Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendbarkeit neuen Rechts. Entschädigung wie eine Berufskrankheit bei neuen Erkenntnissen
Orientierungssatz
1. Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen sind, werden grundsätzlich von Rechtsänderungen nicht erfaßt, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt (vgl BSG 1965-06-30 2 RU 175/63 = BSGE 23, 139). So begründet insbesondere die Aufnahme bestimmter Krankheiten in die Anlagen zu den Berufskrankheiten-Verordnungen grundsätzlich keinen Entschädigungsanspruch, wenn ein Versicherter schon vorher an einer solchen Krankheit erkrankt oder verstorben war (vgl BSG 1978-07-14 8 RU 22/78).
2. Eine Krankheit kann nach RVO § 551 Abs 2 nur dann wie eine Berufskrankheit entschädigt werden, wenn "neue Erkenntnisse" erst nach dem Erlaß der letzten BKVO bekannt geworden sind oder sich erst nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitenreife verdichtet haben. Nur in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Anpassungen der BKVO besteht die Möglichkeit, eine Krankheit "wie eine Berufskrankheit" zu entschädigen, bei der nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit erfüllt sind. Lehnt der Verordnungsgeber nach erkennbarer Prüfung der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine Krankheit ihre Aufnahme in die BKVO ab, weil die Erkenntnisse nicht ausreichen, sind diese nicht mehr neu iS des RVO § 551 Abs 2 (vgl BSG 1977-06-23 2 RU 53/76 = BSGE 44, 90).
3. Da der Bronchialkrebs weder in der BKVO 7 noch in der BKVO idF der Änderungsverordnung vom 1976-12-08 als Berufskrankheit bezeichnet ist, steht verbindlich fest, daß bis zu diesem Zeitpunkt keine "neuen Erkenntnisse" iS von RVO § 551 Abs 2 vorlagen.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; BKVO 6 Anl 1 Fassung: 1961-04-28; BKVO 7 Anl 1 Fassung: 1968-06-20; BKVO Anl 1 Fassung: 1976-12-08
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.04.1978; Aktenzeichen L 3 U 48/77) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 09.03.1977; Aktenzeichen S 5 U 282/74) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. April 1978 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Anspruch auf Witwenrente hat, weil ihr Ehemann an den Folgen einer Berufskrankheit verstorben ist.
Der Ehemann der Klägerin (A.) war gelernter Bäcker und hatte in diesem Beruf von 1922 bis 1931 gearbeitet. Von 1937 bis 1947 war er Güterbodenarbeiter und von Juli 1948 bis Februar 1968 in einem Schmelzbetrieb beschäftigt. Dort arbeitete er bis Ende 1955 in der Gasgeneratorenabteilung als Gasstocher. Er war dabei starken Verschmutzungen durch Staub, Ruß und Teer sowie Belästigungen durch stark schwefel- und teerhaltige Gase und Dämpfe ausgesetzt. Seit Anfang 1956 war A. Gespannmacher in der Gießgrube, wo ihm die Zurichtung und Aufstellung der Kokillen für den Abguß und das Abräumen der abgegossenen Blöcke und Blockgespanne oblag. Dies ist eine körperlich schwere Arbeit bei zeitweise hoher Strahlungswärme und mittlerer Staub- und Rauchbelästigung.
Am 29. Februar 1968 wurde A. wegen eines Bronchialkarzinoms in ein Krankenhaus eingeliefert, wo er am 28. Mai 1968 verstarb.
Die Beklagte lehnte eine Entschädigung ab, weil eine entschädigungspflichtige Berufskrankheit bei A. nicht bestanden habe (Bescheid vom 28. Oktober 1969). Die hiergegen erhobene Klage nahm die Klägerin zurück, nachdem die Beklagte sich bereit erklärt hatte, die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu überprüfen und darüber einen weiteren Bescheid zu erteilen. Mit Bescheid vom 14. Mai 1974 lehnte es die Beklagte ab, eine Entschädigung gemäß § 551 Abs 2 RVO zu gewähren. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 27. August 27. August 1974 zurück.
Das Sozialgericht Osnabrück (SG) hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin Witwenrente ab 28. Mai 1968 einschließlich Überbrückungshilfe und Sterbegeld zu zahlen (Urteil vom 9. März 1977). Das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG) hat das Urteil des SG teilweise aufgehoben und die Klage abgewiesen, soweit die Klägerin Hinterbliebenenrente begehrt. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 14. April 1978).
Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 551 Abs 2 RVO und des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen vom 14. April 1978 aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.
Das LSG hat zutreffend und ohne Verfahrensfehler entschieden, daß die Klägerin keinen Anspruch auf Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach ihrem am 28. Mai 1968 an den Folgen eines Bronchialkarzinoms verstorbenen Ehemannes (A.) hat. Zu entscheiden ist nur noch, ob die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO erfüllt sind. Daß die Klägerin keinen Witwenrentenanspruch (§§ 589, 590 RVO) hat, weil ihr Ehemann (A.) nicht an den Folgen einer Berufskrankheit (§ 551 Abs 1 RVO) gestorben ist, ist bindend festgestellt, nachdem sie ihre gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 28. Oktober 1969 gerichtete Klage zurückgenommen hat. Mit dem streitbefangenen Bescheid vom 14. Mai 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. August 1974 hatte die Beklagte jedoch auch die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO verneint. Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfalle eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs 1 erfüllt sind. Maßgebend ist, wie grundsätzlich bei allen Sozialversicherungsansprüchen, daß die Anspruchsvoraussetzungen im Zeitpunkt des Versicherungsfalles erfüllt sind. Tatbestände, die nach neuem Recht anspruchsbegründend sind, aber bereits vor Inkrafttreten des neuen Rechts abgeschlossen sind, werden grundsätzlich von Rechtsänderungen nicht erfaßt, wenn nicht das neue Recht selbst ausdrücklich oder dem Sinn nach seinen Geltungsbereich auf diese Sachverhalte erstreckt (BSGE 7, 282, 284f; 16, 177, 178f; 23, 139, 140f mit zahlreichen Nachweisen). So begründet insbesondere die Aufnahme bestimmter Krankheiten in die Anlagen zu den Berufskrankheiten-Verordnungen grundsätzlich keinen Entschädigungsanspruch, wenn ein Versicherter schon vorher an einer solchen Krankheit erkrankt oder verstorben war (BSG SozR 5677 Anlage 1 Nr 41, Nr 2; Urteil des erkennenden Senats vom 14. Juli 1978 = - 8 RU 22/78 - unveröffentlicht).
Zu den Anspruchsvoraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO gehören jedoch "neue Erkenntnisse", nach denen die übrigen Voraussetzungen des Abs 1 erfüllt sind. Diese Erkenntnisse müssen also im maßgebenden Zeitpunkt der Erkrankung oder des Todes (§ 551 Abs 3 RVO) vorgelegen haben. Diese Regelung soll, wie der 2. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 23. Juni 1976 (BSGE 44, 90, 92 = SozR 2200 § 551 Nr 9) überzeugend dargelegt hat, Härten für den Einzelnen beseitigen helfen, die dadurch entstehen, daß zwar die Voraussetzungen für die Anerkennung einer Krankheit als Berufskrankheit vorlagen, der Verordnungsgeber, der die BKVO in Abständen von jeweils mehreren Jahren ergänzt, sie nicht unmittelbar nach der Erkenntnis anpaßte. Diese Lücke, wonach noch nicht in die Liste aufgenommene Krankheiten in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Anpassungen der BKVO "wie eine Berufskrankheit" entschädigt werden sollen, ist damit geschlossen worden. Die Entscheidung des Verordnungsgebers, welche Krankheiten er als Berufskrankheiten bezeichnet, wird dadurch aber nicht berührt. Die Rechtsprechung ist nicht befugt, neue Berufskrankheiten zu bezeichnen. Hierzu ist allein der Verordnungsgeber berechtigt (§ 551 Abs 1 Satz 3 RVO). Ihm obliegt es zu prüfen, ob nach medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen erfüllt sind, unter denen eine Krankheit als Berufskrankheit zu beurteilen ist (§ 551 Abs 1 Sätze 3 und 4) und diese in der Rechtsverordnung zu bezeichnen. Bezeichnet der Verordnungsgeber bestimmte Krankheiten nicht als Berufskrankheiten, sind sie nicht zu entschädigen, es sei denn, daß er damit gegen Art 3 des Grundgesetzes (GG) verstößt (vgl BSG aaO).
Daraus folgt, daß eine Krankheit nach § 551 Abs 2 RVO nur dann wie eine Berufskrankheit entschädigt werden kann, wenn "neue Erkenntnisse" erst nach dem Erlaß der letzten BKVO bekannt geworden sind oder sich erst nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitenreife verdichtet haben. Nur in den Zeiträumen zwischen den einzelnen Anpassungen der BKVO besteht die Möglichkeit, eine Krankheit "wie eine Berufskrankheit" zu entschädigen, bei der nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit erfüllt sind. Lehnt der Verordnungsgeber nach erkennbarer Prüfung der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine Krankheit ihre Aufnahme in die BKVO ab, weil die Erkenntnisse nicht ausreichen, sind diese nicht mehr neu i. S. des § 551 Abs 2 RVO (BSG aaO S 93, 94). Ein Entschädigungsanspruch ist nicht allein deshalb begründet, weil die Krankheit eines Versicherten in ursächlichem Zusammenhang mit seiner beruflichen Beschäftigung steht. Das ist nur eine Anspruchsvoraussetzung (§ 551 Abs 1 Satz 2, 2. Satzteil RVO).
Am 28. Mai 1968, dem Todestag des Ehemanns der Klägerin, gab es aber keine "neuen Erkenntnisse" in dem oben genannten Sinne.
Der Bronchialkrebs war weder in der bis zum 30. Juni 1968 geltenden Anlage zur 6. BKVO noch in derjenigen zu der folgenden 7. BKVO bezeichnet, noch ist das mit der Neufassung der BKVO vom 8. Dezember 1976 geschehen. Es kann daher dahinstehen, ob nach dem 28. Mai 1968 weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zutage getreten sind, nach denen bei bestimmten Gruppen von Beschäftigten, zu denen auch der Verstorbene gehört hat, die Voraussetzungen des § 551 Abs 1 Sätze 3 und 4 RVO erfüllt sind. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG war das jedenfalls vor dem Tode des Verstorbenen nicht der Fall. Das LSG brauchte daher entgegen der Auffassung der Klägerin keine weiteren Ermittlungen über solche Erkenntnisse in den folgenden Jahren anzustellen (§ 103 SGG). Da der Bronchialkrebs weder in der 7. BKVO noch in der BKVO idF der Änderungsverordnung vom 8. Dezember 1976 (BGBl I, 3329) als Berufskrankheit bezeichnet ist, steht vielmehr verbindlich fest, daß bis zu diesem Zeitpunkt keine "neuen Erkenntnisse" i. S. von § 551 Abs 2 RVO Vorlagen (BSG, aaO, S 97).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen