankheitsbedingt vorübergehend arbeitsunfähig ist. Damit wird voll dem Sinn und Zweck der Ausfallzeitenregelung Rechnung getragen, nämlich dem Versicherten einen angemessenen Ausgleich für unverschuldeten Beitragsausfall zu gewähren und ihn vor den Nachteilen zu bewahren, die er sonst in der Rentenversicherung dadurch erleiden würde, daß er durch von ihm nicht zu vertretende Umstände für bestimmte Zeiten vom Erwerbsleben ausgeschlossen war (BSGE 28, 68, 69 = SozR Nr. 20 zu § 1259 RVO).
So liegen die Dinge im Fall des Klägers. Zwar ist er auf Grund seines Herzinfarkts und dessen Folgen arbeitsunfähig und zugleich erwerbsunfähig geworden. Wie die bei der späteren Rentenberechnung notwendig rückschauende Betrachtung der Sachlage (vgl. SozR Nr. 36 aaO) ergibt, war dies jedoch keine EU auf Dauer, sondern eine vorübergehende, nach deren Ende der Versicherte wiederum versicherungspflichtig beschäftigt war. Der Kläger war in der streitigen Zeit infolge Krankheit arbeitsunfähig. Hierdurch war seine versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen. Dies ist ein Ausfallzeitentatbestand nach § 1259 Abs. 1 Satz 1 RVO. Die Beklagte hat dem Kläger daher zu Unrecht die Anrechnung der streitigen Zeit als Ausfallzeit gemäß § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO verwehrt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen