Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf Todeserklärung durch nichteheliches Kind
Leitsatz (amtlich)
Ein nichteheliches Kind hat nach dem Tod seiner Mutter auch dann keinen Anspruch auf Vollwaisenrente, wenn der Vater "festgestellt", sein Aufenthalt aber unbekannt (geworden) ist.
Orientierungssatz
Besteht die Vermutung, daß ein Elternteil nicht mehr am Leben ist, so kann nach den Bestimmungen des Verschollenheitsgesetzes auch das nichteheliche Kind Antrag auf Einleitung des Aufgebotsverfahrens zur Erwirkung der Todeserklärung auch für Ausländer stellen.
Normenkette
RVO § 1269 Abs 1 S 1; AVG § 46 Abs 1 S 1; VerschG § 16 Abs 2 Buchst c
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 05.06.1987; Aktenzeichen L 11 An 1206/83) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 08.09.1983; Aktenzeichen S 6 An 339/80) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Vollwaisen- anstatt Halbwaisenrente.
Der im März 1962 geborene Kläger ist der nichteheliche Sohn der am 17. September 1979 verstorbenen Versicherten Ingeborg F. Die Vaterschaft hatte zu Urkunde des Notars Dr. H. in Berlin vom 28. November 1962 der jordanische Staatsangehörige A. J. anerkannt, der damals in Westberlin wohnte.
Im Oktober 1979 beantragte der Kläger Vollwaisenrente; er gab an, seine Mutter habe keine Unterhaltsbeträge für ihn eingeklagt, da sein Vater bereits als Student in die USA verzogen und sein Aufenthalt seitdem unbekannt sei.
Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Bescheid vom 12. Dezember 1979 Halbwaisenrente. Den Widerspruch mit dem Begehren, Vollwaisenrente zu zahlen, wies sie durch Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 1980 zurück: Ein nichteheliches Kind, dessen Vater bekannt sei, werde nicht Vollwaise, solange der Vater noch lebe. Hier sei der Tod des Vaters nicht festgestellt worden.
Das Sozialgericht Frankfurt/Main (SG) hat die auf Gewährung der Vollwaisenrente gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 8. September 1983), das Hessische Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen und in der angefochtenen Entscheidung vom 5. Juni 1987 ausgeführt: Auch einem nichtehelichen Kind stehe Vollwaisenrente nach dem Tode seiner Mutter grundsätzlich nur zu, wenn der Vater verstorben oder verschollen sei. Dies habe der Kläger nicht nachweisen können. Eine Ausnahme von dem erwähnten Grundsatz lasse die Rechtsprechung lediglich zu, wenn der Vater nicht habe festgestellt werden können. Ein solcher Ausnahmefall liege hier nicht vor. Es komme nicht darauf an, daß der Kläger gegen seinen Vater keinen (durchsetzbaren) Unterhaltsanspruch habe. Der Umstand, daß die Vollwaise im Gegensatz zur Halbwaise im allgemeinen keinen Unterhaltsanspruch geltend machen könne, sei allenfalls Motiv für die Unterscheidung beider Rentenarten gewesen, aber nicht Regelungsinhalt des Gesetzes geworden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision macht der Kläger geltend, er stehe, da er den Tod oder die Verschollenheit seines Vaters nicht nachweisen könne, wirtschaftlich einem Kind gleich, dessen Vater nicht festgestellt sei; in einem solchen Fall habe das Bundessozialgericht (BSG) den Anspruch auf Vollwaisenrente bejaht.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. Juni 1987 und des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 8. September 1983, den Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 1979 sowie den Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 1980 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Vollwaisenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, daß kein Anspruch auf Vollwaisenrente besteht.
Nach § 46 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) beträgt die Waisenrente bei Halbwaisen ein Zehntel, bei Vollwaisen ein Fünftel der nach § 30 Abs 2 AVG berechneten Versichertenrente ohne Kinderzuschuß zuzüglich Rententeilen aus der Höherversicherung. Die Begriffe "Halbwaise" und "Vollwaise" sind im Gesetz nicht näher umschrieben. Die Rechtsprechung hat ihre Bedeutung daher dem allgemeinen Sprachgebrauch entnommen und unter Vollwaise ein Kind, das beide Eltern verloren hat, oder ein "elternloses Kind" verstanden (vgl Urteil des Senats vom 18. Dezember 1986 - 4a RJ 73/85 in BSGE 61, 108 = SozR 2200 § 1269 Nr 3 unter Hinweis auf BSGE 10, 189, 191 = SozR Nr 1 zu § 1269 Reichsversicherungsordnung - RVO; 16, 110, 111 = SozR Nr 3 aaO). Die Rechtsprechung hat aber in die Auslegung auch den Sinn und Zweck der Norm sowie deren Entwicklungsgeschichte einbezogen, derzufolge die durch die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze 1957 eingeführte unterschiedliche Höhe von Halb- und Vollwaisenrente damit begründet worden war, daß den Vollwaisen die höhere Rente gewährt werden sollte, weil sie den bei Halbwaisen gegebenen Unterhaltsanspruch gegen den überlebenden Elternteil nicht haben (BT-Drucks 2/2437 S 77 zu § 1273 des Regierungsentwurfs).
Dementsprechend ist bei einem nichtehelichen Kind nach dem Tode der Mutter die Vollwaiseneigenschaft nicht schon angenommen und ein Anspruch auf Vollwaisenrente bejaht worden (BSG SozR Nr 2 zu § 1269; BSGE 35, 154 = SozR aaO Nr 6), zumal nach dem seit 1957 geltenden früheren wie auch nach heutigem Recht das nichteheliche Kind nach dem Tode des Vaters Waisenrente - und zwar, solange die Mutter lebt, Halbwaisenrente - erhält (§ 44 Abs 1 AVG; BSGE 10, 189, 190 f).
Allerdings hat die Rechtsprechung einem nichtehelichen Kind, dessen Vater nicht bekannt (festgestellt) und auch nicht mit Aussicht auf Erfolg zu ermitteln ist, den Anspruch auf Vollwaisenrente nach dem Tod der Mutter zuerkannt (BSGE 10, 189 = SozR Nr 1 zu § 1269; SozR aaO Nr 4). Ein solcher Sachverhalt liegt indessen hier nicht vor; es macht einen wesentlichen tatsächlichen und auch rechtlichen Unterschied aus, ob der Vater des nichtehelichen Kindes von vornherein nicht festzustellen (gewesen) ist, oder ob der Vater zunächst - etwa wie hier durch Anerkennung der Vaterschaft zu notarieller Urkunde - feststeht und erst später sein Aufenthalt nicht mehr bekannt ist. In dem bereits erwähnten Urteil des 5. Senats des BSG vom 26. Januar 1973 - 5 RJ 343/71 (BSGE 35, 154 = SozR Nr 6 zu § 1269) ist, worauf bereits das LSG und die Beklagte hingewiesen haben, ausgeführt worden, daß zwar der gesetzgeberische Grund für die Unterscheidung zwischen Voll- und Halbwaisenrente die unterschiedliche unterhaltsrechtliche Situation gewesen sein möge; dies sei aber nicht Regelungsinhalt des Gesetzes geworden, obwohl der Gesetzgeber gewußt habe, daß es Kinder gebe, die nach dem Tode des versicherten Elternteiles keinen oder keinen durchsetzbaren Unterhaltsanspruch haben. Deshalb dürfe der Richter das Gesetz, das die Gewährung der erhöhten Waisenrente nur Vollwaisen vorbehalte, nicht beiseite schieben und dem Kind deshalb Vollwaisenrente zusprechen, weil es nach dem Tode der Mutter von seinem noch lebenden (nichtehelichen) Vater keinen Unterhalt beanspruchen könne (BSG aaO S 155 f; zu letzterem ebenso das von der Revision zitierte Urteil des BSG vom 23. Juli 1959 - 3 RJ 224/58 = BSGE 10, 189, 193 = SozR Nr 1 zu § 1269 RVO).
Zwar ist - soweit ersichtlich - bisher auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung höchstrichterlich noch nicht über einen Sachverhalt wie vorliegend zu entscheiden gewesen, daß nämlich der nichteheliche Vater zunächst "festgestellt" und erst später sein Aufenthalt unbekannt geworden ist. Aus dem vorher Gesagten ergibt sich aber bereits, daß in einem solchen Fall das Kind zwar wirtschaftlich nicht besser stehen mag, als wenn von vornherein der nichteheliche Vater überhaupt nicht hat festgestellt werden können, daß aber gleichwohl die Vollwaiseneigenschaft nicht bejaht werden kann. Vor allem ist zu berücksichtigen, daß eine vergleichbare Situation auch bei einem ehelichen Kind eintreten kann, wenn nach der Scheidung seiner Eltern der Aufenthalt des Vaters nicht feststellbar ist. Besteht bei unbekanntem Aufenthalt eines Elternteils die Vermutung, daß er nicht mehr am Leben ist, so kann gemäß § 16 des Verschollenheitsgesetzes vom 15. Januar 1951 (BGBl I 63) idF des Gesetzes zur Neuregelung des Internationalen Privatrechts vom 25. Juli 1986 (BGBl I 1142) ein Antrag zur Einleitung des Aufgebotsverfahrens gestellt werden, um gemäß §§ 2 bis 7 des Verschollenheitsgesetzes die Todeserklärung zu erwirken. Dabei ist nach § 12 Abs 1 Nr 2 oder Abs 2 dieses Gesetzes unter den dort geschilderten Voraussetzungen das deutsche Gericht auch für die Todeserklärung von Ausländern zuständig. Zur Antragstellung sind in bezug auf den Vater gemäß § 16 Abs 2 Buchst c) das eheliche und das nichteheliche Kind gleichermaßen berechtigt. Es kann nicht dem Versicherungsträger angelastet werden, wenn hier kein solches Verfahren stattgefunden hat. Zwar kann auch der Rentenversicherungsträger ein Sonderverfahren zur Feststellung der Verschollenheit durchführen, dies aber nur, wenn es den Versicherten betrifft, also denjenigen, aus dessen Versicherung ein Recht hergeleitet werden soll (vgl § 48 Abs 1 AVG). Im vorliegenden Fall begehrt der Kläger Waisenrente aus dem Versicherungsverhältnis seiner verstorbenen Mutter.
Die Revision des Klägers konnte daher keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen