Leitsatz (amtlich)
Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes bei einem tätlichen Angriff, den ein Einbrecher auf die Inhaberin eines Einzelhandelsgeschäfts zur Nachtzeit in ihrer über den Geschäftsräumen gelegenen Wohnung ausführte, als die Versicherte den Dieb an der Entwendung von Geschäftsgeldern hindern wollte.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 25. September 1963 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 30. April 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin betreibt in dem von ihr allein bewohnten Haus ein Einzelhandelsgeschäft in Textilien. Der Laden und das Büro befinden sich im Erdgeschoß des Hauses; das obere Stockwerk wird von der Klägerin bewohnt.
Am 21. Mai 1962 wollte die Klägerin, wie jeden Montag, in Frankfurt Waren für ihr Geschäft einkaufen und einen Teil ihrer Geschäftseinnahmen bei einer Bank einzahlen. Zu diesem Zweck steckte sie am Sonntagabend, bevor sie sich schlafen legte, in ihre Handtasche 830,- DM und stellte die Tasche im Wohnzimmer, das gegenüber dem Schlafzimmer liegt, ab. Die Geschäftskasse verwahrte sie im Schlafzimmer. Der Schreibtisch, der sonst im Büro neben dem Laden steht, war seinerzeit vorübergehend in einem kleinen Raum neben dem Schlafzimmer untergebracht.
In der Nacht vom 20. auf 21. Mai 1962 stieg ein der Klägerin unbekannter Mann, der von der Polizei nicht ergriffen werden konnte, in das Haus der Klägerin ein. Als er, aus dem Wohnzimmer kommend, ihr Schlafzimmer betrat, wurde die Klägerin wach. Es kam zu einem Handgemenge zwischen ihr und dem Eindringling. Dieser versuchte, die Klägerin am Schreien zu hindern und sie zusammenzuschlagen. Schließlich gelang es ihm, sie durch das Schlafzimmerfenster hinauszuwerfen. Die Klägerin erlitt durch den Sturz nicht unerhebliche Verletzungen. Das in der Handtasche verwahrte Geld nahm der Einbrecher an sich.
Die Beklagte versagte mit Bescheid vom 8. Januar 1963 die begehrte Unfallentschädigung, weil sich der Überfall außerhalb der Betriebszeit im eigenwirtschaftlichen Gefahrenbereich der Klägerin ereignet habe.
Das Sozialgericht (SG) Frankfurt/Main hat durch Urteil vom 30. April 1963 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, den Unfall der Klägerin zu entschädigen. Es bestehe eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für die Annahme, daß der Einbruch im Hause der Klägerin nicht erfolgt wäre, wenn sie nicht Inhaberin eines Ladengeschäfts wäre. Die Klägerin sei bei dem Versuch, Gegenmaßnahmen zum Schutz der Betriebsgelder zu ergreifen, zu Schaden gekommen. Der ursächliche Zusammenhang mit ihrer betrieblichen Tätigkeit sei somit gegeben.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 25. September 1963 die Entscheidung des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Das LSG hat sein Urteil im wesentlichen wie folgt begründet: Eine feste Grenze zwischen betrieblichem und häuslichem Wirkungskreis könne, wenn sich Betriebs- und Privaträume in demselben Haus befänden, häufig nicht leicht oder gar nicht gezogen werden. Im Zeitpunkt des Einbruchs habe die Klägerin jedoch geschlafen, somit sich einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit hingegeben. Alleinige oder doch wesentlich mitwirkende und daher allein rechtserhebliche Ursache des Unfalls sei der gegen ihre Person gerichtete Überfall des Einbrechers gewesen, dem gegen ihr Eigentum gerichtete räuberische Motive zugrunde gelegen hätten. Die Klägerin habe, als sie sich gegen die tätlichen Angriffe des Einbrechers zur Wehr gesetzt habe, in erster Linie Maßnahmen zum Schutz ihrer Person ergriffen. Selbst wenn sie gleichzeitig ihr Eigentum und damit auch ihre Betriebsgelder habe schützen wollen, stehe ihr Handeln nicht unter Versicherungsschutz; denn eine Trennung zwischen den privaten Geldern der Klägerin und ihren Betriebsmitteln könne nicht vorgenommen werden, weil diese ebenfalls Teil ihres Privatvermögens seien. Es sei in keiner Weise dargetan, daß der Einbrecher nur Betriebsgelder habe entwenden wollen. Bei dem Einbruch sei die Klägerin keiner Gefahr ausgesetzt gewesen, die mit ihrer Eigenschaft als Geschäftsinhaberin zusammenhing. Es habe sich vielmehr um Gefahren des täglichen Lebens gehandelt, von denen auch andere Personen betroffen würden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat durch ihre Prozeßbevollmächtigten Revision einlegen und diese wie folgt begründen lassen: Versicherungsrechtlich könne es nicht darauf ankommen, daß die von der Klägerin in ihrer Handtasche verwahrten Betriebsgelder ihr Privatvermögen gewesen seien. Wenn auch das Schlafen eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit darstelle, müsse beachtet werden, daß die Klägerin in einem Raum geschlafen habe, in den die betriebliche Sphäre übergegriffen habe; denn der sonst im Büro im Erdgeschoß befindliche Schreibtisch sei damals im Obergeschoß abgestellt und die Geschäftskasse sei im Schlafzimmer verwahrt gewesen. Der gegen die Klägerin unternommene Angriff des Einbrechers habe weder der Klägerin als Frau noch einer Kriegerwitwe mit einer kleinen Rente gegolten, sondern sei gegen die Betriebsinhaberin gerichtet gewesen, die ihre Betriebsgelder aus Sicherheitsgründen in ihren Privaträumen verwahrt habe. Die von der Klägerin ergriffene Abwehr des gegen ihre Person gerichteten Angriffs sei zum Schutz ihres wertvollsten betrieblichen Vermögens unternommen worden. Der bei der Klägerin eingetretene Gesundheitsschaden sei sonach auf betriebliche Umstände zurückzuführen. Das Berufungsgericht habe mit seiner Annahme, daß die bei der Klägerin gegebenen räumlichen Verhältnisse eine Trennung zwischen betrieblichem und häuslichem Wirkungskreis nicht zuließen, daß die Klägerin, als sie während des Schlafens überfallen worden sei, eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit verrichtet habe und daß ihre Abwehr gegen die Angriffe des Einbrechers in erster Linie dem Schutz der eigenen Person gedient hätten, die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten. Es habe ferner den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt. Durch Einsichtnahme in die Buchungsunterlagen und Einvernahme der von der Klägerin angebotenen Zeugen wäre bewiesen worden, daß eine Trennung von privaten und betrieblichen Geldern durchaus möglich gewesen sei. Durch Einnahme des Augenscheins und Einvernahme von Zeugen hätten außerdem die räumlichen Verhältnisse genau geklärt werden können.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für zutreffend. An der erforderlichen Betriebsbezogenheit fehle es, weil die Klägerin nicht in ihrem Geschäft einen Einbruch abgewehrt, sondern sich gegen einen in ihren Privaträumen gegen ihre Person gerichteten Raubüberfall zur Wehr gesetzt habe. Dadurch, daß die Klägerin während der Nacht in ihren Privaträumen die Betriebsgelder verwahrt habe, stehe deren rein privatrechtliches persönliches Eigentum für die rechtliche Betrachtungsweise im Vordergrund mit der Folge, daß die Klägerin, wie andere Personen auch, einer Gefahr des täglichen Lebens ausgesetzt gewesen sei. Wollte man in der vorliegenden Streitsache zugunsten der Klägerin entscheiden, müßten ganz andere tatsächliche Feststellungen getroffen werden. Die von der Revision vorgebrachten Verfahrensrügen seien nicht formgerecht erhoben; es bestehe eher für die Beklagte Anlaß, dem Berufungsgericht mangelnde Sachaufklärung vorzuwerfen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des Urteils des Berufungsgerichts die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die - durch Zulassung statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - Revision ist begründet.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein innerer Zusammenhang zwischen dem Überfall auf die Klägerin und deren betrieblicher Tätigkeit vorliegt. Diese Frage ist - entgegen der Auffassung des LSG - zu bejahen.
Das Berufungsgericht hat sie zu Unrecht mit der Begründung verneint, daß der Überfall sich nicht in den Betriebsräumen ereignet und die Klägerin in diesem Zeitpunkt keine betriebliche Tätigkeit ausgeübt habe. Das LSG verkennt, daß die Klägerin in dem Augenblick mit einer betrieblichen Tätigkeit begonnen hat, in dem sie versucht hat, den Einbrecher aus ihrem Haus zu vertreiben. Maßnahmen, die ein Unternehmer ergreift, um Gegenstände, die zu seinem Unternehmen gehören, vor unberechtigtem Zugriff zu schützen, stellen eine betriebsbezogene Tätigkeit dar und stehen somit unter Versicherungsschutz.
Das Reichsversicherungsamt (RVA) hat einen auf eine Verkäuferin zu dem Zweck unternommenen Überfall, die Ladenkasse auszurauben, als Arbeitsunfall angesehen (Breithaupt 1913/14 S. 163). Für einen Beschäftigten, der sich außerhalb der Arbeitszeit aus nicht mit dem Unternehmen zusammenhängenden Gründen am Ort seiner betrieblichen Tätigkeit aufhält und dort bei der Abwehr eines Einbrechers einen Unfall erleidet, muß dasselbe gelten. Das Ergebnis kann kein anderes sein, wenn ein Beschäftigter ihm anvertraute, in seiner Wohnung verwahrte Betriebsmittel gegen einen unrechtmäßigen Zugriff abwehrt (LSG Rheinland-Pfalz, Breithaupt 1966 S. 23). Für den Inhaber eines kleinen Unternehmens, bei dem Wohn- und Betriebsstätte ineinander übergehen, der sich gegen einen Eindringling, welcher es auf Gegenstände seines Betriebs abgesehen hat, zur Wehr setzt und dabei verletzt wird, muß sonach ebenfalls der Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung gegeben sein.
Für die Klägerin gehörten außer den von ihr zu verkaufenden Waren die in ihrem Geschäft vereinnahmten Gelder zu den für sie wertvollsten Gegenständen ihres Betriebs; denn ohne diese Betriebsmittel konnte sie ihr Geschäft nicht weiterführen. Versicherungsrechtlich ist es hierbei ohne Bedeutung, daß nach den bei so kleinen Unternehmen üblichen Verhältnissen eine Trennung der Barmittel in Gelder für betriebliche und für private Zwecke meist nicht stattfindet und diese, wenn der Geschäftsinhaber sich für längere Zeit - wie nachts - nicht in seinen Geschäftsräumen aufhält, in einem Privatraum aufbewahrt zu werden pflegen. Rechtlich bedeutsam ist in einem solchen Fall nicht eine äußere örtliche und zeitliche Verbindung mit der Unternehmenstätigkeit, sondern der Umstand, daß der Versicherte einen unberechtigten Angriff gegen sein Unternehmen abwenden will. - Versicherte, bei denen angesichts der Art und Kleinheit ihres Unternehmens private und betriebliche Sphäre häufig ineinander übergehen, stehen selbst dann unter Versicherungsschutz, wenn sie Abwehrmaßnahmen gegen einen Eindringling ergreifen, um auch ihr Betriebsvermögen gegen Entwendung zu schützen. Es muß genügen, daß der Versicherte auf Grund der ihm sich darbietenden äußeren Umstände annehmen kann, daß der Einbrecher nicht nur zum privaten Gebrauch bestimmte Wertgegenstände (wie z. B. Schmuck), sondern Werte jeglicher Art und somit auch für das Geschäft bestimmte Geldmittel sich unberechtigterweise aneignen will. Im Hinblick darauf, daß es selten vorkommen wird, daß ein unbefugt in ein Haus eindringender Fremder dem Hauseinwohner den Beweggrund seines Handelns mitteilt, hängt der Versicherungsschutz sonach davon ab, welcher mutmaßliche Beweggrund (vgl. auch BSG 13, 290, 291; 17, 75, 77 - mit Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum) des Eindringlings angesichts der sonstigen äußeren Umstände für den Versicherten Anlaß ist, den Eindringling abzuwehren.
Die Klägerin mußte, wie den Feststellungen des Berufungsgerichts entnommen werden kann, nach den ihr sich darbietenden Gegebenheiten damit rechnen, daß der Fremde das nebenan im Wohnzimmer in der Handtasche verwahrte, für Betriebszwecke bereitgelegte Geld entwenden wollte, eine Annahme, die sich nachträglich bestätigt hat. Ihr Kampf mit dem Einbrecher hat nicht, wie das Berufungsgericht glaubt, im wesentlichen dem Schutz ihrer eigenen Person gedient; in diesem Falle hätte sie sich, wie die Revision zutreffend dargetan hat, nur ruhig zu verhalten brauchen. Ihr Ziel war vielmehr, dem Einbrecher seine Beute wieder abzujagen oder, falls er noch nichts entwendet hatte, ihn daran zu hindern. Dem Einbrecher hingegen mußte daran gelegen sein, die Klägerin - als Hindernis seines verbrecherischen Handelns - aus dem Wege zu räumen.
Der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit der Klägerin ist somit gegeben.
Der Senat weicht in dem vorliegenden Fall, in dem er den ursächlichen Zusammenhang bejaht, von seinem Urteil vom 29. Mai 1964 (BSG 21, 101) nicht ab. Dieser Entscheidung liegt ein anderer Sachverhalt zugrunde: Eine Geschäftsfrau wollte einen Eindringling, der bereits im Begriff war, sich aus dem Haus, in das er eingestiegen war, zu entfernen, festnehmen. Unter diesen Umständen hat der Senat die Tatbestandsmerkmale des § 537 Nr. 5 c der Reichsversicherungsordnung aF als erfüllt angesehen.
Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine Sachentscheidung durch den Senat noch aus. Es kann ferner mit dem LSG davon ausgegangen werden, daß die Klägerin durch den Überfall Gesundheitsschäden in einem Ausmaß erlitten hat, daß die Beklagte ihr Unfallentschädigung in einer Mindesthöhe zu gewähren hat (SozR Nr. 4 zu § 130 SGG). Das SG hat die Beklagte daher zutreffend dem Grunde nach zur Entschädigungsleistung verurteilt.
Auf die Revision der Klägerin war das Urteil des LSG somit aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen die Entscheidung des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen