Leitsatz (redaktionell)
Ein Rechtsanwalt ist zwar berechtigt, die Berufungsfrist bis zum letzten Tag zu nutzen. Er darf jedoch nicht damit rechnen, daß an diesem Tag keine Hindernisse dazwischen kommen werden; vielmehr muß er für einen solchen Fall seinen Büroangestellten zusätzliche Anweisungen für das Einhalten der Berufungsfrist geben. Wenn er das nicht getan hat, dann hat er damit selbst zur Versäumung der Verfahrensfrist beigetragen, so daß bei Versäumnis der Berufungsfrist keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 151 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 19. Juli 1957 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger leidet an einer Versteifung der Wirbelsäule. Er erhielt vom 2. Juni 1947 an Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte entzog ihm im Februar 1956 das Ruhegeld wieder, weil er seit 1951 als Kassierer in einer Großbank arbeitet (Bescheid vom 9.2.1956). Das Sozialgericht (SG.) Hamburg wies die Klage auf Weiterzahlung des Ruhegeldes ab (Urteil vom 28.8.1956). Das Landessozialgericht (LSG.) Hamburg verwarf die Berufung des Klägers als unzulässig: Der Rechtsanwalt des Klägers habe gegen das ihm am 5. September 1956 zugestellte Urteil des SG. erst am 6. Oktober 1956 - also verspätet (§ 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG) - Berufung eingelegt. Sein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei unbegründet. Die Versäumnis der Berufungsfrist beruhe sowohl auf einem Verschulden seiner Gehilfin, als auch auf seinem eigenen Verschulden. Die Gehilfin habe am Tag des Fristablaufs den Fristenkalender nicht überprüft. Der Anwalt habe zwar die Berufungsfrist und zwei Vorfristen notieren lassen; er habe es jedoch unterlassen, den Fristablauf durch eine laufende Kontrolle des Fristenkalenders zu überwachen. Hätte er - entgegen seiner Übung - den Fristenkalender nicht nur zwei bis dreimal im Monat, sondern häufiger überprüft, dann wäre er auf diesen Rechtsstreit rechtzeitig wieder aufmerksam geworden. Er hätte sodann besondere Anweisungen für das Einhalten der Berufungsfrist erteilen müssen, weil er wegen eines erwarteten Privatgutachtens die Frist habe voll ausnutzen wollen. Es sei ihm zwar zugute zu halten, daß er eine qualifizierte Anwaltsgehilfin mit dem Prüfen des Fristenkalenders beauftragt habe. Dies entbinde ihn aber nicht von der Pflicht, den Fristenkalender laufend selbst einzusehen. Das Verschulden seines Anwalts müsse sich der Kläger entgegenhalten lassen (Urteil vom 19.7.1957).
Das LSG. ließ die Revision zu. Der Kläger legte gegen das am 22. August 1957 zugestellte Urteil am 20. September 1957 Revision ein und begründete sie am 18. Oktober 1957. Er beantragte, die Entscheidung des LSG. aufzuheben, die Beklagte zur Weiterzahlung des Ruhegeldes zu verurteilen oder die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen: Ein Rechtsanwalt brauche die Fristen nicht selbst zu überwachen; er dürfe sich von derartigen Arbeiten entlasten, wenn er qualifizierte Fachkräfte habe, und könne sich auf Stichproben beschränken. Eine häufigere Kontrolle der Fristen hätte die Säumnis nicht verhindern können. Sein Anwalt habe die gesamte Berufungsfrist ausnutzen wollen. Eine Vorlage der Akten vor dem letzten Tag der Berufungsfrist sei daher nicht erforderlich gewesen. Die Versäumnis der Berufungsfrist beruhe somit allein auf einem Verschulden der Anwaltsgehilfin. Deren Verschulden müsse er sich nicht entgegenhalten lassen. Das LSG. habe ohne Aufklärung der Arbeitsweise eines Rechtsanwalts und seines Büros über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entschieden. Der Antrag sei begründet, die Berufung zulässig gewesen.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Das Urteil des SG. wurde dem Kläger am 5. September 1956 zugestellt. Die Berufungsschrift ging beim LSG. erst am 6. Oktober 1956 ein. Die Berufungsfrist von einem Monat (§ 151 Abs. 1 SGG) ist somit versäumt. Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG. ist richtig und vollständig, so daß dem Kläger keine längere Berufungsfrist zur Verfügung stand (§ 66 SGG).
Die Ablehnung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das LSG. darf vom Revisionsgericht nachgeprüft werden (BSG. 1 S. 227 und Urteil vom 14.1.1958 - 11/8 RV 97/57). Die Entscheidung des LSG. ist jedoch im Ergebnis richtig.
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand darf nur gewährt werden, wenn ein Beteiligter ohne Verschulden verhindert war, eine Verfahrensfrist einzuhalten (§ 67 SGG). Die Rechtsmittelfristen sind von einem Rechtsanwalt mit besonderer Sorgfalt zu behandeln. Er braucht sie in der Regel zwar nicht persönlich zu überwachen; es genügt im allgemeinen, daß er derartige Arbeiten mit den entsprechenden Anweisungen einem Angestellten überläßt, nachdem er sich von dessen Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit überzeugt hat (RG. in JW. 1926 S. 2431, 1928 S. 711; BGH. in Lindenmaier-Möhring, § 233 ZPO Nr. 7 und Nr. 78). Geht ein Anwalt jedoch - wie im vorliegenden Fall - bewußt darauf aus, die Rechtsmittelfrist bis zum letzten Tag auszunutzen, dann muß er gewärtig sein, daß schon ein geringer Zwischenfall ihre Einhaltung verhindern kann. Ihn trifft daher eine erhöhte Sorgfaltspflicht (RG. in JW. 1936 S. 653 und S. 3312; BGH. in Lindenmaier-Möhring, § 233 ZPO Nr. 5; Stein-Jonas-Schönke, Zivilprozeßordnung, 18. Aufl., § 233 Anm. II; BFH. im Bundessteuerblatt 1957 Teil III S. 280). Dieser erhöhten Sorgfaltspflicht ist der Anwalt des Klägers nicht schon dadurch nachgekommen, daß er im Fristenkalender außer der Endfrist noch 2 Vorfristen notieren ließ. Zum Notieren einer Vorfrist ist jeder Anwalt ohnehin verpflichtet (BGH. in Lindenmaier-Möhring; § 235 ZPO Nr. 12). Im übrigen sind Vorfristen dann nicht das geeignete Mittel, das Einhalten einer Rechtsmittelfrist zu gewährleisten, wenn - wie im Fall des Klägers - die Rechtsmittelschrift nicht am Tag der Vorfrist, sondern erst am letzten Tag der Frist angefertigt werden soll; die Akten sind, wie der Prozeßbevollmächtigte im Termin vor dem LSG. selbst angegeben hat, ihm deshalb an diesen Tagen auch gar nicht vorgelegt worden. Der Anwalt des Klägers hätte zusätzliche Anweisungen für das Einhalten der Berufungsfrist geben oder diese selbst im Auge behalten müssen (RG. in JW. 1936 S. 3312, 1938 S. 244; BGH. in Lindenmaier-Möhring, § 233 ZPO Nr. 78; BFH. a.a.O.). Dies hat er unterlassen. Die Versäumnis der Berufungsfrist beruht auf dieser Unterlassung. Auch eine stärkere berufliche Inanspruchnahme am letzten Tage der Berufungsfrist vermag den Anwalt nicht zu entlasten. Ein Anwalt ist zwar berechtigt, die Berufungsfrist bis zur äußersten Grenze zu nutzen. Er darf jedoch nicht damit rechnen, daß keinerlei unvorhergesehene Umstände ihn an der rechtzeitigen Ausführung seiner Absieht hindern werden (RG. in JW. 1936 S. 653; BGH. in Lindenmaier-Möhring, § 233 ZPO Nr. 12). Im übrigen bestand für den Rechtsanwalt keine Notwendigkeit, die Berufung erst am letzten Tag der Berufungsfrist einzulegen. Die Zulässigkeit der Berufung hängt nicht davon ab, wann sie begründet wird (§ 151 Abs. 3 SGG). Der Rechtsanwalt hätte das erwartete Privatgutachten auch in einem späteren Schriftsatz verwerten können. Er hatte außerdem die Möglichkeit, beim LSG. einen Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes zu stellen (§§ 153, 109 SGG). Das Versehen seines Prozeßbevollmächtigten muß der Kläger vertreten (BSG. SozR., § 67 SGG Da Nr. 2 u. Nr. 7). Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist somit unbegründet.
Das LSG. hat die Berufung mit Recht als unzulässig verworfen (§ 158 Abs. 1 SGG). Die Revision des Klägers ist unbegründet (§§ 170 Abs. 1, 193 SGG).
Fundstellen