Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Zugunstenverfahren. Verwaltungsakt. Rücknahme. maßgebender Zeitpunkt. gesetzliche Unfallversicherung. Höhe der Verletztenrente. Jahresarbeitsverdienst. Unvermögen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit
Orientierungssatz
Der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme im Rahmen eines Zugunstenverfahrens gem § 44 SGB 10 begehrt wird, muss im Zeitpunkt seines Erlasses, also von Anfang an rechtswidrig sein. Wird er hingegen erst nachträglich rechtswidrig (hier: Unvermögen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit iSd § 573 Abs 3 RVO bzw § 90 Abs 3 SGB 7 erst nach dem Erlass des Verwaltungsaktes), kann er nur unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X aufgehoben werden.
Normenkette
RVO § 573 Abs. 3; SGB 7 § 90 Abs. 3; SGB 10 § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 48 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 23. April 2009 wird als unzulässig verworfen, soweit er die Aufhebung auch nach § 48 SGB X begehrt. Im Übrigen wird sie zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe einer Verletztenrente.
Der am 1965 geborene Kläger erlitt am 29.3.1973 als achtjähriger Schüler einen Arbeitsunfall. Der Beklagte stellte als Unfallfolgen eine motorische Behinderung in Gestalt einer Gangstörung und eingeschränkten Feinbeweglichkeit der Hände, ein psychoorganisches Syndrom in Form einer Verlangsamung des Wahrnehmungs- und Reaktionstempos sowie des Sprachablaufs, eine mangelnde psychische Belastbarkeit, eine Bewegungseinschränkung der Schultern, Ellenbogen und Hüften, Knick-Senk-Füße beiderseits, bei intendierten Bewegungen eine spastische Spitzfußhaltung links, eine Coxa valga und Genua valga beiderseits sowie einen Zustand nach gedecktem Schädelhirntrauma mit linksbetonter spastischer Tetraparese und für die Zeit ab 1.4.1975 das Recht auf Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 vH fest (Bescheid vom 5.5.1976). Auf der Grundlage eines vor dem Sozialgericht Stade (SG) am 13.10.1988 abgeschlossenen Vergleichs wurde die Verletztenrente mit Wirkung ab Vollendung des 25. Lebensjahres am 2.2.1990 nach einem Jahresarbeitsverdienst (JAV) in Höhe des einem 25-jährigen Bauingenieur nach der Vergütungsgruppe V a des Bundes-Angestelltentarifvertrags (BAT) zustehenden Bruttoverdienstes von 39.503,84 DM neu bemessen (Bescheid vom 14.11.1990).
Nach dem Besuch einer Behindertenschule und dem Erwerb des Hauptschulabschlusses absolvierte der Kläger eine Ausbildung zur Bürofachkraft. Vom 1.4.1994 bis zum 31.10.1997 war er als Büroangestellter im Bauunternehmen seines Bruders beschäftigt. Diese Tätigkeit endete wegen der Betriebsaufgabe. Anschließende Arbeitsversuche bei anderen Firmen blieben erfolglos.
Den im November 1999 gestellten Antrag des Klägers, der Rentenbemessung einen ab 2.8.1990 durch die Vergütungsgruppe BAT IV b und ab August 1997 durch die Vergütungsgruppe BAT IV a bestimmten JAV zu Grunde zu legen, lehnte der Beklagte bestandskräftig im Bescheid vom 18.7.2001 ab. Mit Schreiben vom 1.3.2002 und 2.9.2002 machte der Kläger "die Überprüfung des dortigen Bescheides vom 18.07.2001 gemäss § 44 SGB X" geltend. Obwohl er aufgrund der Unfallfolgen keiner Erwerbstätigkeit nachgehen könne, sei eine Feststellung des JAV nach § 573 Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) oder § 90 Abs 3 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) unterblieben. Der Beklagte lehnte eine Rücknahme seines Bescheides vom 18.7.2001 ab (Bescheid vom 5.2.2003; Widerspruchsbescheid vom 11.4.2005).
Das SG hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 13.11.2006). Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 23.4.2009). Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger bei Erlass des Bescheides am 18.7.2001 keiner Erwerbstätigkeit hätte nachgehen können. Das der Bewilligung der Rente wegen voller Erwerbsminderung durch die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zu Grunde liegende Leistungsvermögen von nur noch unter drei Stunden bestehe nach einer Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. Sch. vom 3.1.2004 seit 10.12.2001. Ausweislich eines für das Arbeitsamt Verden erstellten Gutachtens des Dipl-Psych J. vom 13.5.2002 sei der Kläger den Belastungen eines halben Bürotages gewachsen gewesen. In dem Gutachten des Arbeitsamtarztes Dr. L. vom 18.4.2002 sei sogar eine vollschichtige Einsetzfähigkeit im erlernten Beruf angenommen worden. Abgesehen davon sei der Arbeitsunfall nicht kausal für die Unmöglichkeit, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Erst die unabhängig vom Arbeitsunfall entstandene und im November 2002 diagnostizierte Multiple Sklerose habe zur Erwerbsunfähigkeit geführt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 573 Abs 3 RVO sowie eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung. Dass der Versicherungsfall die zeitlich letzte Ursache für das unzureichende Leistungsvermögen sein müsse, finde weder im Gesetz noch in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur Theorie der wesentlichen Bedingung eine Stütze. Es könne nicht auf die zufällige Reihenfolge des Eintritts unfallbedingter und unfallunabhängiger Erkrankungen ankommen. Ursachen, die bereits vor Eintritt der Unmöglichkeit, eine Erwerbstätigkeit auszuüben, zu einer nicht ganz unerheblichen Erwerbsminderung geführt hätten, würden wesentlich zur nachfolgend eingetretenen Erwerbsunfähigkeit beitragen. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Unfallfolgen zumindest zur Hälfte die Unmöglichkeit der Erwerbsfähigkeit bedingten. Während vorliegend die Unfallfolgen zu einer MdE von 80 vH führten, sei für die Multiple Sklerose eine MdE von 50 vH angenommen worden. Von einer wesentlich kausalen Mitwirkung sei spätestens ab 10.12.2001 auszugehen. Die gutachtlichen Feststellungen von Dr. L. und des Dipl-Psych J. ständen aber auch für die Zeit davor einem die Erwerbstätigkeit ausschließenden Leistungsvermögen nicht entgegen. Das LSG habe diese ungeprüft übernommen anstatt selbst die Leistungsfähigkeit zu klären.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landesozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 23. April 2009 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 13. November 2006 sowie den Bescheid des Beklagten vom 5. Februar 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. April 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm unter Rücknahme des Bescheides vom 18. Juli 2001 für die Zeit ab 1. Januar 1998 eine höhere Verletztenrente zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Kläger sei vor der Erkrankung an Multipler Sklerose in der Lage gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damit scheide der Arbeitsunfall als rechtlich wesentliche Teilursache aus.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist in dem im Urteilsausspruch genannten Umfang unzulässig, im Übrigen zwar zulässig, aber unbegründet.
Die Revision des Klägers ist mangels (formeller) Beschwer als unzulässig zu verwerfen (§ 169 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), soweit er die Feststellung einer höheren Verletztenrente unter Aufhebung des Bescheids vom 18.7.2001 nach § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) geltend macht. Darüber hat das LSG nicht entschieden. Der Kläger hat eine solche Entscheidung auch nicht beantragt. Sowohl im Klage- als auch im Berufungsverfahren sowie mit der Revision hat er nur die Aufhebung der ablehnenden Entscheidung im Bescheid vom 5.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.4.2005 begehrt. Darin hatte der Beklagte lediglich einen auf § 44 SGB X gestützten Anspruch auf Rücknahme seines Verwaltungsaktes im Bescheid vom 18.7.2001 abgelehnt, mit dem eine günstigere "Rentenberechnung" abgelehnt worden war. Damit hatte das LSG nicht darüber zu urteilen, ob eine für den Kläger günstige wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten war. Dass sich der Kläger vor dem SG oder LSG auf § 48 SGB X gestützt hätte, obwohl ein Verwaltungsakt hierüber nicht ergangen war, und dass das Klagebegehren rechtsmissbräuchlich beschränkt worden wäre, ist weder behauptet worden noch ersichtlich.
Aufgrund zulässiger Revision hat das BSG nur zu prüfen, ob das LSG die zulässige Berufung des Klägers gegen den die Klagen abweisenden Gerichtsbescheid des SG zutreffend zurückgewiesen hat, soweit es um die zulässige Anfechtungsklage gegen die Ablehnung eines Anspruchs auf Rücknahme des Verwaltungsakts vom 18.7.2001, um die Verpflichtung des Beklagten zu dieser Rücknahme sowie um die Zahlung höherer Verletztenrente aufgrund dieser Rücknahme geht. Die Ablehnungsentscheidung des Beklagten im Bescheid vom 5.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.4.2005 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsakts vom 18.7.2001.
Nach § 44 Abs 2 iVm Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, stets auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es ist weder geltend gemacht worden noch erkennbar, dass der Beklagte bei der Überprüfung des JAV von einem Sachverhalt ausgegangen sein könnte, der sich (nachträglich) als unrichtig erweist. Er hat das Recht nicht unrichtig angewandt. Seine Entscheidung im Bescheid vom 18.7.2001, die Feststellung der Höhe der Verletztenrente im Bescheid vom 14.11.1990 mangels einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse nicht aufzuheben, entsprach der damaligen Sach- und Rechtslage.
Soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, ist der Verwaltungsakt nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt soll gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB X mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolgt. Die Höhe der dem Kläger ab 2.2.1990 zustehenden Verletztenrente wurde zuletzt durch den Verwaltungsakt mit Dauerwirkung vom 14.11.1990 festgestellt. Es sind also die Verhältnisse bei der Feststellung der Höhe der Verletztenrente für die Zeit ab 2.2.1990 durch Bescheid vom 14.11.1990 mit denjenigen bei Erlass der Ablehnungsentscheidung vom 18.7.2001 zu vergleichen (vgl BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 47 S 102 f). In diesen Verhältnissen ist keine Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Art eingetreten.
Bei der Prüfung der erforderlichen Änderung kommt es auf den Verfügungssatz des früheren Verwaltungsaktes an. Im Bescheid vom 14.11.1990 hat der Beklagte in Befolgung eines gerichtlichen Vergleichs nur geregelt, dass wegen eines durch die Vergütungsgruppe BAT V a bestimmten JAV ein Anspruch auf eine höhere Verletztenrente besteht. Bezogen darauf ist eine Änderung nicht eingetreten und auch nicht geltend gemacht worden.
Eine Änderung ist auch dann nicht darin zu erblicken, dass der Kläger bei Erlass des Ablehnungsbescheids vom 18.7.2001 gehindert gewesen wäre, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob aufgrund der Übergangsregelungen der §§ 212 und 214 Abs 2 Satz 1 SGB VII der Gesetzestext der RVO oder der des SGB VII gilt. Sowohl § 573 Abs 3 RVO als auch § 90 Abs 3 SGB VII setzen für die Neufestsetzung der Verletztenrente voraus, dass der Verletzte außer Stande ist, eine Erwerbstätigkeit zu verrichten. Das war bei dem Kläger nach den Feststellungen des LSG jedenfalls bei Erlass des Ablehnungsbescheids vom 18.7.2001 nicht der Fall.
Das LSG hat ein zu diesem Zeitpunkt bestehendes Unvermögen zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit verneint. Es hat festgestellt, dass erst durch das Hinzutreten der unabhängig vom Arbeitsunfall entstandenen Multiplen Sklerose eine Erwerbstätigkeit ausgeschlossen wurde, diese Erkrankung bei Erlass des Bescheids vom 18.7.2001 aber noch nicht ausgebrochen war. An diese Feststellungen ist der Senat gebunden (§ 163 SGG), da sie nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen sind. Der Kläger hat die geltend gemachte Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) weder innerhalb der Revisionsbegründungsfrist (§ 164 Abs 2 Satz 1 SGG) noch in der gebotenen Form (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) gerügt. Er hat nicht aufgezeigt, weshalb sich das LSG auf der Grundlage seiner eigenen Rechtsansicht zu bestimmten weiteren Beweiserhebungen hätte gedrängt fühlen müssen (vgl BSG vom 6.5.2004 - B 4 RA 44/03 R - Juris RdNr 21). Der Kläger hat nur dargelegt, weshalb es aus seiner Sicht einer weiteren Sachverhaltsaufklärung bedurft hätte.
Dass der Kläger erst nach dem Erlass des Verwaltungsaktes vom 18.7.2001 im November 2002 die Fähigkeit verloren hat, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist im Rahmen der hier zu beurteilenden Voraussetzungen für dessen Rücknahme nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ohne Bedeutung. Der Verwaltungsakt, dessen Rücknahme begehrt wird, muss im Zeitpunkt seines Erlasses, also von Anfang an rechtswidrig sein. Wird er hingegen erst nachträglich rechtswidrig, kann er nur unter den Voraussetzungen des § 48 SGB X aufgehoben werden. Im Bescheid vom 5.2.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.4.2005 hat der Beklagte indes nur den mit Schreiben des Klägers vom 1.3.2002 und 2.9.2002 ausdrücklich gestellten Antrag auf "Überprüfung … gemäss § 44 SGB X" abgelehnt, also - wie bereits ausgeführt wurde - nur festgestellt, dass der Kläger keinen Rücknahmeanspruch hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2380578 |
SGb 2010, 477 |