Orientierungssatz

Der Anspruch des Verletzten auf Verletztenrente (RVO § 580 Abs 1 S 1 Alternative 2) entsteht mit dem Beginn der Erwerbsunfähigkeit und nicht erst mit der Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (Anschluß an BSG 1973-06-26 8/2 RU 157/71 = SozR Nr 4 zu § 580 RVO).

 

Normenkette

RVO § 580 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 10. Januar 1973 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin - Träger der Unfallversicherung - fordert von der Beklagten - Träger der Rentenversicherung - den nach ihrer Ansicht überzahlten Teil eines von ihr geleisteten Erstattungsbetrages zurück.

Der Arbeiter M., der früher in einem Quarzsandwerk tätig gewesen war, wurde Anfang Juli 1963 aufgrund einer Lungentuberkulose arbeitsunfähig. Er kam zur stationären Heilbehandlung in ein Sanatorium; dort starb er am 8. Mai 1966.

Die Beklagte hatte die Kosten der Heilbehandlung des M. übernommen. Die Leiche wurde geöffnet. Man stellte als Todesursache eine Lungentuberkulose bei Silikose ersten Grades fest und kam zu dem Ergebnis, die Lungentuberkulose und die Silikose seien als Berufskrankheit zu werten. Seit Juli 1963 sei M. erwerbsunfähig gewesen. Daraufhin erstattete die Klägerin der Beklagten die Kosten der Heilbehandlung.

Im März 1967 forderte sie von der Beklagten einen Betrag von rund 2.600,- DM zurück. Sie habe nämlich - so begründete sie ihre Forderung - dem M. nur Verletztengeld und nicht die höhere Verletztenrente zu gewähren brauchen, also habe sie der Beklagten entsprechend weniger geschuldet.

Die Beklagte lehnte die Rückerstattung ab. Die Klage blieb in beiden Tatsacheninstanzen ohne Erfolg. Sowohl das Sozialgericht (SG) wie auch das Landessozialgericht (LSG) haben ausgeführt, daß die Klägerin dem M. nicht nur Verletztengeld, sondern Verletztenrente habe gewähren müssen, da M. in der Zeit seiner stationären Behandlung erwerbsunfähig gewesen sei.

Die Klägerin hat Revision eingelegt. Sie beantragt,

das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Hannover vom 25. März 1971 aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 2.633,18 DM zu verurteilen.

Nach § 580 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) 2. Alternative entstehe der Anspruch auf die Verletztenrente "mit dem Beginn der durch den Arbeitsunfall verursachten Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung". Das bedeute, daß erst dann Verletztenrente zu zahlen sei, wenn die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt worden sei.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist unbegründet. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Rückerstattung der nach ihrer Ansicht überzahlten Summe zu. Die Klägerin hat nicht deshalb an die Beklagte einen zu hohen Betrag erstattet, weil sie ihrer Berechnung eine an M. zu zahlende Verletztenrente zugrunde gelegt hat. M. hatte eine Verletztenrente zu erhalten, seit seine Erwerbsunfähigkeit feststand. Hat ein Arbeitsunfall Erwerbsunfähigkeit verursacht, so entsteht der Anspruch auf Verletztenrente schon mit dem Eintritt dieses Versicherungsfalles, nicht erst mit dem Beginn einer vom Rentenversicherungsträger gewährten Erwerbsunfähigkeitsrente (BSG SozR Nr. 3 und 4 zu § 580 RVO).

Dieses Ergebnis folgt aus dem Wortlaut und dem Zweck des § 580 Abs. 1 RVO. Dort ist, anders als etwa in § 183 Abs. 3 Satz 1 RVO, nicht auf den Tag abgestellt, von dem an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit von einem Träger der Rentenversicherung zugebilligt wird, sondern auf den Beginn der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Rentenversicherung. § 580 Abs. 1 RVO 2. Alternative berücksichtigt damit, daß nicht wenige der von der gesetzlichen Unfallversicherung erfaßten Personen (§ 539 RVO) nicht der gesetzlichen Rentenversicherung angehören und trotzdem durch einen Arbeitsunfall erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 RVO werden können. Auch sie sollen von Anfang an Verletztenrente erhalten. - Nach der Vorstellung des Gesetzgebers dient das Verletztengeld lediglich zur Überbrückung kurzfristiger Lohn- und Gehaltsausfälle. Sobald aber der Lebensstandard infolge der Minderung der Erwerbsfähigkeit für dauernd herabgesunken ist, soll der Ausgleich durch die Verletztenrente hergestellt werden. Dieser Zeitpunkt ist gekommen, wenn sich die gesundheitliche Verfassung des Verletzten in gewissem Grade konsolidiert hat (BSG 30, 42, 44). Das ist der Fall, wenn zwar die Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung entfallen, aber eine Einschränkung der Erwerbsunfähigkeit verblieben ist (§§ 580 Abs. 1, 1. Alternative, 581 RVO). Dem soll der Fall gleichstehen, daß durch den Arbeitsunfall Erwerbsunfähigkeit eingetreten ist (§ 580 Abs. 1 RVO 2. Alternative).

Für diese Auslegung des § 580 Abs. 1 RVO spricht auch der Umstand, daß die Leistungen aus der Unfallversicherung von Amts wegen festzustellen sind (§ 1545 Abs. 1 Nr. 1 RVO); es wäre nicht unbedenklich, eine Leistung der Unfallversicherung an eine solche der Rentenversicherung zu binden, die ihrerseits nur auf Antrag zu gewähren ist.

Gegen die sich an den Wortlaut haltende Auslegung wird eingewandt, daß sie bei Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber zu übermäßigen Bezügen des Verletzten, sonst aber zu Einkünften führen könne, die niedriger seien als das Verletztengeld (Elster und Schmidt in Die Berufsgenossenschaft 1974, 39). Es trifft zwar zu, daß Fälle denkbar sind, in denen der Verletzte vom Tag des Arbeitsunfalles an aufgrund des § 580 Abs. 1 RVO 2. Alternative die Vollrente und gleichzeitig noch Lohn erhält. Richtig ist auch, daß den Vorschriften der RVO zu entnehmen ist, daß sie eine "übermäßige" Ausgleichung der Unfallfolgen zu verhindern suchen (§ 560 Abs. 1 Satz 1 RVO). Doch ist dieses Prinzip in der RVO nicht ausdrücklich niedergelegt, so daß es nicht rechtfertigt, vom Wortlaut und Zweck des Gesetzes abzuweichen. Es kann nur hinter den Vorschriften erkannt werden. Erst recht besteht zu einem Außerachtlassen des Wortlauts kein Anlaß aufgrund von Nachteilen, die sich für den ergeben, der es unterläßt, den Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu stellen, obwohl sie ihm zusteht.

Da somit das Urteil des LSG nicht zu beanstanden ist, ist die Revision zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647417

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