Entscheidungsstichwort (Thema)
Kinder der Verlobten. Pflegekindschaftsverhältnis. ungebrochenes Verhältnis zum leiblichen Elternteil
Orientierungssatz
1. Ein Pflegekindschaftsverhältnis iS des § 2 Abs 1 S 1 Nr 2 BKGG kann auch bei Vorhandensein eines gemeinsamen Haushalts zwischen dem Pflegevater und der leiblichen Mutter begründet werden.
2. § 3 Abs 2 S 2 BKGG hätte keinen Sinn, wenn sich schon aus der Bestimmung des Begriffes der Haushaltsaufnahme ergäbe, daß ein Kind nicht in den Haushalt eines Pflegeelternteils aufgenommen werden kann, wenn in diesem Haushalt auch ein leiblicher Elternteil wohnt.
Normenkette
BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 2 Fassung: 1986-01-21, § 3 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger bereits für die Zeit von März bis September 1986 Kindergeld für die Kinder der Beigeladenen zu 1) zugestanden hat.
Aus der im November 1985 geschiedenen ersten Ehe des Klägers sind drei im Zeitpunkt der Scheidung zwischen sieben und dreizehn Jahre alte Kinder hervorgegangen. Sie nahm der Kläger nach der Scheidung in seinen Haushalt auf. Er erhielt für sie in der streitigen Zeit Kindergeld in gesetzlicher Höhe.
Am 1. März 1986 zog die ihrerseits geschiedene, beschäftigungslose Beigeladene zu 1) als Verlobte des Klägers mit ihren 1976 und 1984 geborenen Kindern in die Wohnung des Klägers ein. Aus diesem Anlaß stellten der Landkreis Goslar ab 1. März 1986 die Zahlung der bis dahin der Beigeladenen zu 1) gewährten Hilfe zum Lebensunterhalt und außerdem die Beigeladene zu 2) die Zahlung des Kindergeldes für die Kinder der Beigeladenen zu 1) mit Ablauf des Monats Februar 1986 ein. Zuvor hatte die Beigeladene zu 1) der Beigeladenen zu 2) mitgeteilt, daß der Kläger seinerseits für diese Kinder Kindergeld beim Beklagten beantragen werde.
Der Beklagte lehnte diesen Antrag, dem die Beigeladene zu 1) dem Beklagten gegenüber zugestimmt hatte, mit Bescheid vom 24. Februar 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 1986 mit der Begründung ab, ein Pflegekindschaftsverhältnis zwischen dem Kläger und den Kindern der Beigeladenen zu 1) könne nicht angenommen werden, weil diese Kinder auch mit der Beigeladenen zu 1), einem leiblichen Elternteil, zusammenlebten. Ein Pflegekindschaftsverhältnis iS des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) bestehe nur, wenn ein Kind von keinem leiblichen Elternteil betreut werde.
Der Beklagte gewährt dem Kläger jedoch ab Oktober 1986 das Kindergeld für die Kinder der Beigeladenen zu 1), nachdem der Kläger und die Beigeladene zu 1) die Ehe geschlossen hatten.
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten antragsgemäß zur Zahlung des Kindergeldes für die streitige Zeit verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat die - vom SG zugelassene - Berufung des Beklagten zurückgewiesen und seinerseits die Revision zugelassen. Beide Vorinstanzen haben die Aufnahme der Kinder der Beigeladenen zu 1) in den Haushalt des Klägers angenommen und ausgeführt, das Pflegekindschaftsverhältnis iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG könne auch bei Vorhandensein eines derartigen gemeinsamen Haushalts zwischen dem Pflegevater und der leiblichen Mutter begründet werden.
Der Beklagte trägt zur Begründung seiner Revision vor, das LSG habe die Kinder der Beigeladenen zu 1) schon deshalb nicht als Pflegekinder des Klägers ansehen dürfen, weil die Beigeladene zu 1) in der streitigen Zeit ihren eigenen Haushalt - wenn auch gemeinsam mit dem des Klägers in einer Wohnung - weitergeführt habe. Unter diesen Umständen sei noch kein familienähnliches Band zwischen dem Kläger und den Kindern der Beigeladenen zu 1) entstanden. Zu beachten sei auch die - engere - Inhaltsbestimmung des Begriffes des Pflegekindes in der Rechtsprechung zum Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) und zum Einkommensteuergesetz (EStG). An dieser Beurteilung ändere auch nichts, daß der Kläger und die Beigeladene zu 1) in der streitigen Zeit bereits verlobt gewesen und durch die Art der Bindung des Klägers und der Beigeladenen zu 1) auch die Sozialhilfeansprüche der Beigeladenen zu 1) entfallen seien. Aus dem gleichen Grunde handele es sich auch nicht um die Haushaltsaufnahme von Stiefkindern (§ 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG).
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. August 1988 und des Sozialgerichts Braunschweig vom 25. Februar 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene zu 1) ist im Revisionsverfahren nicht vertreten. Die Beigeladene zu 2) schließt sich dem Antrag des Beklagten an.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, nachdem die Beteiligten sich gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hiermit einverstanden erklärt haben.
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß die Kinder der Beigeladenen zu 1) in dem streitigen Zeitraum als Pflegekinder zu berücksichtigen sind.
Der Entscheidung ist § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG idF der Bekanntmachung vom 21. Januar 1986 (BGBl I 221) zugrunde zu legen. Nicht anzuwenden ist hingegen die im Zwölften Gesetz zur Änderung des BKGG vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1294) erfolgte engere Inhaltsbestimmung des in § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG definierten Begriffes des Pflegekindes. Nach dieser nun mehr geltenden Fassung liegt ein Pflegekindschaftsverhältnis mit dem Berechtigten nur dann vor, wenn das Obhuts- und Pflegeverhältnis zwischen dem Kind und seinen Eltern nicht mehr besteht. Der Gesetzgeber hat dieser einengenden Vorschrift keine Rückwirkung beigelegt und auch keine entsprechende Übergangsvorschrift geschaffen. Demgemäß sind nach der auf diesen Fall anzuwendenden Vorschrift des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF Pflegekinder solche Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat. Verzichtet der leibliche Elternteil, der mit dem Pflegekind und dem Pflegeelternteil in einem gemeinsamen Haushalt lebt, gegenüber der zuständigen Stelle auf seinen Vorrang schriftlich, geht er nicht mehr im Bezuge vor (§ 3 Abs 2 Satz 2, 2. Halbsatz, BKGG). Ein solcher Verzicht lag nach den Feststellungen des LSG seitens der Beigeladenen zu 1) vor. Der Kläger konnte sonach in der streitigen Zeit auch als Pflegevater iS der in § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF dargelegten Definition der Pflegekinder der Beigeladenen zu 1) gelten.
Wie das LSG ohne Rechtsirrtum festgestellt hat, bestand zwischen dem Kläger und den Kindern der Beigeladenen zu 1) auch ein auf längere Dauer berechnetes familienähnliches Band. Der Kläger, die mit ihm verlobte Beigeladene zu 1) und die beiderseitigen Kinder lebten wie eine Familie zusammen. Die Beziehungen zwischen dem Kläger und den Kindern der Beigeladenen zu 1) gestalteten sich so wie die Beziehungen zwischen ihm und seinen Kindern und ihr und ihren Kindern. Dieses familienähnliche Band war, wie schon die spätere Eheschließung zeigt, auch auf Dauer angelegt. Entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht kommt es bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF allein auf diese tatsächlichen Umstände an. Unerheblich ist hingegen, daß neben diesen Beziehungen zwischen dem Kläger und den Kindern der Beigeladenen zu 1) auch zwischen der Beigeladenen zu 1) und ihren Kindern ein ungebrochenes Verhältnis bestand. Denn darauf hat das Gesetz in der hier anzuwendenden Fassung des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG aF nicht abgehoben; erst die jetzt geltende Fassung des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 2 BKGG nF setzt das Nichtbestehen eines Pflege- und Obhutsverhältnisses des Kindes zu den Eltern voraus.
Die Annahme des LSG, der Kläger habe die Kinder der Beigeladenen zu 1) auch in seinen Haushalt aufgenommen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Für das Tatbestandsmerkmal der Aufnahme in den Haushalt sind die tatsächlichen Umstände maßgebend, unter denen das Kind lebt, wo es untergebracht ist und wo es betreut wird. Anders als bei ehelichen Kindern oder gleichartigen Kindschaftsverhältnissen, für die eine Aufnahme in den Haushalt unterstellt wird, verlangt das Gesetz bei Pflegekindern wegen des fehlenden Verwandtschaftsverhältnisses, daß die Kinder persönlich betreut werden. Hierin wird die Zielsetzung des Kindergeldgesetzes deutlich, die Familie zu begünstigen, in der das Kind dauernd lebt. Derjenige, der Kindern eine Heimstatt bietet und sich um ihr persönliches Wohl sowie um ihre Erziehung kümmert, soll für die damit verbundenen finanziellen, mindestens aber persönlichen Opfer einen Ausgleich von der Gesellschaft erhalten (BVerfGE 22, 163, 169, 173; BSG SozR 5870 § 3 Nr 3). In diesem Sinne hat der Kläger die beiden Kinder der Beigeladenen zu 1) in der streitigen Zeit in seinen Haushalt aufgenommen. Er lebte mit ihnen nicht nur räumlich zusammen, sondern versorgte und betreute diese Kinder auch persönlich (vgl BSGE 20, 91, 93; 33, 105, 106). Die Kinder der Beigeladenen zu 1) sind nach den Feststellungen des LSG vom Kläger wie von der Beigeladenen zu 1) als "zur Familie gehörig" angesehen und behandelt worden (vgl BSG SozR 5870 § 2 Nr 54). Somit ist es rechtlich unerheblich, daß der Haushalt, in dem die Kinder der Beigeladenen zu 1) aufgenommen worden sind, der gemeinschaftliche Haushalt des Klägers und der Beigeladenen zu 1) war.
Die Richtigkeit dieser Schlußfolgerung läßt sich vor allem aus § 3 Abs 2 Satz 2 BKGG ableiten. Danach setzt der Gesetzgeber gerade voraus, daß sowohl ein leiblicher Elternteil wie auch ein Pflegeelternteil kindergeldberechtigt sein kann, wenn beide in einem gemeinsamen Haushalt leben. Die Vorschrift bestimmt darüber hinaus aber auch die Rangfolge, wenn ein Pflegeelternteil und ein Elternteil in einem gemeinsamen Haushalt mit Kindern eines Elternteils leben. Diese Regelung hätte keinen Sinn, wenn sich schon aus der Bestimmung des Begriffes der Haushaltsaufnahme ergäbe, daß ein Kind nicht in den Haushalt eines Pflegeelternteils aufgenommen werden kann, wenn in diesem Haushalt auch ein leiblicher Elternteil wohnt.
Diese Abgrenzung steht auch nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung, wonach die Aufnahme in den Haushalt eines Großvaters dann nicht gegeben ist, wenn das Enkelkind zusammen mit seiner Mutter beim Großvater oder bei den Großeltern lebt (vgl zuletzt BSG, Urteil vom 8. Mai 1981 - 5b RJ 56/81 -). Es kann in diesem Zusammenhang offenbleiben, ob diese Rechtsprechung den Normgehalt des § 3 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG ausreichend berücksichtigt. Jedenfalls hat das BSG die Vorschrift auf einen Sachverhalt wie den vorliegenden ausdrücklich nicht angewendet und überdies nicht ausgeschlossen, daß ein Kind in die Wohnung eines Stiefelternteils aufgenommen werden kann, wenn die Mutter des Kindes in demselben Haushalt wohnt (vgl dazu BSGE 20, 26, 27).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie war um die Verurteilung des Beklagten zur Erstattung der der Beigeladenen zu 1) entstandenen außergerichtlichen Kosten zu ergänzen, da das Verbot der reformatio in peius für die Kostenentscheidung nicht gilt (erkennender Senat, Urteil vom 10. September 1987 - 10 RAr 10/88 -, SozR 1500 § 193 Nr 6 mwN).
Fundstellen