Entscheidungsstichwort (Thema)
Entschädigung von nicht in die BKVO aufgenommenen Krankheiten. Elektroschweißerlunge als Berufskrankheit
Leitsatz (redaktionell)
1. Wenn sich der Verordnungsgeber der BKVO erkennbar mit einer Krankheit zwecks Aufnahme in die BKVO auseinandergesetzt, sie jedoch nicht berücksichtigt hat, weil die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über diese Krankheit für ihre Aufnahme nicht ausreichen, sind diese Erkenntnisse nicht mehr neu im Sinne des RVO § 551 Abs 2.
2. Neu iS des RVO § 551 Abs 2 sind medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse über eine Krankheit dann, wenn sie erst nach Erlaß der letzten BKVO bekanntgeworden sind oder sich erst nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitenreife verdichtet haben.
Normenkette
RVO § 551 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, Abs. 2 Fassung: 1963-04-30; BKVO 6 Fassung: 1961-04-28; BKVO 7 Fassung: 1968-06-20; BKVO Fassung: 1976-12-08
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 12.02.1976; Aktenzeichen III UBf 13/73) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 11.01.1973; Aktenzeichen 25 U 728/70) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 12. Februar 1976 und des Sozialgerichts Hamburg vom 11. Januar 1973 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der 1938 geborene Kläger, von Beruf Stahlbauschlosser, nahm nach Beendigung seiner Lehrzeit im Jahre 1956 zunächst eine Tätigkeit als Schiffsmaschinist auf. Von Mai 1962 an war er wieder als Stahlbauschlosser tätig, seit dem 10. Dezember 1962 bei der Firma .... Hier arbeitete der Kläger in einer großen Halle, in der in erheblichem Umfang Schweißarbeiten ohne örtliche Absaugung, Schmirgel-, Brenn- und Entrostungsarbeiten ausgeführt wurden. Die Luft war von Schweißrauchen und von Metallstäuben verunreinigt. Vom 1. September 1969 an war der Kläger wegen einer Lungenerkrankung arbeitsunfähig. Am 5. Oktober 1970 endete sein Arbeitsverhältnis mit der Firma ... wegen des Beginns seiner Umschulung zum Radio- und Fernsehtechniker. Seit dem Ende der Umschulung im Oktober 1972 ist er als Fernsehtechniker beschäftigt. Die aufgrund der Lungenerkrankung durchgeführten Untersuchungen ergaben nach den verschiedenen, im Laufe des Verfahrens erstatteten ärztlichen Gutachten das Krankheitsbild einer Elektroschweißerlunge. Darunter ist nach Auffassung der Gutachter ein fibrotischer Restzustand nach einer abgeheilten Entzündung des Lungenparenchyms zu verstehen, der bei Elektroschweißern beobachtet wird. Dieser Zustand geht über den einer Siderose hinaus, der sich bei einer - überwiegend reaktionslosen - Einlagerung von Eisenstaub ergibt. Die Elektroschweißerlunge des Klägers ist auf seine berufliche Tätigkeit bei der Firma ... zurückzuführen. Die den Kläger zunächst behandelnden Ärzte im Krankenhaus der Landesversicherungsanstalt Hamburg, Großhansdorf erstatteten unter dem 1. Dezember 1969 eine Berufskrankheitenanzeige. Am 27. Januar 1970 zeigte auch der Arbeitgeber des Klägers dessen Lungenerkrankung an. Der Staatliche Gewerbearzt beim Amt für Arbeitsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg führte in einer Stellungnahme vom 21. April 1970 aus, daß unter Berücksichtigung der Berufsanamnese nur die berufliche Tätigkeit des Klägers als Ursache der Erkrankung in Betracht komme. Es handele sich um eine sogenannte Elektroschweißerlunge, die nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entschädigen sei. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei vom Zeitpunkt der Feststellung des Leidens im September 1969 an mit 30 v. H. einzuschätzen, Umschulungsmaßnahmen seien erforderlich.
Mit Bescheid vom 16. Juli 1970 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Krankheit des Klägers als Berufskrankheit ab. Die festgestellte Siderose sei keine entschädigungspflichtige Berufskrankheit i. S. des § 551 Abs. 1 RVO, da sie nicht in der Liste der Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) enthalten sei. Die gegen diesen Bescheid erhobene Klage nahm der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) Hamburg am 25. November 1971 zurück. Durch Bescheid vom 3. Dezember 1970 lehnte die Beklagte auch die Entschädigung der Krankheit nach § 551 Abs. 2 RVO ab, da es sich bei der Siderose nicht um eine Erkrankung handele, die nach neuen Erkenntnissen als entschädigungspflichtige Berufskrankheit anzusehen sei.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger vor dem SG Hamburg Klage erhoben. Das SG hat durch Urteil vom 11. Januar 1973 den Bescheid der Beklagten vom 3. Dezember 1970 aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, die beim Kläger vorhandene fibroisierende Form der Elektroschweißer-Siderose wie eine Berufskrankheit nach § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen. Die Beklagte hat Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte das wegen der in Frage stehenden Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO erforderliche Widerspruchsverfahren durchgeführt und den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 3. Dezember 1970 mit Bescheid vom 18. Oktober 1974 zurückgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat die Berufung der Beklagten durch Urteil vom 12. Februar 1976 zurückgewiesen und den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 18. Oktober 1974 aufgehoben. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die beim Kläger im Jahre 1969 aufgetretene Krankheit Elektroschweißerlunge sei nach § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen. Diese Vorschrift stelle zwar eine Ausnahmevorschrift dar, solle aber gerade Härten beseitigen helfen, die sich aus dem Listensystem der BKVO ergeben würden. Ihr Sinn und Zweck bestehe darin, wie das Bundessozialgericht (BSG) in seiner Entscheidung vom 20. März 1973 - 8/7 RU 11/70 (BSG 35, 267) dargelegt habe, in einem typischen Einzelfall eine Krankheit wie eine Berufskrankheit zu entschädigen, obgleich sie nicht in der Liste der Berufskrankheiten aufgeführt sei oder die darin aufgeführten besonderen Voraussetzungen nicht gegeben seien, wenn nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt seien. Andererseits solle auch in individuell besonders gelagerten Fällen und in Härtefällen eine Entschädigung gewährt werden. Die Anwendung dieser Grundsätze führe zu einer sachgerechten Lösung auch für die Fälle der Elektroschweißerlunge. Diese zeigten zwar höchstens eine geringgradige Progredienz. Es seien aber Einzelfälle, wie die von Prof. Einbrodt ua beschriebenen (in: Das öffentliche Gesundheitswesen, 33. Jhrg. 1971, S. 298) bekannt, in denen das Ausmaß der Lungenveränderung erheblich zunehme. In diesen Einzelfällen sei nach dem Sinn und Zweck des § 551 Abs. 2 RVO eine Entschädigung am Platz. Die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft über die Progredienz fibrotischer Lungenveränderungen nach Schweißrauchexposition seien, wie aus den medizinischen Gutachten hervorgehe, neu. Es komme aber nicht darauf an, ob diese Erkenntnisse dem Verordnungsgeber beim Erlaß der 7. BKVO bekannt gewesen seien. § 551 Abs. 2 RVO solle gerade in den Einzelfällen eine Entschädigung ermöglichen, in denen der Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft für die Aufnahme einer Krankheit in die Liste der Berufskrankheiten nicht ausreiche. Die Lungenerkrankung des Klägers, die in den Jahren 1969/70 in erheblichem Maße progredient gewesen sei und die zeitweise zu einer rentenberechtigenden MdE geführt habe, gehöre zu den nach § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigenden Einzelfällen
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und zur Begründung im wesentlichen vorgetragen: Für die Klage fehle es bereits am Rechtsschutzinteresse, da die Erkrankung des Klägers nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit keine MdE hinterlassen habe. Zudem habe das Berufungsgericht § 551 Abs. 2 RVO unzutreffend ausgelegt. Die Vorschrift diene nicht zur Entschädigung von Härtefällen. Das habe auch das BSG in seinem Urteil vom 20. März 1973 - 8/7 RU 11/70 (BSGE 35, 267) nicht gesagt. Die Krankheit "Elektroschweißerlunge" sei nicht neu i. S. von § 551 Abs. 2 RVO. Sie sei insbesondere dem Verordnungsgeber der BKVO vom 8. Dezember 1976 (BGBl I 3329) bekannt gewesen. Bei dem Kläger habe auch keine Progredienz des Krankheitsbildes vorgelegen, so daß die vom Berufungsurteil selbst aufgestellten Voraussetzungen für die Gewährung einer Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO nicht gegeben seien.
Die Beklagte beantragt,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er halte das Urteil des LSG für zutreffend. Sein Rechtsschutzinteresse sei gegeben, weil sich ein künftig wieder ergebender progredienter Verlauf seines Lungenleidens nicht ausschließen lasse.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Entgegen der Ansicht der Revision besteht auch für die vom Kläger gewählte Klageart der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) das Rechtsschutzinteresse fort, da er durch die ablehnenden Verwaltungsakte der Beklagten nach wie vor beschwert ist.
Die Erkrankung des Klägers an einer Elektroschweißerlunge ist, worüber allein noch zu befinden war, von der Beklagten nicht nach § 551 Abs. 2 RVO zu entschädigen. Nach dieser Vorschrift sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit entschädigen, auch wenn sie nicht im Katalog der aufgrund des § 551 Abs. 1 RVO erlassenen BKVO enthalten ist oder, was hier nicht in Betracht kommt, die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, sofern nach neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind. Danach muß die Krankheit durch besondere Einwirkungen verursacht sein, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.
Wie der erkennende Senat in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 23. Juni 1977 - 2 RU 53/76 - im einzelnen dargelegt hat, eröffnet der durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I 241) eingefügte Abs. 2 des § 551 RVO die Möglichkeit, in den Zeiträumen zwischen den Anpassungen der BKVO eine Krankheit "wie eine Berufskrankheit" zu entschädigen, bei der nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen für die Anerkennung als Berufskrankheit erfüllt sind. Die Vorschrift ergänzt das Listensystem des § 551 Abs. 1 RVO, nach dem nur die in der BKVO bezeichneten Krankheiten zu entschädigen sind. Sie stellt aber nicht, wie etwa § 85 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), eine Härteklausel in dem Sinne dar, daß eine Entschädigung bereits dann zu leisten wäre, wenn die Nichtgewährung eine individuelle Härte für den Betroffenen bedeutete. Ein derartiges Verständnis der Vorschrift kann auch nicht auf das Urteil des BSG vom 20. März 1973 - 8/7 RU 11/70 (BSGE 35, 267) gestützt werden. Wie der Gesamtzusammenhang der Entscheidung ergibt, hält es das BSG auch beim Bestehen individueller Härtelagen als Voraussetzung für die Gewährung einer Entschädigung immer für erforderlich, daß alle Merkmale der Vorschrift erfüllt sind.
Eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO entfällt, weil keine neuen Erkenntnisse i. S. der Vorschrift vorliegen. Neu i. S. des § 551 Abs. 2 RVO sind medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse dann, wenn sie erst nach Erlaß der letzten BKVO bekanntgeworden sind (BSGE 21, 296, 298) oder aber sich erst nach diesem Zeitpunkt zur Berufskrankheitenreife verdichtet haben (LSG Niedersachsen, RdL 1974, S. 245, 247; LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1976, S. 27, 29; Brackmann, aaO, S. 492 v; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 551 Anm. 19). Lehnt der Verordnungsgeber nach der erkennbaren Prüfung der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse über eine Krankheit ihre Aufnahme in die BKVO ab, weil die Erkenntnisse nicht ausreichen, sind diese nicht mehr neu i. S. des § 551 Abs. 2 RVO.
Durch die Nichtaufnahme der Elektroschweißerlunge in die BKVO vom 8.12.1976 (aaO) steht verbindlich fest, daß vor ihrem Erlaß keine neuen Erkenntnisse gemäß § 551 Abs. 2 RVO vorgelegen haben. Bei der Untersuchung, inwieweit der Verordnungsgeber Erkenntnisse über eine Krankheit berücksichtigt hat, ist, wie aus der Systematik des §§ 551 Abs. 2 RVO folgt, jeweils auf die neueste Fassung der BKVO abzustellen. Der Verordnungsgeber, die Bundesregierung, hat sich vor Erlaß der BKVO vom 8.12.1976 (aaO) erkennbar mit der Krankheit Elektroschweißerlunge auseinandergesetzt, wie sich aus den einschlägigen Äußerungen der mit der Vorbereitung der BKVO befaßten Angehörigen des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (Wagner, BG 1976, S. 4, 5; Freischmidt, BArbBl 1977, S. 52) ergibt. Die Krankheit Elektroschweißerlunge ist danach wissenschaftlich und statistisch noch nicht mit ausreichender Sicherheit nachgewiesen. Weitere Untersuchungsergebnisse seien abzuwarten.
Auf die Revision der Beklagten waren die Urteile des LSG Hamburg und des SG Hamburg aufzuheben. Die Klage war abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen