Entscheidungsstichwort (Thema)
Begriff tätlicher Angriff
Leitsatz (amtlich)
Eine nicht feindselige Handgreiflichkeit bei einem Volksfest ist regelmäßig kein "rechtswidriger, tätlicher Angriff", die dagegen gerichtete Verteidigung keine "rechtmäßige Abwehr" im Sinne des Gewaltopferentschädigungsrechts.
Orientierungssatz
Unter einem "tätlichen Angriff" ist ein gewaltsames, handgreifliches Vorgehen gegen eine Person in kämpferischer, feindseliger Absicht zu verstehen. Mit diesem üblichen Sprachverständnis deckt sich das strafrechtliche, das zum "tätlichen Angriff" in den §§ 113 und 121 StGB (§ 117 aF) entwickelt worden ist. Daran knüpft § 1 Abs 1 S 1 OEG an. Ob für einzelne Sachverhalte im Bereich des OEG der "tätliche Angriff" umfassender verstanden werden müßte als im Strafrecht, bleibt dahingestellt.
Normenkette
OEG § 1 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1976-05-11; StGB §§ 113, 121
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin nahm 1981 als 16jährige an einem Altstadtfest teil, das sich auf den Straßen abspielte. Als sie nachts gegen 02.00 Uhr auf einer Straße einem unbekannten Mann begegnete, umfaßte sie dieser lachend und juchzend um die Hüften und hob sie hoch, bis sie etwa mit ihrem Kopf über seinem war. Die Klägerin schrie und zappelte. Beide fielen um, wahrscheinlich deshalb, weil der Mann das Gleichgewicht verlor. Die Klägerin erlitt durch den Sturz erhebliche Verletzungen im Gesicht und vor allem Brüche von Zähnen. Nachdem der Fremde mit der Klägerin zu einem Sanitätszelt gegangen war, verschwand er unerkannt. Die Versorgungsverwaltung lehnte eine Entschädigung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) ab (Bescheid vom 25. Februar 1982, Widerspruchsbescheid vom 2. November 1982). Die Klage wurde abgewiesen (Urteil vom 29. März 1983). Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg (Urteil vom 23. August 1984). Das Landessozialgericht (LSG) hat die gewollte Handlung, das Umfassen und Hochheben der Klägerin, nicht als rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 OEG beurteilt. Für einen solchen habe es an einer feindseligen oder aggressiven Absicht gefehlt, die erforderlich gewesen wäre. Der Täter habe vielmehr gejuchzt und gelacht; sein Verhalten sei auch von Beobachtern nicht als feindselige Handlung bewertet worden; es habe allgemein eine ausgelassene Stimmung geherrscht. Selbst bei einer anderen Beurteilung habe es am erforderlichen Vorsatz gefehlt, der auf die feindliche Einwirkung auf den Körper eines anderen gerichtet sein müsse. Das gemeinsame Umfallen, das erst zur Verletzung der Klägerin geführt habe, sei nur fahrlässig herbeigeführt worden. Es bestehe kein Anhalt dafür, daß der Mann die Klägerin zu Boden werfen und verletzen wollte.
Die Klägerin hat die - vom LSG zugelassene - Revision eingelegt. Sie beanstandet die künstliche Auffassung des Berufungsgerichts. Im Gegensatz dazu dürfe der natürliche Handlungsablauf, das grobe Zupacken und Hochstemmen, das als Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu werten sei, nicht von der typischen Folge, dem Sturz, abgetrennt werden, der zur Verletzung geführt habe. Damit sei ein feindseliger Angriff iS des § 1 Abs 1 OEG unternommen worden. Aus den Umständen sei auf einen ausreichenden Vorsatz zu schließen. Dieser sei nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Täter im Scherz gehandelt habe. Der Sturz habe den Erfolg des groben Handelns verursacht, der nicht von diesem Vorsatz umfaßt gewesen zu sein brauche.
Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen festzustellen, daß folgende Schäden nach dem OEG vorliegen: "Kronenfraktur III. Grades mit ausgeräumter chronisch granulierender Entzündung am Zahn 12, Kronenfraktur II. Grades mit ausgeräumter chronisch granulierender Entzündung am Zahn 11, Wurzelfraktur am Zahn 21, Resorption der Wurzel und Verbreiterung des Bruchspaltes trotz Schraubverbindung, Verblockung am Zahn 22 mit dem Segment 12, Wurzelspitzenresektion nach persistierender Perkussionsempfindlichkeit am Zahn 31 sowie knöcherne Verletzung des Unterkiefers".
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Die Entscheidungen der Vorinstanzen sind nicht zu beanstanden.
Soziale Entschädigung nach den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erhält gemäß § 5 und Art II § 1 Nr 11 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) vom 11. Dezember 1975 (BGBl I, 3015) iVm § 1 Abs 1 Satz 1 OEG vom 11. Mai 1976 (BGBl I, 1181)/20. Dezember 1984 (BGBl I, 1723), wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Klägerin ist weder einem solchen Angriff noch einer derartigen Abwehr zum Opfer gefallen. Als sie gemeinsam mit dem fremden Mann, der sie hochgehoben hatte, umfiel und sich dadurch eine Zahn- und Kieferverletzung zuzog, erlitt sie einen Unglücksfall. Zufällig hätte auch der Mann verletzt werden können. Warum die beiden umgefallen sind, hat das LSG nicht genau feststellen können. Es hat als wahrscheinliche Ursache angesehen, daß der "Täter" das Gleichgewicht verlor. Diese allgemeiner Lebenserfahrung entsprechende Feststellung wird von der Revision nicht formgerecht angegriffen und ist deshalb für das Revisionsgericht verbindlich (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Ein solcher Vorgang fällt nicht unter einen der Schädigungstatbestände des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG.
Die Klägerin kann auch keine Entschädigung verlangen, wenn, worauf sie vor allem mit der Revision abhebt, das vorausgegangene Tun des Mannes mit beachtet und in Zusammenhang mit dem Sturz gebracht wird.
Selbst wenn das Hochheben eine wesentliche Bedingung des Umfallens und damit eine Ursache im versorgungsrechtlichen Sinn (BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1) gewesen wäre, könnte die Klägerin keine Entschädigung auf Grund des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG beanspruchen; denn das Handeln des Mannes ist nicht als Angriff im vorbezeichneten Sinn und das Verhalten der Klägerin nicht als eine Abwehr eines solchen zu werten.
Das OEG regelt nach seiner Überschrift die Entschädigung für "Opfer von Gewalttaten", verweist allerdings in den anspruchsbegründenden Tatbeständen des § 1 nicht ausschließlich auf bestimmte, mit "Gewalt"-Eingriffen verbundene Straftatbestände des Strafgesetzbuches (StGB), die als Ursachen einer gesundheitlichen Schädigung erfüllt sein müßten (Begründung zum Gesetzesentwurf - BT-Drucks 7/2506, S 10, II B). Vielmehr wird die durch das OEG für rechtserheblich erklärte "Gewaltkriminalität", deren Opfer zu entschädigen sind (Gesetzesbegründung, S 7, I, A; S 10, II, A und B, 1 und 3), vor allem durch den in § 1 Abs 1 Satz 1 OEG bezeichneten "tätlichen Angriff" gekennzeichnet. Nach allgemeinem Sprachgebrauch ist unter einem "tätlichen Angriff" ein gewaltsames, handgreifliches Vorgehen gegen eine Person in kämpferischer, feindseliger Absicht zu verstehen (Brockhaus/Wahrig, Deutsches Wörterbuch, 1. Band 1980, S 227, 6. Band 1984, S 182; Duden. Das Große Wörterbuch der deutschen Sprache, Band 1, 1976, S 138; Band 6, 1981, S 2568; Der Große Duden. Bedeutungswörterbuch, 1970, S 44 und 645). Mit diesem üblichen Sprachverständnis deckt sich das strafrechtliche, das zum "tätlichen Angriff" in den §§ 113 und 121 StGB (§ 117 aF) entwickelt worden ist (RGZ 59, 264, 265 mN; zu § 227; Schönke/Schröder/Stree, StGB, 20. Aufl 1980, § 227, Rz 4). Daran knüpft § 1 Abs 1 Satz 1 OEG an (Gesetzesbegründung, S 13 f, V, zu § 1 Abs 1; BSGE 56, 234, 235 f = SozR 3800 § 1 Nr 4; sowie alle Kommentare und sämtliche Veröffentlichungen zum OEG). Ob für einzelne Sachverhalte im Bereich des OEG der "tätliche Angriff" umfassender verstanden werden müßte als im Strafrecht (so Schlamelcher, SGb 1984, 593 ff; Geschwinder, SGb 1985, 95 f), kann hier dahingestellt bleiben; der gegenwärtige Fall wäre auch dann nicht erfaßt. Denn eine feindliche, auf Rechtsbruch abzielende Einstellung, die im vorsätzlichen Willen im natürlichen Sinn (Gesetzesbegründung, aaO; Schoreit/Düsseldorf, OEG-Kommentar, 1977, § 1 Abs 1, Rz 70 ff) zum Ausdruck kommen muß, ist jedenfalls erforderlich; sie muß auf eine gesundheitliche Schädigung gerichtet sein und dadurch die Angriffshandlung prägen.
Das Berufungsgericht, das den entkommenen Mann nicht vernehmen konnte, hat auf das Fehlen einer aggressiven Einstellung auf Grund allgemeiner Erfahrungen aus verschiedenen äußeren Anzeichen geschlossen: aus dem Juchzen und Lachen beim Hochheben, aus der entsprechenden Einschätzung eines Augenzeugen, der dem Vorgang keine besondere Aufmerksamkeit widmete, und aus der ausgelassenen Stimmung "wie bei einem Dorfschützenfest", die zur Nachtzeit bei dem Stadtfest herrschte. Das LSG hat keinen Anhalt dafür gefunden, daß der Mann die Klägerin hätte zu Boden werfen und dadurch verletzen wollen. Diese tatsächlichen Feststellungen binden das Revisionsgericht. Die mutmaßliche Einstellung des "Täters" durfte im übrigen aus äußeren Umständen geschlossen werden (BSGE 26, 45, 47 = SozR Nr 76 zu § 542 RVO aF).
Die Revision greift indes die rechtliche Bewertung durch das Berufungsgericht an. Während das Gericht etwas "Außergewöhnliches" im Handeln des Mannes und damit ein auf einen Rechtsbruch abzielendes Vorgehen verneint hat, bewertet die Revision das Verhalten als feindselig. Dies trifft jedoch nach der Auffassung des Senats nicht zu.
Nach dem äußeren Geschehensablauf hob der fremde Mann die Klägerin hoch, wie sonst allgemein Erwachsene kleine Kinder hochzuheben pflegen. Einem solchen Akt fehlt, auch unter Erwachsenen in einer Lage wie der hier gegebenen, der Charakter der Feindseligkeit. Das mit Juchzen und Lachen verbundene Hochstemmen der Klägerin fügt sich zwanglos in die besonderen Bräuche bei einem nächtlichen Straßenfest ein, die mit ausgelassener Stimmung, Gejohle und zahlreichen Fällen von Trunkenheit einhergehen. Von diesen Umständen ist das LSG in tatsächlicher Hinsicht ausgegangen. Darauf durfte das Berufungsgericht seine Beurteilung stützen, das Verhalten des Mannes sei nicht feindselig, was insoweit zur bloßen Tatsachenfeststellung hinzutritt. Diese rechtliche Bewertung gründet auf der bei einem solchen öffentlichen Fest nicht ganz ungewöhnlichen Übung, eine Frau, die sich nachts auf der Straße aufhält, durch einen derartigen spielerischen, scherzhaft zu verstehenden, harmlosen "Zugriff" in das gesellige Treiben einzubeziehen, was unter normalen Verhältnissen nicht gebilligt würde. Ein derartiger Vorgang wird typischerweise von dem unausgesprochenen Motto begleitet "nicht ernst nehmen". Er wird in diesem Umfang von der Allgemeinheit als Volksbrauch hingenommen. Die Revision hat die allgemeine Erfahrung, von der das LSG ausgegangen ist, nicht förmlich in Frage gestellt. In den besonders für Frauen bedeutsamen Geschlechtsbeziehungen ist ein Abweichen von allgemeinen Moralnormen in manchen Sozialbereichen zu beobachten (Lacrosse in: Hammerich/Klein -Hg-, Materialien zur Soziologie des Alltags, Sonderheft 20/1978 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, S 376, 384, 387; Laermann, aaO, 420, 421 f). Wie solche Fälle nach dem OEG zu beurteilen sind, kann aber dahingestellt bleiben. Im gegenwärtigen Fall geht es nämlich um einen harmloseren Kontakt. Für einen ernsthaften Eingriff in die weibliche sexuelle Selbstbestimmung besteht keinerlei Anhalt. Der Täter drückte die Klägerin nicht einmal umarmend an sich, so daß nicht entschieden zu werden braucht, ob dies noch zu den Zugriffen gehört, die bei nächtlichen Volksfesten in der Öffentlichkeit vorkommen können. Wenn einer der nach dem Unfall hinzugekommenen Personen dem "Täter" einen Faustschlag versetzte, so konnte er damit nicht zum Ausdruck gebracht haben, schon das Hochheben überschreite wesentlich die Volksbräuche bei einem Stadtfest, denn das hat er nicht beobachtet.
Die Wertung des Hochhebens im gegenwärtigen Fall als sozial angemessen ist bestimmend für das Verständnis der gesamten Anspruchsvoraussetzung, eines "vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs" iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG. Wenn das Gesetz, wie dargelegt, die Opfer von Gewaltkriminalität entschädigen soll, wäre es mit seinem Zweck unvereinbar, als einen solchen Rechtsbruch auch harmloses, scherzhaftes, regelmäßig nicht besonders schmerzhaftes Zugreifen anzusehen, das in dem besonderen Sozialbereich, in dem es sich ereignet, nicht ganz unüblich ist, das gerade nicht auf eine gesundheitliche Schädigung abzielt und diese auch regelmäßig nicht zur Folge hat. Für die Folgen gesundheitlicher Schädigungen, die durch ein derartiges Verhalten verursacht werden, will die staatliche Gemeinschaft nicht iS des § 5 Abs 1 SGB I aus anderen Gründen als wegen der Abgeltung eines Sonderopfers, aber doch aus ähnlich gewichtigen, nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einstehen.
Wenn darüber hinaus, der Revision folgend, in Betracht gezogen wird, ob der "Täter" eine Körperverletzung und eine Freiheitsberaubung im strafrechtlichen Sinn begangen hat (§§ 223, 239 StGB), und wenn für den Tatbestand des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG eine strafbare Handlung iS des StGB stets ausreichend wäre (so Schulz-Lüke/Wolf, Gewalttaten und Opferentschädigung, 1977, § 1 OEG, Rz 86), führte auch das zu keiner für die Klägerin günstigen Beurteilung. Eine solche Straftat mag durch den Beweggrund des Scherzes und Spaßes nicht schlechthin ausgeschlossen sein (Hirsch in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl 1981, § 223, Rz 18; Schönke/Schröder/Eser, StGB, 20. Aufl 1980, § 223, Rz 66). Jedoch können, selbst wenn - ungeachtet dessen - die genannten Straftatbestände berücksichtigt werden, unter den besonderen Umständen, wie sie hier das Geschehen kennzeichneten, körperliche Berührungen grundsätzlich nicht als eine Straftat, die einen Angriff iS des Abs 1 Satz 1 OEG darstellte, gewertet werden.
Bei der körperlichen Mißhandlung, die hier als eine der Körperverletzungstatbestände infrage käme, muß der Betroffene übel und unangemessen behandelt und dadurch in seinem körperlichen Wohlbefinden mehr als nur unerheblich beeinträchtigt worden sein (BGHSt 25, 277 f; Schönke/Schröder/Eser, aaO, § 223, Rz 3 mN; Hirsch, aaO, § 223, Rz 4, 6 bis 9). Auch eine Freiheitsberaubung als ein "Festgehaltenwerden" muß ein erhebliches Ausmaß erreicht haben (Schäfer in: Leipziger Kommentar, 9. Aufl 1974, § 239, Rz 21; Schönke/Schröder/Eser, aaO, § 239, Rz 4 und 11). Das war hier nicht der Fall.
Für eine strafbare Körperverletzung und Freiheitsberaubung beim Hochheben der Klägerin, das bloß dem äußeren Anschein nach allenfalls den Wortlaut der genannten Straftatbestände erfüllen könnte, wäre infolge der "Sozialadäquanz" im übrigen entweder eine straftatbestandliche Handlung oder die notwendige Rechtswidrigkeit nicht gegeben; denn der "Zugriff" entsprach den allgemein in dem besonderen Sozialbereich üblichen und gebilligten Vorstellungen über erlaubtes Verhalten (BGHSt 19, 152, 154 f; 23, 226, 228; Maurach/Zipf, Strafrecht - Allgemeiner Teil -, 6. Aufl 1983, S 209 ff mN). In solchen Fällen ist ein scheinbar tatbestandsmäßiger Erfolg, zB eine beträchtliche Einwirkung auf die körperliche Unversehrtheit, dem Täter nicht strafrechtlich zuzurechnen. Wenn derart rechtliche oder gesellschaftliche Regeln eingehalten werden, hat sich in einem solchen Verhalten nicht eine unerlaubte Gefahr für das strafrechtlich geschützte Rechtsgut verwirklicht; oder eine sozial geduldete Handlung wäre nicht delikttypisch und fiele deshalb aus dem strafrechtlich geschützten Bereich heraus (Roxin in: Festschrift für Ulrich Klug, 1983, Band 2, S 303, 310 ff; speziell für Faschingsbräuche: S 309). So war es hier.
Falls das Hinstürzen und die dadurch verursachte Verletzung für entscheidend gehalten wird, kann das Verhalten des fremden Mannes noch weniger als "vorsätzlich" gewertet werden. Der Schädigungstatbestand des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erfaßt aber nur vorsätzliche Handlungen; das wird durch die Ablehnung der alle Straftaten, also auch fahrlässige, einbeziehenden Vorschläge im CDU-Entwurf bestätigt (Weintraud, Staatliche Entschädigung für Opfer von Gewalten in Großbritannien und in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S 103 f).
Ob das Schreien und Zappeln der Klägerin als eine Abwehrhandlung anzusehen war, ist in tatsächlicher Hinsicht nicht geklärt. Immerhin scheint die Klägerin, die damals Rechtsanwaltslehrling war, anfangs auch nach der Verletzung zunächst keinen strafbaren Angriff angenommen zu haben, wenn sie sich nicht um die Feststellung der Personalien des fremden Mannes bemühte. Aber selbst wenn von einer Abwehrreaktion ausgegangen wird und wenn diese das Umfallen und die damit verbundene Verletzung im sozialrechtlichen Sinn verursacht hätte, wäre sie nicht als eine rechtmäßige Abwehr eines Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG zu werten. Dafür fehlt es an dem Angriff, der hätte abgewehrt werden sollen.
Die Notwehr im strafrechtlichen Sinn, die nach § 32 StGB als Verteidigung gegen einen rechtswidrigen Angriff eine Tat rechtmäßig macht, mag nicht voraussetzen, daß durch einen Angriff ein Straftatbestand voll erfüllt wurde, was immerhin streitig ist (dazu Spendel in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl 1982, § 32, Rz 62 ff; Schönke/Schröder/Lenckner, aaO, § 32, Rz 3, 19 ff). Eine Abwehrhandlung im entschädigungsrechtlichen Sinne (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG) liegt aber schon nach dem Wortlaut des § 1 Abs 1 OEG nur vor, wenn sie sich gegen einen Angriff im entschädigungsrechtlichen Sinne richtet ("dessen" rechtmäßige Abwehr). Das ist auch sinnvoll. Wenn die staatliche Gemeinschaft die Verantwortung für die Folgen von Gewaltkriminalität übernommen hat und deshalb eine Entschädigung gewährt, dann erstreckt sich dies nur auf die Auswirkungen und die Abwehr von Angriffen der bezeichneten Art. Im übrigen wird selbst im Strafrecht eine rechtfertigende Notwehr nicht bei der Abwehr eines Verhaltens angenommen, das nicht als rechtswidrig zu werten ist (§ 32 Abs 2 StGB), wie in einem Fall, wie er hier in strafrechtlicher Hinsicht gegeben wäre.
Die Revision der Klägerin kann mithin keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1656569 |
BSGE, 46 |
NJW 1986, 2663 |