Leitsatz (redaktionell)
1. Die Einholung eines Gutachtens nach SGG § 109 darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil das Gericht es als ungeeignet ansieht, einen Ermessensmißbrauch der Versorgungsverwaltung darzutun.
2. Der Antrag nach SGG § 109 Abs 1 ist im Zweifel so auszulegen, daß eine gutachtliche Äußerung über alle streitigen medizinischen Fragen, die für das Klagebegehren bedeutsam sind, begehrt wird.
Der Versorgungsberechtigte kann auch in bezug auf die Frage, ob eine bestimmte Heilbehandlung Aussicht auf Erfolg hat, einen Antrag nach SGG § 109 stellen.
Normenkette
SGG § 109 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. März 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der am 22. Juli 1890 geborene Kläger bezieht wegen Hypertonie und Myocardschaden als Schädigungsfolgen i. S. der Verschlimmerung eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. Er beantragte am 27. Juni 1958 die Bewilligung einer Badekur.
Der Versorgungsarzt Dr. S befürwortete den Antrag nicht, weil im Hinblick auf das fortgeschrittene Lebensalter und die starken Beschwerden des Klägers (hoher Blutdruck, Praesklerose , unkompliziertes Lungenemphysem) eine wesentliche Besserung durch eine Kur nicht zu erwarten und ambulante Behandlung am Ort zweckmäßiger sei. Der Prüfarzt Dr. S trat dieser Auffassung bei; er fügte hinzu, der Kläger könne durch die Belastungen einer Kur gefährdet werden.
Das Versorgungsamt lehnte den Antrag mit Bescheid vom 28. Juli 1958 ab.
Im Widerspruchsverfahren verwies der Kläger auf ein Attest des Badearztes Dr. H, S./Schwarzwald, vom 24. August 1958; in diesem ist mitgeteilt, daß der Kläger bereits früher mehrere Kuren mit günstigem Ergebnis durchgemacht habe und sich sein Zustand stets gebessert habe.
Nach erneuten versorgungsärztlichen Äußerungen durch Dr. S, Dr. P und den Facharzt für innere Krankheiten Dr. T wies das Landesversorgungsamt den Widerspruch mit Bescheid vom 12. Juni 1959 zurück; es führte aus, der Kranke dürfe durch die Anwendung von Kurmitteln nicht gefährdet werden; die bei dem Kläger festgestellten Bluthochdruckwerte bedeuteten eine "Gegenanzeige gegen eine Kur", weil mit Komplikationen gerechnet werden müsse; es könne auch zu einem Schlaganfall kommen.
Mit der Klage machte der Kläger geltend, er habe bereits in den vergangenen Jahren Badekuren im Kneippkurort S. auf eigene Kosten mit gutem Erfolg durchgeführt, auch sein behandelnder Arzt habe keine Bedenken gegen die Badekur geäußert. Der Kläger beantragte,
unter Aufhebung des Bescheides des Versorgungsamts vom 28. Juni 1958 und des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamts vom 12. Juni 1959 den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger eine Badekur zu gewähren;
er beantragte ferner hilfsweise,
ein Gutachten nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von dem Oberarzt Dr. K vom Krankenhaus Berlin-Westend, Innere Abteilung, einzuholen.
Das Sozialgericht (SG) Berlin wies mit Urteil vom 5. Juli 1960 die Klage ab. Es führte aus, die Gewährung einer Badekur im Rahmen der Heilbehandlung sei nach § 11 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) eine "Kannleistung"; es handle sich somit um eine Ermessensentscheidung des Beklagten; ein Ermessensfehler liege jedoch nicht vor; nach den überzeugenden Ausführungen der Ärzte, die der Beklagte gehört habe, sei die Badekur nicht zweckmäßig, führe vielmehr u. U. die Gefahr eines Schlaganfalls herbei; die Bescheinigung des behandelnden Arztes über die Unbedenklichkeit der Kur und das Attest des Badearztes Dr. H hätten die Bedenken des Beklagten nicht ausräumen müssen; dem Antrag des Klägers nach § 109 SGG auf Einholung eines Gutachtens über die Zweckmäßigkeit der Kur sei nicht zu entsprechen; ein Gutachten nach § 109 SGG müsse nur dann eingeholt werden, wenn es sich um die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Leiden und Wehrdiensteinflüssen oder um die Bewertung der MdE handele, das vom Kläger beantragte Gutachten betreffe jedoch etwas anderes, der Gutachter solle sich nämlich nur zu einer prognostischen Frage äußern.
Der Kläger legte Berufung ein. Er machte geltend, die ablehnende Entscheidung über den Kurantrag beruhe auf einer Ermessensüberschreitung, die Ansicht der Versorgungsärzte werde durch die eingereichten Atteste widerlegt; außerdem liege ein Verfahrensmangel des SG vor, weil das SG den Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG zu Unrecht abgelehnt habe.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin verwarf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 10. März 1961 als unzulässig.
Es führte aus, die Berufung sei nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ausgeschlossen, weil ein Anspruch auf eine einmalige Leistung geltend gemacht werde. Die Berufung sei auch nicht nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft; der Kläger behaupte zwar, das Verfahren des SG leide an einem wesentlichen Mangel, weil das SG den Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG abgelehnt habe; dieser Mangel liege aber nicht vor; wenn das SG den Antrag nach § 109 SGG abgelehnt habe, so habe dies nicht zur Folge gehabt, daß es an einer ordnungsgemäßen Grundlage für die Urteilsfindung gefehlt habe, weil es für die Entscheidung des SG nur darauf angekommen sei, ob der Beklagte die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten habe; dies habe das SG verneinen dürfen, ohne das Gutachten nach § 109 SGG einzuholen; selbst wenn man unterstelle, daß der vom Kläger nach § 109 SGG benannte Arzt die Kur für unbedenklich und zweckmäßig gehalten hätte, so sei damit noch nicht festzustellen gewesen, daß ein Ermessensmißbrauch des Beklagten vorliege, weil der Beklagte seine ablehnende Entscheidung nach eingehender Begutachtung durch mehrere Fachärzte getroffen habe; das Gutachten nach § 109 SGG sei daher ungeeignet gewesen, einen Ermessensmißbrauch des Beklagten darzutun.
Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 30. März 1961 zugestellt. Der Kläger legte am 18. April 1961 Revision ein. Er beantragte,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die beantragte Kur zu bewilligen,
hilfsweise, das Urteil des LSG Berlin vom 10. März 1961 aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er begründete die Revision am 30. Juni 1961. Er machte geltend, das LSG habe die Ablehnung des Antrages des Klägers auf Anhörung des Oberarztes Dr. K durch das SG zu Unrecht für rechtmäßig gehalten; das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, weil es ebenfalls die Verfahrensvorschrift des § 109 SGG verletzt habe; die Anhörung des Arztes nach § 109 SGG habe nicht deshalb abgelehnt werden dürfen, weil das Gericht nur darüber zu entscheiden gehabt habe, ob der Beklagte mit der Ablehnung des Kurantrags die Grenzen seines Ermessens überschritten habe.
Der Beklagte beantragte,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
II
Die Revision des Klägers ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel.
Das LSG hat die Berufung des Klägers nicht als unzulässig verwerfen dürfen; die Berufung ist nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft gewesen; der Kläger hat mit der Berufung zu Recht gerügt, das Verfahren des SG habe an einem wesentlichen Mangel gelitten, weil das SG den Antrag des Klägers auf Anhörung eines bestimmten Arztes zu Unrecht abgelehnt und damit gegen die Verfahrensvorschrift des § 109 SGG verstoßen habe.
Das SG hat den Antrag des Klägers nach § 109 SGG, den Oberarzt Dr. K darüber zu hören, ob die von dem Kläger beantragte Badekur wegen seiner Versorgungsleiden Hypertonie und Myocardschaden - entgegen der Auffassung der Versorgungsärzte, auf die der Beklagte den ablehnenden Bescheid gestützt hat - zweckmäßig und geboten sei, nicht ablehnen dürfen. Die Ansicht des SG, einem Antrag auf Einholung eines ärztlichen Gutachtens nach § 109 SGG müsse nur dann entsprochen werden, wenn damit Beweis über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung i. S. des BVG oder über die Bewertung der MdE angeboten werde, nicht aber dann, wenn sich der Arzt "nur zu einer prognostischen Frage" äußern solle, "eine Fragestellung dieser Art sei nicht Gegenstand des § 109 SGG", geht fehl. Die Pflicht des Gerichts, nach § 109 SGG einen bestimmten Arzt über medizinische Fragen zu hören, ist nicht "gegenständlich" eingeschränkt; sie erstreckt sich auf alle streitigen medizinischen Fragen, über die die Anhörung eines Arztes begehrt wird; deshalb kann der Versorgungsberechtigte auch in bezug auf die Frage, ob eine bestimmte Heilbehandlung Aussicht auf Erfolg hat, einen Antrag nach § 109 SGG stellen. Diesem Antrag hat hier auch entsprochen werden müssen. Unzutreffend ist die Auffassung des LSG, die Ablehnung des Antrags nach § 109 SGG sei kein wesentlicher Mangel des Verfahrens des SG, "es habe nicht an einer ordnungsgemäßen Grundlage für die Urteilsfällung gefehlt, weil das Gutachten nach § 109 SGG ungeeignet gewesen sei, einen Ermessensmißbrauch des Beklagten bei der Ablehnung des Kurantrags festzustellen". Das Gericht darf einen Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG - abgesehen von den Fällen des § 109 Abs. 2 SGG - nur dann ablehnen, wenn die Beweisfrage nicht erheblich ist (vgl. auch Urteil des BSG vom 16. Dezember 1958, SozR Nr. 25 zu § 109 SGG). Im vorliegenden Fall ist aber die Beweisfrage, die der Kläger in das Wissen des Arztes gestellt hat, erheblich gewesen. Das SG hat zwar den Bescheid, mit dem der Beklagte die Badekur - eine "Kannleistung" (§ 11 Abs. 2 BVG) - abgelehnt hat, nach § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG nur daraufhin überprüfen dürfen, ob der Beklagte die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten hat, oder ob er von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat; auch für diese Prüfung ist indes der Beweis, den der Kläger nach § 109 SGG angeboten hat, erheblich gewesen. Der Antrag nach § 109 Abs. 1 SGG ist im Zweifel so auszulegen, daß eine gutachtliche Äußerung über alle streitigen medizinischen Fragen, die für das Klagebegehren bedeutsam sind, begehrt wird. Das SG hat daher davon ausgehen müssen, daß der Kläger - durch die gutachtliche Äußerung des Arztes - nicht nur hat beweisen wollen, daß "ein anderer Arzt - im Gegensatz zu den Versorgungsärzten - die Kur für zweckmäßig und unbedenklich hält", sondern daß der Kläger damit auch die Rechtsansicht hat begründen wollen, die Ablehnung seines Kurantrages habe nicht pflichtgemäßem Verwaltungsermessen entsprochen, weil die medizinische Beurteilung, auf die der Beklagte die Ablehnung gestützt hat, gänzlich unzureichend gewesen sei oder allgemein anerkannten Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft widersprochen habe. Das SG hat annehmen müssen, daß der Kläger mit dem Antrag nach § 109 SGG das Ziel verfolgt hat, medizinisch bedeutsame Umstände darzutun, die zu der Überzeugung führen, der Beklagte habe sein Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt, wenn er den Kurantrag unter Berufung auf die versorgungsärztlichen Äußerungen abgelehnt habe. Das LSG hat einen Mangel in dem Verfahren des SG nicht deshalb verneinen dürfen, weil es angenommen hat, ein Gutachten nach § 109 SGG könne nicht zu (medizinischen) Feststellungen führen, auf die es bei der Prüfung der Ermessensentscheidung ankomme. Wenn das LSG ein Gutachten nach § 109 SGG von vornherein als "ungeeignet" angesehen hat, um mit seiner Hilfe einen Ermessensfehler des Beklagten darzutun, so hat es die Würdigung des Beweises, der nach § 109 SGG vom SG zu erheben gewesen ist, in unzulässiger Weise vorweggenommen. Das LSG hat danach zu Unrecht verneint, daß das SG die Verfahrensvorschrift des § 109 SGG verletzt hat, und daß das Urteil des SG deshalb an einem wesentlichen Mangel leidet; es hat die Berufung des Klägers, die nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft gewesen ist, zu Unrecht als unzulässig verworfen. Darin liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des LSG (vgl. BSG 1, 284; 2, 255). Der Kläger hat diesen Mangel in der nach § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist somit statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG. Die Revision ist auch form- und fristgerecht eingelegt und somit zulässig. Die Revision ist auch begründet; es ist möglich, daß die Entscheidung nach Erhebung und Würdigung des Beweises nach § 109 SGG anders ausfällt. Die Urteile des SG und des LSG sind danach aufzuheben. Das Bundessozialgericht kann nicht selbst entscheiden, da noch Erhebungen erforderlich sind. Die Sache ist daher zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen