Entscheidungsstichwort (Thema)
Mutterschutz. Schutzfristen und Mutterschaftsgeld nach Frühgeburten
Leitsatz (amtlich)
Bei einer Frühgeburt ist das Mutterschaftsgeld auch dann für zwölf Wochen nach der Entbindung zu zahlen, wenn das Kind tot geboren wird.
Leitsatz (redaktionell)
Die Schutzfrist und die Bezugsdauer des Mutterschaftsgeldes von 12 Wochen nach einer Frühgeburt gilt auch in Fällen, in denen das Kind tot geboren wird. Die Totgeburt muß jedoch eine Körperlänge von wenigstens 35 cm haben.
2. Eine Fehlgeburt (und nicht eine "Entbindung") liegt vor, wenn die tote Leibesfrucht unter 35 cm lang ist. Ein Kind mit einem Geburtsgewicht von weniger als 2500 g ist eine Frühgeburt.
Normenkette
RVO § 200 Abs. 3 S. 1
Tenor
Die Sprungrevision der beklagten Ersatzkasse gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 26. Januar 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Bezugsdauer des Mutterschaftsgeldes. Die Klägerin ist am 1. August 1972 von einem toten Kind entbunden worden; nach einer Bescheinigung des Krankenhauses war das Kind zu früh geboren (Geburtsgewicht von nur 1600 g). Die beklagte Ersatzkasse zahlte der Klägerin Mutterschaftsgeld für acht Wochen nach der Entbindung. Die Zahlung für weitere vier Wochen - "bei Frühgeburten" verlängert sich das Mutterschaftsgeld auf 12 Wochen nach der Entbindung (§ 200 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) - lehnte sie ab, weil das verlängerte Mutterschaftsgeld wegen der besonderen Pflegebedürftigkeit des Kindes gewährt werde, dieser Grund aber bei einem totgeborenen Kind entfalle. Die Klägerin hat sich demgegenüber vor allem auf den Wortlaut des Gesetzes berufen, der zwischen tot und lebend geborenen Kindern nicht unterscheide.
Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben und die Beklagte - unter Zulassung der Berufung - verurteilt, der Klägerin Mutterschaftsgeld für weitere vier Wochen zu zahlen: Der Gedanke der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit verbiete eine einschränkende Auslegung des Gesetzes, zumal die Gewährung des Mutterschaftsgeldes mit einem entsprechenden Beschäftigungsverbot gekoppelt sei, dessen Einhaltung von anderen Stellen überwacht werde (Urteil vom 26. Januar 1973).
Die Beklagte hat mit Einwilligung der Klägerin Sprungrevision eingelegt und beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie hält nach dem Zweck des Gesetzes eine Verlängerung des Mutterschaftsgeldes auf zwölf Wochen nach der Entbindung nur für berechtigt, wenn die Mutter auch nach der achten Woche noch durch eine Pflege des zu früh geborenen Kindes belastet werde.
Die Klägerin beantragt unter Hinweis auf die ihrer Ansicht nach überzeugenden Urteilsgründe des SG, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Sprungrevision der Beklagten ist zulässig (§§ 161, 150 Nr. 1, 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -), aber nicht begründet. Das SG hat die Beklagte mit Recht zur Zahlung des verlängerten Mutterschaftsgeldes verurteilt, das nach § 200 Abs. 3 Satz 1 RVO "bei Früh- und Mehrlingsgeburten für zwölf Wochen unmittelbar nach der Entbindung" zu gewähren ist.
Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Klägerin von einem, wenn auch toten Kind "entbunden" worden ist, daß bei ihr also keine Fehlgeburt vorgelegen hat (Leibesfrucht unter 35 cm Länge). Nicht zu beanstanden ist ferner die Annahme des SG, daß das Kind wegen seines Geburtsgewichtes von weniger als 2500 g eine "Frühgeburt" war (zu den Begriffen Entbindung, Frühgeburt und Fehlgeburt vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, 17. Aufl., § 195 RVO, Anm. 6 e, f, g; Gröninger-Thomas, Mutterschutzgesetz, § 6, Anm. 2 a mit weiteren Nachweisen). Damit sind nach dem Wortlaut des Gesetzes alle Voraussetzungen für die Gewährung des verlängerten Mutterschaftsgeldes erfüllt; denn dieses unterscheidet, wie die Klägerin mit Recht ausführt, bei "Frühgeburten" - nicht anders als bei Normal- und bei Mehrlingsgeburten - nicht zwischen lebend und tot geborenen Kindern. Das allein würde allerdings eine einschränkende Auslegung im Sinne der Beklagten nicht hindern, wenn dem Gesetz unter Berücksichtigung seiner Entstehungsgeschichte eindeutig zu entnehmen wäre, daß bei einem zu früh, aber tot geborenen Kind ein Anspruch auf das verlängerte Mutterschaftsgeld nicht bestehen soll. Eine solche Überzeugung hat der Senat indessen nicht gewinnen können.
Die verlängerte Schutzfrist von zwölf Wochen nach einer Frühgeburt galt zunächst nur für "stillende Mütter" (§ 3 Abs. 1 Satz 2, § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 des Mutterschutzgesetzes - MuSchG - vom 17. Mai 1942, RGBl I 321; § 6 Abs. 1 Satz 2, § 13 Abs. 1 Satz 3 MuSchG vom 24. Januar 1952, BGBl I 69); sie setzte mithin die Geburt eines lebenden Kindes voraus. Seit dem 1. Januar 1966 bzw. 1968 ist die Bedingung, daß die Mutter das zu früh geborene Kind stillen müsse, entfallen (§ 6 Abs. 1 Satz 2 MuSchG idF vom 20. Dezember 1965, BGBl I 2065, für das Beschäftigungsverbot; § 200 Abs. 3 Satz 1 RVO idF des Finanzänderungsgesetzes 1967 vom 21. Dezember 1967, BGBl I 1259, für das Mutterschaftsgeld). Seitdem gilt die verlängerte Schutzfrist von zwölf Wochen nach der Entbindung auch für Mütter, die ein zu früh geborenes Kind nicht stillen, sofern sie nur "Mutter" eines Kindes geworden sind, d.h. von einem Kind entbunden worden sind und keine Fehlgeburt gehabt haben. Daß das Kind leben oder wenigstens bei der Geburt gelebt haben muß, ist dem Begriff der Mutter ebensowenig wie dem - ihm korrespondierenden - Begriff des Kindes oder dem der Entbindung zu entnehmen. Auch gewisse Unterschiede in der Terminologie des § 6 MuSchG (Wöchnerinnen, Mütter, Frauen), die schon auf das MuSchG von 1942 zurückgehen, lassen nicht erkennen, daß mit ihnen Bedeutungsunterschiede, die im vorliegenden Zusammenhang erheblich sein könnten, verbunden sein sollen (so verwendet z.B. das MuSchG von 1942 "stillende Mütter" in § 3 Abs. 1 Satz 2, § 7 Abs. 1 Satz 1 neben "stillende Frauen" in § 7 Abs. 2).
Daß das Kind lebt oder bei der Geburt gelebt hat, ist auch vom Zweck des Gesetzes, soweit er aus der Rechtsentwicklung und der Entstehungsgeschichte der einschlägigen Vorschriften erkennbar wird, nicht sicher zu begründen. Für das der Entbindung folgende Beschäftigungsverbot - nach dem MuSchG von 1942 waren dies sechs Wochen, für stillende Mütter acht und nach Frühgeburten zwölf Wochen - stand ursprünglich allerdings der Gedanke im Vordergrund, "Stillen und Pflege des Kindes zu gewährleisten" (Begründung zum MuSchG 1942, Reichsarbeitsblatt 1942, Teil III, S. 159, 160). Auch bei den Beratungen des Jahres 1965 über eine Änderung des MuSchG von 1952 bestand Übereinstimmung, "daß Mutter und Kind nach der Entbindung insbesondere im Interesse des Kindes und des Mutter-Kind-Verhältnisses möglichst lange zusammenbleiben sollten" (zu BT-Drucks. IV/3652, S. 4 zu Nr. 6). Sowohl 1942 wie 1965 ging also die Absicht des Gesetzgebers, wie es scheint, in erster Linie dahin, der Mutter durch das zeitweilige Verbot einer Beschäftigung das Zusammensein mit ihrem Kind und dessen persönliche Pflege zu ermöglichen. Der Gedanke, daß auch die Mutter selbst - nach den vielfältigen körperlichen und seelischen Belastungen der Schwangerschaft und der Geburt - der Erholung und Schonung bedarf, kommt in den Gesetzesmaterialien nicht zum Ausdruck (wohl aber im Schrifttum, vgl. Bulla, MuSchG, 1. und 3. Aufl., § 6, jeweils Rd.Nrn. 3 und 7).
Andererseits ist bisher mit Recht nie bezweifelt worden, daß auch im Falle einer Totgeburt ein Beschäftigungsverbot gilt, obwohl es in diesem Falle allein mit dem Erholungs- und Schonungsbedürfnis der Frau gerechtfertigt werden kann. Damit ist eine Frau, die ein totes Kind geboren hat, jedenfalls grundsätzlich der Mutter eines lebenden gleichgestellt worden. Gleichgestellt war sie bis Ende 1965 bzw. 1967 allerdings nur einer Mutter, die ihr Kind nicht stillte; für sie galt mithin nur die "einfache" Schutzfrist von sechs Wochen. Nachdem diese Frist jedoch ab 1. Januar 1966 bzw. 1968 für nicht stillende Mütter auf acht Wochen und nach Frühgeburten auf zwölf Wochen verlängert worden ist, kann auch im Falle einer Totgeburt die Frist nicht mehr kürzer als acht Wochen sein. Ist das Kind nach normaler Dauer der Schwangerschaft tot geboren worden, greift mithin die achtwöchige Schutzfrist Platz.
Zweifel können dagegen entstehen, wenn das tot geborene Kind nicht ausgetragen war. Die Beklagte hält es in diesem Falle - unter Berufung auf Stimmen im Schrifttum - von der Sache her nicht für gerechtfertigt, der Frau eine längere Schutzfrist als sonst nach einer Totgeburt zuzubilligen (so vor allem Eisel, MuSchG, 9. Aufl., Anh. A 84, Anm.; Töns, Mutterschaftshilfe und Mutterschutz, § 195 RVO, Anm. 5 e, S. K 31; vgl. ferner Besprechungsergebnisse der Spitzenverbände in BKK 1972, 195 und DOK 1973, 187 gegen DOK 1968, 44, 51, Anm. 2 b zu § 200 Abs. 3 RVO). Ob diese Auffassung begründet ist, hängt in erster Linie davon ab, wie das Erholungs- und Schonungsbedürfnis einer Frau, die von einem zu früh, aber tot geborenen Kind entbunden worden ist, gegenüber dem einer Frau mit einem zu früh, aber lebend geborenen Kind einerseits und dem einer Frau mit einer ausgetragenen Totgeburt andererseits zu bewerten ist. Dabei handelt es sich im wesentlichen um medizinische Fragen, die vom Senat aus eigener Sachkenntnis nicht zu beantworten sind, auch wenn manches für die Auffassung der Beklagten sprechen mag. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß vor einer Frühgeburt, weil sie in der Regel unerwartet erfolgt, die Frau nicht während der sonst im Gesetz vorgesehenen sechs Wochen vor dem mutmaßlichen Entbindungstermin von der Arbeit freigestellt war (§ 3 Abs. 2 MuSchG 1968). Eine Verlängerung der Schutzfrist auf zwölf Wochen nach der Entbindung wäre dann nur ein - häufig sogar unvollkommener - Ausgleich für die vor der Entbindung erlittenen Nachteile. Jedenfalls könnte eine solche Frau, die unausgeruht entbunden hat, schonungsbedürftiger sein als eine andere, die vor der Entbindung mehrere Wochen nicht gearbeitet hat. Da sich somit, was die Dauer der Schutzfrist nach der Entbindung von einem zu früh, aber tot geborenen Kind betrifft, auch für die längere Frist von zwölf Wochen Gründe anführen lassen, deren tatsächliches Gewicht und sozialpolitische Relevanz letztlich nur vom Gesetzgeber entschieden werden kann, hat sich der Senat nicht für befugt gehalten, die Anwendung der fraglichen Vorschrift, die ihrem Wortlaut nach nicht zwischen lebend und tot geborenen Kindern unterscheidet, auf lebend geborene einzuschränken.
Es kommt hinzu, daß eine solche Einschränkung eine Reihe weiterer Fragen aufwerfen würde. So wäre u.a. zu prüfen, ob die kürzere Frist auch dann gilt, wenn das lebend geborene Kind vor Ablauf von acht Wochen stirbt (vgl. DOK 1973, 188) oder später von der Mutter nicht gepflegt zu werden braucht, weil es sich in Krankenhausbehandlung befindet (vgl. Töns, aaO). Ob der Gesetzgeber, wenn er vor diese Fragen gestellt wäre, nicht einer Lösung den Vorzug geben würde, die - selbst um den Preis gewisser Unvollkommenheiten - alle Frühgeburten, ob lebend oder tot zur Welt gekommen, gleichbehandelt und damit eine einfache und klare Rechtsanwendung ermöglicht, ist durchaus offen. Auch aus diesem Grund ist für eine berichtigende, das Gesetz über seinen Wortlaut einschränkende Auslegung kein Raum. Die Bezugsdauer des Mutterschaftsgeldes von zwölf Wochen nach der Entbindung von einer Frühgeburt (§ 200 Abs. 3 RVO) gilt deshalb auch in Fällen, in denen das Kind tot geboren wird. Da das SG in gleichem Sinne entschieden hat, war die Sprungrevision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen