Entscheidungsstichwort (Thema)

Prozeßantrag. Prozeßleitung

 

Orientierungssatz

Entbehrt der von der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gestellte Antrag im Hinblick auf den vorangegangenen Prozeßverlauf der Klarheit, so ist der Vorsitzende verpflichtet, auf eine Erläuterung des Antrags, erforderlichenfalls auf Stellung eines sachdienlichen Antrags hinzuwirken.

 

Normenkette

SGG § 153 Abs. 1, § 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 23.10.1959)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Oktober 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger war als Chromgerber in der Lederfabrik C S Söhne in K beschäftigt. Im September 1957 traten bei ihm Ekzeme an beiden Händen und Armen auf; deswegen war er vom 14. bis 27. Oktober 1957 und auch später wieder längere Zeit arbeitsunfähig. Während die beklagte Berufsgenossenschaft Ermittlungen über das Bestehen einer Berufskrankheit anstellte, erhielt der Kläger Leistungen von der Beigeladenen, dem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung; am 5. Mai 1958 wurde er ausgesteuert.

Durch Bescheid vom 28. Juli 1958 erkannte die Beklagte die Hautveränderungen des Klägers als Folgen einer Berufskrankheit nach Nr. 19 der Anlage zur 5. Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) an und gewährte dem Kläger deshalb eine vorläufige Rente von 30 v.H. der Vollrente. Als Zeitpunkt des Versicherungsfalls und des Beginns der Rente setzte sie den Tag nach der Aussteuerung aus der Krankenversicherung, also den 6.Mai 1958, fest.

Mit der hiergegen erhobenen Klage hat der Kläger beantragt, ihm Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren unter Berücksichtigung des 14. Oktober 1957 als Eintritt des Versicherungsfalls. Die vom Sozialgericht (SG.) Koblenz zum Verfahren beigeladene Betriebskrankenkasse hat, nachdem sie bereits in einem vorbereitenden Schriftsatz vom 13. Oktober 1958 Erstattungsansprüche nach § 1509 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) geltend gemacht hatte, ausweislich der Sitzungsniederschrift vom 28. April 1959 "Erstattung der Aufwendungen unter Berücksichtigung des Eintritts des Versicherungsfalls vom 14. Oktober 1957" beantragt. Der Kläger und die Beigeladene haben die Auffassung vertreten, der Versicherungsfall sei deshalb schon am 14. Oktober 1957 eingetreten, weil die Hauterkrankung bereits zu diesem Zeitpunkt so schwer geworden sei, daß der Kläger nicht mehr mit Chrom oder Chromverbindungen habe in Berührung kommen dürfen.

Das SG. hat durch Urteil vom 28. April 1959 die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, der Anspruch des Klägers auf Gewährung zusätzlicher Leistungen sowie der Anspruch der Beigeladenen auf Ersatz von abwälzbaren Aufwendungen, die sie dem Kläger vor allem wegen aufgetretener Arbeitsunfähigkeit infolge der Hauterkrankungen erbracht habe, seien nicht gerechtfertigt, weil die Beklagte den Eintritt des Versicherungsfalls mit Recht auf den 6. Mai 1958 festgesetzt habe.

Hiergegen haben sowohl der Kläger als auch die Beigeladene Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG.) Rheinland-Pfalz hat durch Urteil vom 23. Oktober 1959 beide Berufungen als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt: Der Berufungsantrag des Klägers gehe ebenso wie derjenige der Beigeladenen darauf hin, eine günstigere Festsetzung des Beginns der Rentenzahlung und eine daraus folgende Abrechnung zwischen ihm und der Beigeladenen einerseits und der Beklagten andererseits zu erzielen. Damit betreffe die Berufung ihrem eigentlichen Inhalt und auch der in der mündlichen Verhandlung klargestellten Formulierung nach den Beginn einer Berufskrankheitenrente und zugleich eine - zudem nur vorläufige - Rente für einen bereits abgelaufenen Zeitraum. Die Berufung sei daher nach § 145 Nrn. 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen. Die Statthaftigkeitsvoraussetzungen des § 150 SGG lägen nicht vor.

Gegen das ihr am 22. Dezember 1959 zugestellte Urteil hat die Beigeladene am 21. Januar 1960 Revision eingelegt. Sie stützt die Statthaftigkeit des - vom LSG. nicht zugelassenen - Rechtsmittels auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, indem sie ausführt: Das LSG. hätte eine Sachentscheidung schon deshalb treffen müssen, weil die Berufung im Anschluß an die Kostenentscheidung des erstinstanzlichen Urteils ausdrücklich zugelassen gewesen sei. Zumindest hätte das LSG. eine dienstliche Äußerung des Kammervorsitzenden des SG. über die Bedeutung des Satzes "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig" herbeiführen müssen. Dabei hätte sich ergeben, daß das SG. die Berufung habe zulassen wollen. Im übrigen sei jedenfalls die Berufung der Beigeladenen nicht nach § 145 Nr. 2 oder 3 SGG ausgeschlossen gewesen. Die Beigeladene habe nämlich nicht auf Vorverlegung des Beginns der Rente geklagt, sondern auf Feststellung des Zeitpunkts des Versicherungsfalls bzw. auf den sich daraus gegenüber der Beklagten ergebenden Erstattungsanspruch (§ 1509 in Verbindung mit § 1505 ff. RVO). Das LSG. hätte die Klagebegehren des Klägers und der Beigeladenen nicht gleichsetzen dürfen; es habe seine Aufklärungspflicht hinsichtlich des Inhalts des Klagebegehrens der Beigeladenen verletzt. Darin liege ein wesentlicher Mangel des Berufungsverfahrens. In sachlich-rechtlicher Hinsicht vertritt die Beigeladene die Auffassung, der Versicherungsfall sei bereits am 14. Oktober 1957 eingetreten.

Die Beigeladene beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und nach ihrem erstinstanzlichen Antrag zu entscheiden, nämlich die Beklagte zu verurteilen, den 14. Oktober 1957 als den Eintritt des Versicherungsfalls anzuerkennen und auf dieser Basis mit der Beigeladenen abzurechnen.

Hilfsweise beantragt sie,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie vertritt die Auffassung, das SG. habe die Berufung nicht zugelassen und das LSG. sei nicht verpflichtet gewesen, zu ermitteln, ob die Absicht bestanden habe, die Berufung zuzulassen. Weiter führt die Beklagte aus: Wenn das LSG. das Prozeßbegehren der Beigeladenen verkannt habe, so liege darin kein wesentlicher Mangel des Verfahrens. Von seinem Rechtsstandpunkt aus sei das LSG. zu einer Klarstellung des Berufungsantrags der Beigeladenen nicht verpflichtet gewesen. Im übrigen habe es mit Recht dem Antrag der Beigeladenen dieselbe Bedeutung beigemessen wie demjenigen des Klägers, denn die Beigeladene habe den Eindruck erweckt, als wolle sie im Rahmen des § 1511 RVO neben dem Kläger die Rentenfeststellung betreiben. Wenn der Klageantrag in dem angefochtenen Urteil unrichtig wiedergegeben worden sei, so hätte die Beigeladene nach § 139 SGG binnen zwei Wochen nach Urteilszustellung die Berichtigung des Tatbestands beantragen müssen. Schließlich sei es zweifelhaft, ob eine Feststellungsklage, wie sie die Beigeladene nach ihrem Vorbringen erhoben habe, prozessual zulässig sei.

Der Kläger hat im Revisionsverfahren keine Anträge gestellt.

Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Der Senat hat von der Befugnis, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (§ 124 Abs. 2 SGG), Gebrauch gemacht. Die Voraussetzungen hierzu sind gegeben; denn alle Beteiligten haben sich mit einem solchen Verfahren einverstanden erklärt. Als Beteiligte sind nicht nur die Beigeladene und die Beklagte, sondern auch der Kläger anzusehen, obwohl er selbst kein Rechtsmittel gegen das seine Berufung verwerfende Urteil des LSG. eingelegt hat. Je nach dem Inhalt der Berufungsanträge, die nach der weiter unten zu begründenden Auffassung des Senats noch klarzustellen sind, ist nämlich die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß der Kläger und die Beigeladene eine notwendige Streitgenossenschaft bilden. In diesem Falle wäre in entsprechender Anwendung des § 62 der Zivilprozeßordnung (ZPO) (§ 74 SGG) der im Revisionsverfahren säumig gebliebene Kläger hinsichtlich der Rechtsmitteleinlegung als durch die Beigeladene vertreten anzusehen und infolgedessen am Verfahren beteiligt.

Die form- und fristgerecht eingelegte und ordnungsmäßig begründete Revision der Beigeladenen ist statthaft, weil der gerügte Mangel im Verfahren des LSG. vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Der Senat ist mit der Revision der Auffassung, daß der von der Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG. gestellte Antrag im Hinblick auf den vorangegangenen Prozeßverlauf der Klarheit entbehrte und daß der Vorsitzende deshalb verpflichtet gewesen wäre, auf eine Erläuterung des Antrags, erforderlichenfalls auf Stellung eines sachdienlichen Antrags hinzuwirken (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 106 Abs. 1 SGG). Die Beigeladene hatte mit Schriftsatz vom 13. Oktober 1958 eindeutig Erstattungsansprüche nach § 1509 Abs. 1 RVO gegen die Beklagte erhoben, nicht aber den Entschädigungsanspruch des Klägers verfolgt (§ 1511 RVO). Dasselbe gilt für den in der mündlichen Verhandlung vor dem SG. gestellten Antrag der Beigeladenen. In diesem Sinne hat auch das SG. das Begehren der Beigeladenen aufgefaßt; denn es hat in den Entscheidungsgründen des klagabweisenden Urteils vom 28. April 1959 ausgeführt, der Antrag der Beigeladenen auf Ersatz von abwälzbaren Aufwendungen sei nicht gerechtfertigt. Die Beigeladene ist also mit ihrem Anspruch aus § 1509 Abs. 1 RVO aus sachlich-rechtlichen Gründen abgewiesen worden. Diese für die Beigeladene nachteilige Entscheidung wäre in Rechtskraft erwachsen, wenn die Beigeladene in der Berufungsinstanz ihren Anspruch aus § 1509 Abs. 1 RVO fallen gelassen und stattdessen den im Hinblick auf § 145 Nrn. 2 und 3 SGG nicht berufungsfähigen Entschädigungsanspruch des Klägers nach § 1511 RVO verfolgt hätte. Es lag daher keinesfalls nahe, der Beigeladenen eine solche Absicht zu unterstellen. Sie läßt sich auch weder aus den vorbereitenden Schriftsätzen der Beigeladenen noch aus ihrem in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht gestellten Antrag eindeutig entnehmen. Darin hätte eine Änderung der Klage gelegen, die nur unter den Voraussetzungen des § 99 SGG zulässig gewesen wäre. Mit der Zulässigkeit einer solchen Änderung hat sich das LSG. auch nicht auseinandergesetzt.

Hätte das LSG. die somit gebotene Klarstellung des Prozeßbegehrens der Beigeladenen veranlaßt und wäre diese bei ihrem im ersten Rechtszuge gestellten Antrag verblieben, so läßt sich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß es zu einer für die Beigeladene günstigeren Entscheidung gekommen wäre. Ihre Berufung war allerdings entgegen ihrer eigenen Auffassung nicht schon durch Zulassung statthaft (§ 150 Nr. 1 SGG). Der auf die Begründung der Kostenentscheidung folgende Satz "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig" enthält keinen Ausspruch über die Zulassung der Berufung, leitet vielmehr eindeutig die in einem besonderen Absatz niedergelegte Rechtsmittelbelehrung des SG. ein. Das Urteil läßt auch nicht auf andere Weise erkennen, daß eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung getroffen worden wäre (vgl. hierzu BSG. 2 S. 121 (125) und 4 S. 261 (263)). Hiernach hatte das LSG. keine Veranlassung, eine dienstliche Äußerung des Vorsitzenden des SG. über die Bedeutung des oben angeführten Satzes herbeizuführen. Trotzdem hätte die Berufung der Beigeladenen nicht ohne weiteres als unzulässig verworfen werden dürfen. Wenn sie Ersatzansprüche nach § 1509 Abs. 1 RVO betraf, so war sie nicht durch § 145 Nr. 2 oder 3 SGG ausgeschlossen. Ob § 149 SGG der Statthaftigkeit der Berufung entgegenstand, lassen die bisherigen Feststellungen des LSG. nicht erkennen. Es hätte also unter Umständen eine Sachentscheidung über das Begehren der Beigeladenen ergehen müssen. Ob eine solche zu dem Ergebnis geführt hätte, daß der Eintritt des Versicherungsfalls auf den 14. Oktober 1957 festgesetzt worden wäre, vermag der Senat nicht zu beurteilen, weil es insoweit an den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts fehlt.

Eine für die Beigeladene günstigere Entscheidung wäre auch dann nicht ausgeschlossen, wenn man die von der Beklagten vorgebrachten prozessualen Bedenken gegen das Begehren der Beigeladenen für berechtigt hält. Vorerst ist nicht geklärt, ob die Beigeladene hinsichtlich ihres vermeintlichen Ersatzanspruchs Feststellung oder Leistung begehrt. Geht ihr Antrag auf Feststellung im Sinne des § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG, so bleibt zu prüfen, ob im Hinblick auf die wahrscheinlich vorhandene Möglichkeit, Leistungen zu verlangen, ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung besteht (vgl. hierzu BSG. 10 S. 21 (24)). Im Falle der Verneinung dieser Frage wäre das Feststellungsbegehren unzulässig. Ferner bedarf es gegebenenfalls der Entscheidung, ob die Beigeladene im Entschädigungsverfahren des Verletzten den Ersatzanspruch aus § 1509 Abs. 1 RVO geltend machen kann oder ob hierzu eine besondere Klage erforderlich ist. Nimmt man das letztere an, so müßte der Antrag der Beigeladenen - sofern sie den Anspruch aus § 1509 Abs. 1 RVO verfolgt - als unzulässig abgewiesen werden. Dies würde bedeuten, daß eine Abweisung lediglich aus prozessualen Gründen vorläge und der Anspruch in einem neuen Verfahren noch verfolgt werden könnte. Die Beigeladene wäre dann in einer günstigeren Rechtsstellung, als wenn es bei dem Urteil des LSG. verbliebe, das die Abweisung des Erstattungsanspruchs aus sachlich-rechtlichen Gründen durch das SG. bestätigt hat.

Hiernach ist die Revision der Beigeladenen ohne Rücksicht darauf, wie in den aufgeworfenen prozessualen Fragen zu entscheiden ist, begründet. Das angefochtene Urteil war daher, da eine abschließende Entscheidung durch das BSG. nicht möglich ist, mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG. vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325852

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