Orientierungssatz
Zur Frage der Berufsunfähigkeit, wenn bei gesundheitlichen Einschränkungen eine Vollschichttätigkeit ausgeübt werden kann, aber ein entsprechender Arbeitsplatz nicht vorhanden ist.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 12.02.1976; Aktenzeichen L 6 J 176/75) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 28.01.1975; Aktenzeichen S 3 J 59/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Februar 1976 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 28. Januar 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente.
Die 1923 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war von 1953 bis 1971 als Packerin, Maschinenarbeiterin und Küchenhilfe beschäftigt. Mit Bescheid vom 4. Januar 1974 lehnte die Beklagte den im August 1973 gestellten Rentenantrag der Klägerin ab, weil weder Erwerbs- noch Berufsunfähigkeit vorliege.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Januar 1975). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil sowie den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, der Klägerin ab September 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 12. Februar 1976). Den Feststellungen des LSG zufolge kann die Klägerin vorwiegend im Sitzen zu verrichtende Tätigkeiten vollschichtig ausüben. Gelegentliches Stehen und Gehen sei kurzzeitig möglich. Die Tätigkeit solle häufige Bewegung des Kopfes, Halses und der Schultern zulassen. Nicht zumutbar seien Bücken, Tragen schwerer Lasten sowie Arbeiten in längerer Zwangshaltung, unter Wechselschichtbedingungen oder unter Zeitdruck. Das LSG hat ausgeführt, die gesundheitlichen Einschränkungen seien so erheblich im Sinne des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 192, 196 ff), daß eine Einsatzfähigkeit der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr in Frage komme. Davon sei auch deshalb auszugehen, weil die Beklagte trotz der Anfrage des Gerichts keine Arbeitsmöglichkeiten in ausreichendem Umfang habe benennen können. Einzelne Beschäftigungsmöglichkeiten im Bankgewerbe genügten nicht. Sortierarbeiten müßten fast ausschließlich im Gehen und Stehen verrichtet werden; das gelte auch für das Auszeichnen von Preisen und Auffüllen von Regalen, für Reinigungs- und hauswirtschaftliche Arbeiten. Gelegenheiten für eine Beschäftigung als Gemüseputzerin gebe es nicht mehr. Fabrikarbeiten seien häufig am Fließband sowie unter Zeitdruck zu leisten.
Die Beklagte trägt mit der - vom Senat zugelassenen - Revision vor, der vom LSG erwähnte Beschluß des GS betreffe nur Teilzeitarbeit. Selbst wenn man die darin enthaltenen Grundsätze verallgemeinern wolle, sei der Arbeitsmarkt für die Klägerin nicht verschlossen; das LSG habe seine gegenteilige Ansicht nicht begründet. Er hätte zumindest die Arbeitsverwaltung hören müssen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie teilt die Rechtsansicht des LSG und meint, ihr sei der Arbeitsmarkt besonders stark erschwert, weil ihre äußerst eingeschränkte Leistungsbreite kaum eine reale Beschäftigungsmöglichkeit eröffne.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente, da sie weder berufsunfähig (§ 1246 Reichsversicherungsordnung - RVO -) noch erwerbsunfähig (§ 1247 RVO) ist.
Berufsunfähigkeit setzt ein Herabsinken der Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson voraus. Ob für die Erwerbstätigkeiten, die der Versicherte mit seinen Kenntnissen und Fähigkeiten gesundheitlich noch ausüben kann, auch Arbeitsplätze vorhanden sind, ist grundsätzlich unerheblich. Denn für das Risiko, keinen entsprechenden Arbeitsplatz zu finden, hat der Schutz der Arbeitslosenversicherung - nicht der Rentenversicherung - einzutreten. Die Klägerin möchte die vom GS des BSG in den Beschlüssen vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 167 ff zur Berufsunfähigkeit, 192 ff zur Erwerbsunfähigkeit) herausgearbeiteten Auslegungsregeln für nicht mehr vollschichtig einsetzbare Versicherte auf sich angewendet wissen. Indessen hat das BSG hierzu bereits mehrfach entschieden, daß die Auswirkungen der Beschlüsse hinsichtlich des Vorliegens eines praktisch verschlossenen Arbeitsmarktes "in aller Regel Bedeutung nur für Teilzeitarbeiten" haben und bei Vollzeittätigkeiten diese Grundsätze lediglich in besonders liegenden Fällen einmal zu dem Ergebnis führen können, daß der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist (so insbesondere SozR Nr 108 zu § 1246 RVO; ferner Nr 86, 89 und 101 aaO). Der Beschluß des GS vom 10. Dezember 1976 (GS 2 bis 4/75, 3/76 in SozR 2200 § 1246 Nr. 13) bestätigt dies. Er macht bereits in seinem Entscheidungssatz Nr 1 deutlich, daß er lediglich Versicherte betrifft, die aufgrund ihres Gesundheitszustandes nur zu Teilzeitarbeit imstande sind. Inzwischen hat der 5. Senat des BSG im Urteil vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - darüber hinaus entschieden, daß diese Grundsätze bei einem Leistungsvermögen, das noch zu vollschichtiger Einsatzfähigkeit ausreicht, nicht angewendet werden können. Dabei geht er davon aus, daß es grundsätzlich für jede (vollschichtige) Tätigkeit in hinreichender Anzahl - offene oder besetzte - Arbeitsplätze jedenfalls dann gibt, wenn diese von Tarifverträgen erfaßt sind. Ausnahmen hiervon können nach der Ansicht des 5. Senats allenfalls in Betracht kommen, wenn der Versicherte zwar gesundheitlich noch Vollzeittätigkeiten verrichten kann, diese aber entweder nicht unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen zu verrichten imstande ist, oder wenn er Arbeitsplätze dieser Art von seiner Wohnung aus nicht aufzusuchen vermag. Auch der erkennende Senat ist wie schon in seinem Urteil vom 21. September 1977 (4 RJ 131/76) dieser Auffassung. Hiernach kann entgegen der Ansicht des LSG nicht davon ausgegangen werden, der Klägerin sei der Arbeitsmarkt verschlossen. Das ihr verbliebene Leistungsvermögen schließt nicht aus, von der Wohnung aus einen Arbeitsplatz zu erreichen. Nach den Feststellungen des LSG fehlen auch Anzeichen dafür, daß die Klägerin nicht in der Lage sei, unter den in Betrieben in der Regel üblicherweise anzutreffenden Arbeitsbedingungen tätig zu sein. Jedenfalls ist eine solche weitgehende Beschränkung nicht darin zu sehen, daß die Klägerin nurmehr vorwiegend im Sitzen, mit gelegentlichem kurzzeitigen Stehen und Gehen, arbeiten kann. Gleiches gilt für die weiteren nach den Feststellungen des LSG zu beachtenden Grenzen der Einsatzmöglichkeiten. Daß eine häufige Bewegung des Kopfes, Halses und der Schultern ermöglicht werden soll, wird vom für erforderlich gehaltenen Ausschluß einer längeren Zwangshaltung weitgehend mit erfaßt. Bücken sowie das Tragen schwerer Lasten scheiden im Hinblick auf die nurmehr vorwiegend im Sitzen zu verrichtenden Tätigkeiten ohnehin aus. Auch der Ausschluß von Tätigkeiten unter Wechselschichtbedingungen sowie unter Zeitdruck führt weder für sich allein noch im Zusammenhang mit den vorerwähnten Einschränkungen dazu, bei der Klägerin von dem Ausnahmefall ausgehen zu können, daß es entsprechende Arbeitsbedingungen üblicherweise in den Betrieben nicht gebe.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen