Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 17.08.1984) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1984 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Versichertenrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit.
Die im Jahre 1925 geborene Klägerin war nach einer dreijährigen Hauswirtschaftslehre als Hausgehilfin von 1943 bis 1950 tätig. Von 1959 bis 1960 arbeitete sie als angelernte Zuschneiderin.
Den im November 1980 gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 13. Januar 1981 ab, weil die Klägerin noch vollschichtig leichte Arbeiten verrichten könne.
Widerspruch und Klage sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 25. März 1982, Urteil des Sozialgerichts –SG– vom 25. Februar 1983). Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) ua ein Gutachten von dem Facharzt für Orthopädie Dr. B.… vom 15. Mai 1984, eingegangen beim LSG am 26. Juni 1984, eingeholt, nach welchem der Klägerin bei Zustand nach Bandscheibenoperation zur Zeit keine Erwerbstätigkeit zugemutet werden könne. Nach Ablauf eines Jahres werde die Klägerin aber wieder in ihren Beruf zurückkehren können. Am 9. Juli 1984 hat das LSG sodann Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 17. August 1984 anberaumt und die Klägerin geladen. Diese hat am 14. Juli 1984 ausführliche Befundberichte des Leiters der Orthopädischen Abteilung des Bundeswehrzentralkrankenhauses Prof. R.… vom 3. Juli 1984 und des Neurologen M.… vom gleichen Krankenhaus und vom gleichen Tage vorgelegt. In diesen Berichten wird die Notwendigkeit einer Operation der Klägerin wegen eines Tarsaltunnelsyndroms diskutiert. Daraufhin hat das LSG unter dem 13. August 1984 bei Dr. B. eine ergänzende Stellungnahme angefordert, die am 16. August 1984 beim LSG eingegangen ist. In ihr hält der Sachverständige trotz der ihm vorgelegten neuen medizinischen Befunde an seiner Beurteilung fest. Eine Abschrift hiervon ist der vor dem LSG nicht vertretenen Klägerin in der mündlichen Verhandlung am 17. August 1984 überreicht worden. Im gleichen Termin haben die Beteiligten einen Teilvergleich auf Gewährung einer Zeitrente wegen Erwerbsunfähigkeit bis 31. Oktober 1984 abgeschlossen. Die auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Dauer gerichtete Berufung der Klägerin hat das LSG noch im gleichen Termin zurückgewiesen mit der Begründung, ua nach der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. sei zu erwarten, daß die Klägerin nach Ablauf der Zeitrente wieder körperlich leichte Arbeiten vollschichtig werde verrichten können und daher nicht mehr berufsunfähig sein werde.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin als wesentlichen Verfahrensmangel die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–) und der §§ 106, 107, 117, 118 SGG. Sie trägt dazu vor, sie sei nicht rechtzeitig von der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. unterrichtet worden. Nach der Überreichung dieser Stellungnahme im Termin zur mündlichen Verhandlung hätte diese entweder vertagt oder zumindest für angemessen lange Zeit unterbrochen werden müssen, damit Gelegenheit bestanden hätte, hierzu Stellung zu nehmen. Im übrigen hätte der Sachverständige Dr. B. zum Termin geladen werden müssen. Hierdurch wäre der Klägerin die Möglichkeit gegeben gewesen, ihm Fragen zu stellen und ihn sein Gutachten erläutern zu lassen. Schließlich hätte die Klägerin auch auf die Möglichkeit eines Antrages nach § 109 SGG hingewiesen werden müssen. Bei Beachtung dieser Verpflichtungen des Gerichts wäre eine für die Klägerin günstige Entscheidung ergangen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des 3. Senats des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 17. August 1984 – L 3 J 74/83 LSG NRW (S 15 J 24/82 SG Aachen) – aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an den 3. Senat oder einen anderen Senat des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Beklagte stellt keinen Antrag und macht keine Ausführungen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt ( § 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig und insoweit begründet, als der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen war.
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin auf Dauerrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ( §§ 1246, 1247 Reichsversicherungsordnung –RVO–) verneint, weil nach seiner Ansicht mit einem Wegfall der derzeit bei ihr vorliegenden Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nach begründet zu rechnen war. Seine Feststellungen stützte das LSG auf das Gutachten des Sachverständigen Dr. B. sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 14. August 1984. Diese Feststellungen sind verfahrensfehlerhaft zustande gekommen. Die hierzu erhobenen Rügen der Klägerin greifen durch.
Der wesentliche Verfahrensmangel liegt in der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§§ 62, 128 Abs 2 SGG) bei der Einholung und Verwertung der ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. Nach § 153 Abs 1 iVm § 107 SGG hat das LSG eine Abschrift der zum Zwecke der Beweiserhebung eingeholten Auskünfte – einschließlich ärztlicher Gutachten und Stellungnahmen – oder jedenfalls deren Inhalt den Beteiligten mitzuteilen ( vgl BSGE 4, 60, 84 = SozR Nr 1 zu § 107 SGG; BSG SozR Nr 4 aaO). Da § 107 SGG Ausdruck des Anspruchs der Prozeßbeteiligten auf rechtliches Gehör ist, genügt die Aushändigung der zum Zwecke der Beweiserhebung eingeholten schriftlichen Auskünfte und Gutachten an den nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten erst in der mündlichen Verhandlung nur ausnahmsweise und nur dann, wenn sich der Beteiligte hieraus ein klares Bild machen und sofort sachdienlich Stellung nehmen kann (BSG aaO). Das wird bei medizinischen Äußerungen von zu Sachverständigen bestellten Fachärzten in aller Regel nicht unterstellt werden können (vgl BSG SozR Nr 3 zu § 107 SGG). Im vorliegenden Fall hat das LSG der Klägerin die an den orthopädischen Sachverständigen Dr. B. ergänzend gestellten Fragen vor dem Verhandlungstermin nicht bekanntgegeben und die Klägerin auch nicht auf sonstige Weise von diesem Vorgang unterrichtet. Die Klägerin wußte so vor dem Termin nicht, daß das LSG eine weitere Sachaufklärung durch Befragung des Sachverständigen Dr. B. eingeleitet hatte und beabsichtigte, ein neues Beweismittel – die ergänzende gutachtliche Stellungnahme des Sachverständigen – erst in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren einzuführen und zur Grundlage seiner Entscheidung zu machen.
Die Klägerin hatte so durch Aushändigung der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen Dr. B. im Termin keine ausreichende Möglichkeit, sich hiermit auseinanderzusetzen und ihre Auffassung hierzu in das Verfahren einzuführen. Dem Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör ist nur genügt, wenn ihm für die Abgabe seiner Erklärung eine angemessene Zeit eingeräumt wird (vgl BSGE 11, 165, 166). Zutreffend rügt die Klägerin, daß das LSG die mündliche Verhandlung hätte entweder unterbrechen oder vertagen müssen, um ihr Gelegenheit zu geben, sachgemäße Erklärungen abzugeben und sachdienliche Anträge zu stellen. Dazu hatte das LSG um so mehr Veranlassung, als ihm die Klägerin am 14. Juli 1984 ausführliche, ihrem Begehren günstige neue fachärztliche Befunde – Befundberichte von Prof. R. und des Neurologen M.… vorgelegt hatte und das LSG eine ergänzende Stellungnahme seines orthopädischen Sachverständigen Dr. B. gerade zu dem Zweck einer Prüfung dieser neuen ärztlichen Befunde angefordert hatte. Bei diesem Sachverhalt konnte die Klägerin eine sachgerechte Erklärung zu dem in Form der ergänzenden Stellungnahme Dr. B' s. vorgelegten neuen Beweisergebnis praktisch nur nach Rücksprache mit einem Arzt ihres Vertrauens abgeben. Die so gebotene Gewährung rechtlichen Gehörs hat Vorrang vor dem Ziel der Entscheidung eines Rechtsstreits in einer mündlichen Verhandlung (vgl BSG in SozR Nr 13 zu § 106 SGG und aaO Nr 11 zu § 62 SGG).
Es ist auch nicht erkennbar, daß die Klägerin in Kenntnis des Umfangs ihres Anspruchs auf rechtliches Gehörs darauf verzichtet hatte, die mündliche Verhandlung ausreichend lang zu unterbrechen oder sie zu vertagen. Die Klägerin war im Termin weder anwaltlich noch durch einen Verband vertreten. Ob und inwieweit der Ehemann, der als Beistand im Termin aufgetreten ist, in der Lage war, die Sach- und Rechtslage zu überschauen und sachgerechte Anträge zu stellen, entzieht sich einer Nachprüfung.
Bei den Gegebenheiten des vorliegenden Falles kann dahinstehen, ob das LSG verpflichtet war, die Klägerin auf die Möglichkeit eines Antrags auf Anhörung eines Arztes ihres Vertrauens nach § 109 SGG aufmerksam zu machen oder den Sachverständigen Dr. B. gemäß § 111 Abs 3 der Zivilprozeßordnung zur Erläuterung seines Gutachtens zu laden (vgl hierzu Urteil des erkennenden Senats vom 16. Januar 1986 – 4b RV 27/85).
Die – innerhalb eines ausreichenden zeitlichen Rahmens – gebotene Anhörung der Klägerin zu den vom LSG erstmals in der mündlichen Verhandlung erhobenen Beweisen sowie eine im Gefolge dieser Beweiserhebung etwa erforderliche weitere Sachaufklärung können vom Bundessozialgericht nicht durchgeführt werden. Auf die Revision der Klägerin war das angefochtene Urteil daher aufzuheben und der Rechtsstreit an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
In der neuerlichen abschließenden Entscheidung hat das LSG auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden.
Fundstellen