Leitsatz (redaktionell)
1. Zur Frage des Anspruchs auf Verletztengeld für nicht erwerbstätige Personen.
2. Bei einer Wiedererkrankung an Unfallfolgen beurteilt sich die für den Anspruch auf Verletztengeld maßgebende Arbeitsfähigkeit nach der Fähigkeit zur Verrichtung der im Zeitpunkt der Wiedererkrankung ausgeübte Tätigkeit.
3. Ein Praktikant, der bei der Arbeit während der Semesterferien einen Arbeitsunfall erleidet, hat auch dann Anspruch auf Verletztengeld, wenn er wegen der Folgen des Arbeitsunfalles in dem Zeitraum des Hochschulstudiums wiedererkrankt und demzufolge bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit nicht gegen Entgelt beschäftigt ist.
Normenkette
RVO § 560 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 562 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 6. März 1969 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger studierte Physik an der Universität H. Während der Semesterferien im Sommer 1964 nahm er eine Tätigkeit als Praktikant in einer Blechwarenfabrik auf. Am 8. Oktober 1964 geriet er bei der Arbeit mit dem kleinen Finger der linken Hand in das Messer einer Blechschneidemaschine. Die Fingerkuppe wurde abgerissen. Vom 14. Dezember 1964 an war der Kläger nach der Ansicht des Facharztes für Chirurgie Dr. E wieder arbeitsfähig. Mit dem Beginn des Wintersemesters am 1. November 1964 setzte der Kläger sein Studium fort. Später wuchsen an drei Stellen der Narbe kleine Nagelreste, weil das Nagelbett bei der Behandlung nach dem Unfall nicht völlig entfernt worden war. Dies wurde durch Dr. E am 19. Januar 1965 sowie am 8. Februar 1965 nachgeholt. In der Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 suchte der Kläger an insgesamt 19 Tagen die Praxis Dr. E zwecks Vornahme operativer Maßnahmen, Bestrahlungen und Fingergymnastik auf. Dr. E bestätigte für diese Zeit Arbeitsunfähigkeit.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger für die Zeit vom 9. Oktober bis 13. Dezember 1964 Verletztengeld (Bescheid vom 17. Dezember 1964). Sie lehnte es jedoch durch Bescheid vom 27. Juli 1965 ab, auch für die Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 diese Leistung zu gewähren, weil der Kläger vor diesem Zeitraum nicht erwerbstätig gewesen sei, somit keinen Verdienstausfall erlitten habe, so daß ein wirtschaftlicher Ausgleich durch Gewährung eines Verletztengeldes nicht in Frage komme.
Das Sozialgericht Hamburg hat durch Urteil vom 11. August 1967 aus demselben Grund, ferner aus der Erwägung, daß der Kläger trotz seiner Erkrankung vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 imstande gewesen sei, seinem Studium nachzugehen, die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg durch Urteil vom 6. März 1969 die Entscheidung des Erstgerichts sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. Juli 1965 aufgehoben und diese dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 Verletztengeld zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Kläger sei in der fraglichen Zeit arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung gewesen, denn er habe seinerzeit, was versicherungsrechtlich entscheidend sei, sein Studium nicht ausüben können. Angesichts der zeitlich erheblichen Beanspruchung durch ärztliche Behandlungsmaßnahmen sei in der Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 für den Kläger ein geregeltes Studium ausgeschlossen gewesen. Der Meinung der Beklagten, maßgeblich sei, daß der Kläger durch die Arbeitsunfähigkeit keinen Verdienstausfall erlitten habe, stehe entgegen, daß die Lohnersatzfunktion nur eine der gesetzgeberischen Erwägungen sei, auf denen die Gewährung von Verletztengeld beruhe; sie komme darin zum Ausdruck, daß Verletztengeld nicht zu zahlen sei, soweit der Verletzte Arbeitsentgelt erhalte. Demgegenüber sei zumindest gleichrangig der Grundsatz, daß durch die Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung der Verlust von Fähigkeiten ausgeglichen werde, der durch einen Arbeitsunfall entstehe. Der Kläger sei infolge seines Arbeitsunfalls vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 nicht fähig gewesen, sein Studium fortzusetzen. Daher sei für diese Zeit ein Anspruch auf Verletztengeld dem Grunde nach gegeben.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:
Dem Verletztengeld der gesetzlichen Unfallversicherung komme ebenso wie dem Krankengeld Lohnersatzfunktion zu, so daß Anspruch auf jene Leistung nur bestehe, wenn der Verletzte bei Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erwerbstätig gewesen sei.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist nicht begründet.
Der Kläger ist - wie zwischen den Beteiligten unstreitig ist - in der Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar 1965 an den Folgen seines Arbeitsunfalls vom 8. Oktober 1965 wieder erkrankt. Eine Verletztenrente hat der Kläger zu Beginn seiner Wiedererkrankung nicht bezogen. Ob für sein Begehren auf Verletztengeld allein § 560 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder § 562 Abs. 2 RVO die Anspruchsgrundlage bilden (s. Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand Juli 1972, Anm. 4 Abs. 1 zu § 562 RVO), kann dahinstehen. Bei der gegebenen Sachlage wirken sich die in ihren Voraussetzungen weitgehend übereinstimmenden Vorschriften nicht unterschiedlich aus.
§ 560 Abs. 1 Satz 1 RVO setzt u. a. voraus, daß durch die Erkrankung Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung eingetreten ist. Dies hat das LSG zutreffend bejaht. Abzustellen ist hierbei auf die im Zeitpunkt der Wiedererkrankung verrichtete Tätigkeit und nicht auf die, welche im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls ausgeübt worden ist (vgl. § 574 RVO und die Begründung des Gesetzentwurfs zu § 562 Abs. 1 RVO, abgedruckt bei Lauterbach, aaO, Anm. 1 zu § 562 RVO sowie die Anm. 4 b zu dieser Vorschrift, S. 388; SozR Nr. 40 zu § 182 RVO). Bei seiner Wiedererkrankung hat der Kläger sich seinem Hochschulstudium gewidmet; eine Tätigkeit gegen Entgelt hat er damals nicht ausgeübt. Dieser Umstand schließt jedoch - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht von vornherein die Gewährung des Verletztengeldes aus. Die in § 560 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 RVO gemachte Einschränkung, daß kein Anspruch auf diese Leistung besteht, soweit der Verletzte Arbeitsentgelt erhält, hat - unter Berücksichtigung der Lohnersatzfunktion des Verletztengeldes - den Zweck, Doppelleistungen zu vermeiden und soll nicht den anspruchsberechtigten Personenkreis auf Verletzte beschränken, welche im Zeitpunkt der Erkrankung oder Wiedererkrankung gegen Entgelt tätig sind. Das vor dem Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz in Kraft gewesene Recht enthielt keine Einschränkung der Anspruchsberechtigung in diesem Sinn (s. insbesondere §§ 559 Abs. 2, 559 d, e RVO aF). Das jetzt geltende Recht schließt indessen trotz Änderungen im Aufbau des Gesetzes und in dessen Wortlaut inhaltlich im wesentlichen an die frühere Regelung an, bei Änderung der Bezeichnung der Leistung und Einführung von Leistungsverbesserungen im einzelnen (s. die Gesetzesvorgeschichte, abgedruckt bei Lauterbach, aaO, Anm. 1 zu § 560 RVO). Auch aus § 622 Abs. 3 RVO, der mit Rücksicht auf den gegenüber dem früheren Rechtszustand geänderten § 562 Abs. 2 RVO erforderlich geworden ist (Lauterbach, aaO, Anm. 8 a zu § 622 RVO), läßt sich keine Einschränkung in dem von der Beklagten für richtig gehaltenen Ausmaß herleiten. Im übrigen wird auf das Urteil des erkennenden Senats vom 29. November 1972 (8/2 RU 123/71) verwiesen, wonach auch ein Arbeitsloser arbeitsunfähig im Sinne des § 560 Abs. 1 Satz 1 RVO sein und Anspruch auf Verletztengeld haben kann.
Arbeitsunfähigkeit in diesem Sinn hat beim Kläger in der Zeit vom 19. Januar bis 28. Februar 1965, wie das Berufungsgericht zutreffend näher ausgeführt hat und auch die Beklagte nicht bestreitet, vorgelegen.
Das LSG hat deshalb den Anspruch des Klägers auf Verletztengeld für den begehrten Zeitraum mit Recht dem Grunde nach bejaht.
Die Revision der Beklagten war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen