Entscheidungsstichwort (Thema)
Überfall auf der Betriebsstätte. persönliches Tatmotiv
Orientierungssatz
Das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhangs iS des RVO § 548 und damit die Merkmale eines Arbeitsunfalls sind nicht ohne weiteres ausgeschlossen, wenn der Versicherte einem vorsätzlichen Angriff zum Opfer fällt. Trifft eine Angriffshandlung denjenigen, dem sie zugedacht war, sind für die Beantwortung der Frage, ob zwischen dem Angriff und der versicherten Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht, in der Regel die Beweggründe entscheidend, die den Angreifer zu seinem Vorgehen bestimmt haben. Sind diese in Umständen zu suchen, die in keiner Verbindung mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten stehen, so fehlt es auch an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Mai 1974 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die 1946 in der Tschechoslowakei geborene Klägerin war in der Gaststätte "W", F, als Büfetthilfe tätig. Ihren täglichen Dienst begann sie am 13. Mai 1972 um 16,00 Uhr. Nach Mitternacht gegen 1,00 Uhr betrat der jugoslawische Staatsangehörige Miron B (B.) das Lokal und setzte sich zunächst an einen Tisch zu jugoslawischen Landsleuten. Der Geschäftsführer des Lokals, Günther P, dem bekannt war, daß die Klägerin Beziehungen zu B. unterhalten, aber wieder abgebrochen hatte, ging zu B. an den Tisch, weil B. einige Zeit vorher geäußert haben soll, er werde die Klägerin umbringen. Dem Geschäftsführer erklärte B. jedoch, "Chef, ich ganz ruhig, kein Problem". B. bestellte zunächst ein Glas Bier, wechselte dann den Platz und setzte sich an einen am Büfett stehenden Tisch. Auf seine Bitte, ihm ein halbes Hähnchen zu bringen, erklärte ihm die angesprochene Serviererin, sie sei für die Bedienung am Büfett nicht zuständig. Die Serviererin begab sich in die Küche zur Klägerin und übermittelte dieser als der zuständigen Büfettkraft den Wunsch des B. mit dem Bemerken, die Klägerin solle wegen der früher von B. geäußerten Drohungen nicht an das Büfett gehen, zumal da er früher noch nie ein halbes Hähnchen im Lokal bestellt habe. Die Klägerin ging trotzdem durch die Schwingtür zum Büfett und legte das in einer Tüte verpackte Hähnchen auf die Theke. Als sie den Kaufpreis verlangte, zog B. aus der Rockinnentasche eine Pistole heraus und gab auf die Klägerin mehrere Schüsse ab, von denen der erste sie in den Kopf traf, so daß sie bewußtlos hinter der Theke zusammenbrach. Die schwere Kopfverletzung führte zu einer nachfolgenden Hirnhautentzündung mit Erblindung.
B. flüchtete und gelangte nach Jugoslawien, wo ihn das Kreisgericht in Tuzla durch Urteil vom 23. Februar 1973 wegen versuchter Tötung zu acht Jahren Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilte.
Durch Bescheid vom 7. November 1972 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Entschädigung aus der Unfallversicherung ab: Nach den Feststellungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. habe B. die Tat aus privaten Gründen begangen. Die Klägerin habe einige Zeit vor dem Schußwaffenüberfall die zwischen ihr und B. bestehenden Beziehungen abgebrochen. Daraufhin habe B. ihr gedroht, sie zu töten. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und einem Angriff mit einer Schußwaffe bestehe nicht, wenn diesem - wie hier - ausschließlich persönliche Motive zugrunde gelegen hätten. Der Umstand, daß der Mordversuch auf der Arbeitsstätte der Versicherten unternommen worden sei, führe versicherungsrechtlich zu keiner anderen Beurteilung.
Hiergegen hat die Klägerin Klage erhoben.
Durch Urteil vom 12. April 1973 hat das Sozialgericht (SG) Darmstadt die Klage abgewiesen: Ein Arbeitsunfall i.S. des § 548 der Reichsversicherungsordnung (RVO) habe nicht vorgelegen. Nach dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen sei die Klägerin das Opfer einer Eifersuchtstat geworden, ohne daß sie einer besonderen Gefährdung am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen sei. Wegen des Abbruchs der Beziehungen zu B. durch die Klägerin habe sich dieser zu der Tat hinreißen lassen, so daß die Ursache des Überfalls ausschließlich im privaten Bereich zu suchen sei. Unerheblich sei demgegenüber, daß die Klägerin beim Bedienen eines Gastes angeschossen worden sei; sie sei nicht einer betrieblichen Gefährdung erlegen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 15. Mai 1974 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Verletztenrente aus der Unfallversicherung, weil das Unfallereignis mit der Tätigkeit als Büfetthilfe nicht in einem ursächlichen Zusammenhang stehe. Der zur Begründung des Versicherungsschutzes außer dem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der versicherten Tätigkeit sei bei Streitigkeiten auf der Betriebsstätte nur gegeben, wenn der Streit unmittelbar aus der Betriebsarbeit erwachsen sei. Hierfür seien regelmäßig die Beweggründe entscheidend, die den Angreifer zu seinem Vorgehen bestimmt hätten. Es könne dahingestellt bleiben, ob B. vorwiegend deshalb auf die Klägerin geschossen habe, weil sie ihm einen angeblich geliehenen Betrag von 1.000,- DM nicht zurückgezahlt habe, aus Eifersucht und verletzter Eitelkeit, weil sie sich zur Wiederaufnahme der abgebrochenen Beziehungen zu ihm nicht habe verstehen können, oder aus beiden Beweggründen. Jedenfalls finde der Überfall auf die Klägerin seine Erklärung in persönlichen Motiven des B. Demgegenüber komme der beruflichen Tätigkeit der Klägerin lediglich die Bedeutung einer Gelegenheitsursache in zeitlicher und örtlicher Hinsicht zu. Die Klägerin sei wegen der für sie bestehenden Lebensgefahr nicht verpflichtet gewesen, B. zu bedienen; dies hätte der Geschäftsführer nicht von ihr verlangt. Andererseits hätte B. seinen Entschluß, die Klägerin zu töten, auch dadurch verwirklichen können, daß er ihr an einem anderen Ort auflauerte, z.B. beim Verlassen des Lokals, auf der Straße oder beim Betreten ihrer Wohnung. Die Betriebsverhältnisse seien deshalb für den Überfall keine wesentliche Mitursache gewesen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und trägt zur Begründung vor: Ein wesentlicher Verfahrensmangel liege darin, daß das LSG die Klägerin zwar im Tatbestand des angefochtenen Urteils zu Recht als Büfetthilfe, in den Entscheidungsgründen jedoch einmal als Büfetthilfe, zum anderen aber auch als Serviererin bezeichnet habe. Tatsächlich habe sich die Tätigkeit der Klägerin als Büfetthilfe vor dem Überfall darauf beschränkt, die ihr von einer Serviererin übermittelte Bestellung des Gastes B. auszuführen, indem sie das Hähnchen verpackte und auf die Theke legte, um dann den Kaufpreis zu kassieren. Ungeachtet der privaten Motive des Täters habe die Klägerin unter Versicherungsschutz gestanden, weil durch die Art der von der Klägerin ausgeübten Berufstätigkeit ein innerer Zusammenhang zwischen Unfall und versicherter Tätigkeit hergestellt worden sei. Die Klägerin habe auch zur Nachtzeit ihren Beruf in der Gaststätte ausüben müssen, zu der grundsätzlich jedermann Zutritt mit dem Anspruch darauf gehabt habe, als Gast behandelt und bedient zu werden. Ausschließlich aufgrund ihrer versicherten Tätigkeit habe sie B. kennengelernt. Wie im Gaststättengewerbe häufig, hätten sich auch im vorliegenden Fall aus der Kontaktaufnahme persönliche Beziehungen ergeben. Insoweit sei die Tätigkeit der Klägerin gefahrengeneigt gewesen. Nachdem die Klägerin die Beziehungen zu B. abgebrochen und dieser bereits Mordabsichten geäußert hatte, wäre die Geschäftsleitung der Gaststätte verpflichtet gewesen, dem Gast B. das Betreten der Gaststätte zu untersagen, um die berufsbedingte Gefährdung der Klägerin nicht noch zu erhöhen. Das Verhalten der Geschäftsführung habe letztlich den Überfall auf die Klägerin zumindest mitentscheidend begünstigt und verursacht.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 7. November 1972 zu verurteilen, die Klägerin für das Ereignis vom 14. Mai 1972 zu entschädigen,
hilfsweise,
die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden, da sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Klägerin Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht zustehen, weil sie keinen Arbeitsunfall erlitten hat (§ 548 RVO).
Ein Arbeitsunfall (§ 548 RVO) ist ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Die Klägerin, die als Büfetthilfe gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO gegen Arbeitsunfall versichert war, ist zwar während der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit verletzt worden. Die Voraussetzung, daß sich der Unfall "bei" einer versicherten Tätigkeit ereignet hat, ist jedoch nicht schon erfüllt, wenn ein örtlicher und zeitlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit besteht. Neben diesem äußeren Zusammenhang muß vielmehr auch ein innerer - ursächlicher - Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit gegeben sein. Das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhangs in diesem Sinne und damit die Merkmale eines Arbeitsunfalls sind nicht ohne weiteres ausgeschlossen, wenn der Versicherte einem vorsätzlichen Angriff zum Opfer fällt. Trifft eine Angriffshandlung - wie hier - denjenigen, dem sie zugedacht war, sind für die Beantwortung der Frage, ob zwischen dem Angriff und der versicherten Tätigkeit ein ursächlicher Zusammenhang besteht, in der Regel die Beweggründe entscheidend, die den Angreifer zu seinem Vorgehen bestimmt haben. Sind diese in Umständen zu suchen, die in keiner Verbindung mit der versicherten Tätigkeit des Verletzten stehen, so fehlt es auch an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG 6, 164, 167; 10, 56, 60; 13, 290, 291; 17, 75, 77; 18, 106, 108; 26, 45, 47; SozR Nr. 44 zu § 542 RVO aF und Nr. 11 zu § 548 RVO; vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-8. Aufl. S. 484 u ff und Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. § 548 Anm. 60).
Nach den mit Revisionsrügen nicht angegriffenen und deshalb für das Bundessozialgericht (BSG) bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) hat B. den Mordversuch unternommen aus Gründen, die ausschließlich in den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und der Klägerin lagen. Das Tatmotiv entsprang nicht der versicherten Tätigkeit der Klägerin, unabhängig davon, ob B. den Überfall aus Eifersucht und verletzter Eitelkeit, weil die Klägerin die Beziehungen zu ihm nicht wieder aufnehmen wollte, oder aus Rache begangen hat, weil die Klägerin ihm den angeblich geschuldeten Betrag von 1.000,- DM nicht zurückzahlte. Zwar kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der versicherten Tätigkeit auch bei einem aus rein persönlichen Gründen unternommenen Angriff gegeben sein, wenn die besonderen Umstände, unter denen die versicherte Tätigkeit ausgeübt wird, oder die Verhältnisse am Arbeitsplatz den Überfall erst ermöglicht oder in entscheidender Weise begünstigt haben (vgl. BSG in SozR Nr. 34 zu § 542 RVO aF = BSG 13, 290, 291 - dort jedoch insoweit nur unvollständig abgedruckt -). Eine derartige Fallgestaltung liegt hier jedoch nicht vor. Die Art der von der Klägerin verrichteten Arbeit ermöglichte es zwar dem Täter wie jedem Gast, der nicht mit einem Lokalverbot belegt war, die Klägerin auch zu später Stunde noch im Gaststättenbetrieb anzutreffen. Auch konnte der Täter mit der Bestellung eines gebratenen Hähnchens erreichen, daß die Klägerin als die dafür im Betrieb zuständige Büfetthilfe aus der Küche heraus an die Theke kam, um die Bestellung auszuführen und dafür zu kassieren. Das LSG ist ebenfalls von der Zuständigkeit der Klägerin für die Bestellung des Hähnchens ausgegangen. Demgegenüber ist es entgegen dem Revisionsvorbringen ohne rechtliche Bedeutung, ob sich die Tätigkeit der Klägerin ausschließlich auf die Ausführung der Bestellung beschränkte, sowie ferner, daß die Klägerin an zwei Stellen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils nicht als Büfetthilfe, sondern als Serviererin bezeichnet worden ist. Die Umstände, unter denen die Klägerin ihre versicherte Tätigkeit im Gaststättenbetrieb verrichtete, boten jedenfalls dem Täter nicht erst die Möglichkeit zum Überfall oder auch nur eine besonders günstige Gelegenheit, durch die ein Angriff auf die Klägerin entscheidend begünstigt worden wäre. Der Täter nahm durch den Überfall in der Gaststätte in Kauf, von den dort anwesenden Gästen und den Beschäftigten des Betriebes, von denen einige ihn kannten, bei der Tat beobachtet und der Polizei ausgeliefert zu werden. Unter jedenfalls nicht schwierigeren Verhältnissen und mit einem für ihn unter Umständen erheblich geringeren Risiko hätte er der Klägerin auch an anderer Stelle außerhalb der Gaststätte auflauern und seine Mordabsicht in die Tat umsetzen können.
Entgegen der Ansicht der Revision liegt darin, daß der Täter die Klägerin im Gaststättenbetrieb kennenlernte und danach nähere Beziehungen zu ihr anknüpfte, nicht eine der versicherten Tätigkeit zuzurechnende rechtlich wesentliche Bedingung für den Eintritt des Schadensereignisses. Auch das Verhalten der Geschäftsführung, die dem Täter kein Lokalverbot erteilt hatte, war nach der Lage des Falles allenfalls eine - rechtlich nicht wesentliche - Gelegenheitsursache für den Überfall. Abgesehen davon, daß B. bei seinem Besuch am Unfalltag dem Geschäftsführer mit dem Bemerken "Chef, ich ganz ruhig, kein Problem" keinen unmittelbaren Anlaß zum Einschreiten gab, hat auch die Klägerin, die sich wie u.a. auch der Geschäftsführer in der Küche des Lokals aufhielt, von sich aus weder ein Lokalverbot erbeten noch zu erkennen gegeben, daß sie vor einem Kontakt mit B. bewahrt bleiben wolle. Sie hätte sich überdies, wie das LSG festgestellt hat (§ 163 SGG), weigern können, dem B. auf dessen Verlangen ein Hähnchen an die Theke zu bringen, ohne deshalb Schwierigkeiten mit der Geschäftsführung gewärtigen zu müssen. Diese tatsächlichen Umstände rechtfertigen nicht die Ansicht der Revision, das Verhalten der Geschäftsführung habe letztlich den Überfall mitentscheidend begünstigt und damit verursacht.
In Anbetracht der überragenden Bedeutung des allein in der Person der Klägerin begründeten Tatmotivs ist hiernach die versicherte Tätigkeit der Klägerin nicht als eine rechtlich ebenfalls wesentliche Bedingung für den Überfall und seine schwerwiegenden Folgen zu werten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen