Entscheidungsstichwort (Thema)

Hinterbliebenenrente an frühere Ehefrau des verstorbenen Versicherten. fortlaufende, der Höhe nach unterschiedliche Unterhaltszahlungen im letzten Jahr vor dem Tode des Versicherten

 

Leitsatz (amtlich)

Hat der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode seiner früheren Ehefrau ununterbrochen monatlich fortlaufende, der Höhe nach aber unterschiedliche Unterhaltszahlungen geleistet, so ist ein Hinterbliebenenrentenanspruch nach AVG § 42 S 1 Alternative 3 (= RVO § 1265 S 1 Alternative 3) in der Regel dann gegeben, wenn der Durchschnitt aller im Jahreszeitraum erbrachten Unterhaltszahlungen die Grenze von 25% des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs der Empfängerin erreicht oder übersteigt (Anschluß an und Fortbildung von BSG 1964-03-17 11/1 RA 274/61 = BSGE 20, 252-254 iVm BSG 1964-10-27 4 RJ 383/61 = BSGE 22, 44-49). Es kommt dann nicht mehr darauf an, ob der Versicherte im Falle seines Fortlebens die Absicht gehabt hätte, weiterhin Unterhalt zu zahlen (Bestätigung von BSG 1966-06-28 11 RA 288/64 = BSGE 25, 86-89).

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 23. Juli 1976 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 13. August 1975 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin als früherer Ehefrau des am 3. Juni 1974 verstorbenen Versicherten Harry K eine Hinterbliebenenrente gemäß § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zusteht.

Die Klägerin hatte im Jahre 1961 mit dem Versicherten die Ehe geschlossen; aus ihr ist der am 24. Oktober 1963 geborene Sohn L hervorgegangen. Durch Urteil des Landgerichts Hamburg vom 8. März 1972 wurde die Ehe aus dem Verschulden des Mannes rechtskräftig geschieden. Am gleichen Tag schlossen die Klägerin als Antragstellerin und der Versicherte als Antragsgegner vor der Öffentlichen Rechtsauskunfts- und Vergleichsstelle H einen Vergleich, der u. a. folgende Regelung enthält:

5.)

Der Antragsgegner verpflichtet sich, zur Unterhaltsabgeltung DM 2.400,- (Deutsche Mark zweitausendvierhundert) an die Antragstellerin zu zahlen. Dieser Betrag ist fällig in monatlichen Teilbeträgen von DM 100,- (Deutsche Mark einhundert), beginnend mit dem auf die Rechtskraft des Scheidungsurteils folgenden Monatsersten.

6.)

Die Parteien verzichten im übrigen wechselseitig für Vergangenheit und Zukunft, auch für den Fall des Notbedarfs, auf Unterhalt und nehmen diese Erklärungen gegenseitig an.

Den von der Klägerin nach dem Tode des Versicherten gestellten Antrag auf Hinterbliebenenrente wies die Beklagte ab, weil hierfür die Voraussetzungen weder nach Satz 1 noch nach Satz 2 des § 42 AVG erfüllt seien (Bescheid vom 21. Oktober 1974). Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) Erfolg (Urteil vom 13. August 1975). Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) nach Vernehmung der Zeugin Ilse S die erstinstanzliche Entscheidung auf und wies die Klage ab.

Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Im Hinblick auf den im Vergleich vom 8. März 1972 enthaltenen Verzicht der Klägerin auf Unterhaltsleistungen komme als Anspruchsgrundlage für die begehrte Hinterbliebenenrente nur die 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG in Betracht. Die danach erforderliche regelmäßige Unterhaltsleistung durch den Versicherten im letzten Jahr vor dem Tode habe hier in der nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) notwendigen Höhe von 25 % des Mindestbedarfs einer Alleinstehenden zuzüglich Mietzuschlag nicht vorgelegen. Der Versicherte habe die im Vergleich vereinbarte Unterhaltsabfindung von 2.400,- DM in monatlichen Teilbeträgen von 100,- DM gezahlt. Die Abfindungszahlungen seien aber bereits im März 1974 und damit wenige Monate vor dem Tode des Versicherten abgeschlossen worden. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme - insbesondere der Aussage der Zeugin S - sei zwar nachgewiesen, daß der Versicherte von Februar bis einschließlich Mai 1974 der Klägerin monatlich 300,- DM als Unterhalt habe zugehen lassen. Diese vorübergehende - den 25 %igen Mindestbedarf im Sinne der Rechtsprechung erheblich übersteigende - Unterhaltsleistung in den letzten vier Monaten vor dem Tode des Versicherten erfülle jedoch für sich allein nicht die gesetzlichen Voraussetzungen der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG. Selbst wenn man davon ausgehen wollte, daß es nicht ausschließlich auf die freiwilligen Unterhaltsleistungen des Versicherten in diesen letzten vier Monaten ankomme, würden die in den ersten acht Monaten des letzten Lebensjahres gezahlten Unterhaltsabfindungsbeträge von jeweils 100,- DM nicht wenigstens 25 % des zeitlichen und örtlichen Mindestbedarfs einer Alleinstehenden erreichen. Zu den für die Klägerin damals in Betracht kommenden Unterhaltsleistungen nach den Regelsätzen des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) im Wohnort H von monatlich 218,- DM (bis 31.12.1973) bzw. 243,- DM (ab 1.1.1974) müßte noch die von der Klägerin aufzubringende Miete für ihre Dreizimmer-Komfortwohnung von monatlich über 400,- DM hinzugezählt werden. Auch wenn man hierfür nur den im Jahre 1974 in Hamburg üblichen Mietzinssatz von etwas über 300,- DM ansetzen würde, habe der Mindestbedarf für die Klägerin in dem hier maßgeblichen Zeitraum insgesamt wenigstens 500,- DM betragen. Da der Versicherte somit im Jahre vor seinem Tode der Klägerin monatliche Unterhaltszahlungen geleistet habe, die teils über und teils unter der aufgezeigten 25 %-Grenze gelegen hätten, sei die 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG nur gegeben, wenn das Gesamtbild aller Zahlungen objektiv die Annahme rechtfertige, daß der Versicherte, wäre er nicht verstorben, künftig Unterhalt im erforderlichen Mindestumfang geleistet hätte (Hinweis auf das Urteil des BSG vom 4.6.1975 - 11 RA 76/74 -). Dies müsse nach dem Gesamtbild aller Zahlungen "und den Umständen des zu entscheidenden Falles" verneint werden. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sei es durchaus denkbar, daß den Versicherten Umstände verschiedenster Art bewogen haben könnten, seine freiwilligen Zuwendungen an die Klägerin zu verringern oder einzustellen. Seine Verhaltensweise spreche jedenfalls dagegen, daß er sich in irgendeiner Weise mit Unterhaltszahlungen gegenüber der Klägerin habe festlegen wollen (Urteil vom 23. Juli 1976).

Die Klägerin hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine unrichtige Anwendung der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG sowie einen Mangel im Verfahren des Berufungsgerichts, den sie auf eine Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) stützt.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Hamburg vom 13. August 1975 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist begründet.

Da die vom Versicherten im Vergleich vom 8. März 1972 vertraglich übernommenen und in monatlichen Raten von je 100,- DM abzutragenden Unterhaltsverpflichtungen bereits im März 1974 und damit vor dem Tode des Versicherten (3.6.1974) geendet haben und die Klägerin für die Zeit nach Ablauf der zeitlich befristeten Leistung auf weiteren Unterhalt verzichtet hat, ist das LSG zutreffend und von der Revision unwidersprochen davon ausgegangen, daß die Klägerin weder nach der 1. und 2. Alternative des § 42 Satz 1 AVG noch nach Satz 2 der Vorschrift einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente hat (vgl. hierzu BSGE 37, 50 und BSG in SozR 2200 § 1265 Nr. 3 und Nr. 6). Dem LSG kann indes nicht gefolgt werden, soweit es den streitigen Anspruch auch nach der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG verneint hat.

Danach ist der Klägerin die begehrte Rente auch dann zu gewähren, wenn ihr der Versicherte im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Diese Voraussetzungen sind nach der ständigen Rechtsprechung des BSG allerdings nur erfüllt, wenn die Zahlungen wenigstens 25 % des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs der Klägerin erreicht haben (vgl. BSGE 22, 44 sowie SozR Nr. 41 und Nr. 43 zu § 1265 der Reichsversicherungsordnung - RVO - = § 42 AVG) und wenn außerdem - abgesehen von besonderen Ausnahmefällen - sich diese Zahlungen auf den vollen Jahreszeitraum vor dem Tode erstreckt haben (vgl. BSGE 25, 86 sowie SozR Nr. 48 und Nr. 55 zu § 1265 RVO). Insoweit ist dem Berufungsgericht entgegen der Meinung der Revision zuzustimmen, daß die in den ersten acht Monaten des letzten Lebensjahres (Juni 1973 bis Januar 1974) erfolgten monatlichen Zahlungen von 100,- DM nicht 25 % des Mindestbedarfs der Klägerin ausmachen, weil bei diesem - wie das LSG richtig erkannt hat - die tatsächlichen Aufwendungen für die Wohnung der Klägerin anzusetzen sind (vgl. BSG-Urteile vom 25.6.1975 und 29.4.1976 in SozR 2200 § 1265 Nr. 5 und Nr. 16), was nach den für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG im maßgeblichen Zeitraum zu einem monatlichen Unterhaltsmindestbedarf der Klägerin von insgesamt wenigstens 500,- DM geführt hat. Andererseits hat das LSG ebenso bindend festgestellt, daß die in den letzten vier Monaten vor dem Tode des Versicherten geleisteten Unterhaltsbeträge von jeweils 400,- DM (Februar und März 1974) bzw. 300,- DM (April und Mai 1974) das Maß von 25 % des Mindestbedarfs erheblich überstiegen haben. In einem derartigen Fall einer ununterbrochen fortlaufenden, der Höhe nach aber unterschiedlichen Unterhaltszahlung während des ganzen letzten Jahres vor dem Tode des Versicherten hält der erkennende Senat im Anschluß an das Urteil des BSG vom 17. März 1964 (BSGE 20, 252, 253) Durchschnittsbildungen unter Einbeziehung der das Mindestmaß nicht erreichenden Monatszahlungen für zulässig, so daß ein Rentenanspruch besteht, wenn nach dem Durchschnitt aller im Jahr vor dem Tode bewirkten Unterhaltsleistungen die genannte 25 %-Grenze überschritten ist.

Dies trifft hier zu. Der Versicherte hat nach den Feststellungen des LSG in seinem letzten Lebensjahr an die Klägerin insgesamt 2.200,- DM Unterhalt gezahlt, was einer monatlichen Unterhaltsleistung von rund 183,- DM entspricht. Dieser Betrag übersteigt aber 25 % des für die Klägerin notwendigen Mindestbedarfs selbst dann, wenn man - anders als das LSG - zu den für die Klägerin in Betracht kommenden Regelsätzen des BSHG von monatlich 218,- DM bzw. 243,- DM nicht die damals in Hamburg für eine Dreizimmer-Wohnung übliche Miete von 300,- DM, sondern die von der Klägerin tatsächlich bezahlte Miete von monatlich über 400,- DM hinzurechnet.

Das vom LSG angeführte Urteil des BSG vom 4. Juni 1975 (SozR 2200 § 1265 Nr. 4) rechtfertigt keine andere Entscheidung. Sie betrifft insofern einen anderen Sachverhalt, als dort der Versicherte mehrere Monate vor seinem Tode nicht - wie im vorliegenden Fall - seine Zahlungen erheblich erhöht, sondern deutlich vermindert hat. Für diesen Fall hat das BSG in der genannten Entscheidung die vom erkennenden Senat für den hier vorliegenden, anders gelagerten Sachverhalt bejahte Frage der aufgezeigten Durchschnittsbildung offengelassen, weil es das Gesamtbild aller dortigen Zahlungen nicht für ausreichend angesehen hat, daß objektiv die Annahme gerechtfertigt gewesen wäre, der Versicherte hätte im Falle seines Weiterlebens künftig Unterhalt im erforderlichen Mindestumfang geleistet. Wie die zur Begründung dieser Entscheidung erfolgte Bezugnahme auf BSGE 25, 86, 88 zeigt, sollte damit aber nicht die bisherige Rechtsprechung des BSG geändert werden, wonach die für die Gewährung der Hinterbliebenenrenten maßgebliche Unterhaltsersatzfunktion bei einer während des ganzen letzten Lebensjahres des Versicherten erfolgten fortlaufenden Unterhaltszahlung, die durchschnittlich 25 % des Mindestbedarfs erreicht oder überschreitet, nach dem Sinn und Zweck der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG unterstellt wird (vgl. hierzu auch BSGE 20, 252, 253). Für die Entscheidung darüber, ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift gegeben sind, kommt es demnach ausschließlich auf die tatsächliche Unterhaltsgewährung in dem Jahreszeitraum selbst an. Wie bereits in BSGE 25, 86, 88/89 betont worden ist, bleibt dagegen unerheblich, ob der Versicherte weiterhin Unterhalt hätte zahlen können und ob er die Absicht gehabt hat, auch weiterhin Unterhalt zu zahlen. Gerade letzteres sieht aber das LSG als ausschlaggebend an, wie seine Würdigung der insoweit durchgeführten Beweisaufnahme ergibt. Danach stellt das LSG entscheidend auf das Verhalten des Versicherten und die daraus - nach Ansicht des LSG - zu schließende Ungewißheit über die fortbestehende Zahlungswilligkeit im Falle des Weiterlebens des Versicherten ab. Das Berufungsgericht hat insoweit abweichend von dem Urteil des BSG vom 4. Juni 1975 aaO, auf das es sich - wie aufgezeigt - ohnehin zu Unrecht stützt, seiner Entscheidung nicht nur das Gesamtbild aller Zahlungen im letzten Lebensjahr des Versicherten, sondern auch sonstige "Umstände" zugrunde gelegt, die für den Rentenanspruch nach der 3. Alternative des § 42 Satz 1 AVG nicht rechtserheblich sein können.

Da es auf die diesbezügliche Beweiswürdigung durch das LSG nicht ankommt, kann dahingestellt bleiben, ob die dagegen gerichtete Verfahrensrüge einer Verletzung des § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG von der Klägerin formgerecht im Sinne des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG erhoben worden ist und gegebenenfalls begründet wäre. Unabhängig davon erweist sich nach alledem die Revision der Klägerin als begründet. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das die begehrte Hinterbliebenenrente zusprechende Urteil des SG zurückzuweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649464

BSGE, 221

Dieser Inhalt ist unter anderem im SGB Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge